Maria - Fräulein der Friesen

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6

»Der Rentmeister ist heute nicht mehr zu sprechen«, teilte der Schreiber der Burg kurz mit, als Rimberti zum zweiten Mal im Vorzimmer des Rentamtes stand. Diesmal hatte er seinen Schreiber Kobus dabei. Der Burgschreiber wandte sich gleich wieder einem Stoß Papiere zu, der vor ihm auf dem Tisch lag.

»Das bedeutet immerhin, dass er heute da ist«, antwortete Rimberti und bemühte sich, höflich zu bleiben.

»Gewiss«, erwiderte der Burgschreiber etwas herablassend, »der Herr Rentmeister ist wohl da. Aber er ist nicht für Euch da, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Das ist wohl ein großer Unterschied«, entgegnete Rimberti. »Aber das Beste wird sein, wenn der Herr Rentmeister mir diese Entscheidung selber mitteilt.«

Der Schreiber blickte nicht von seinen Papieren auf. »Der Herr Rentmeister weiß das durchaus. Darum hat er schon heute früh entschieden, dass dieser Tag seinen Amtsgeschäften gehört und nicht Besuchern oder Bittstellern.«

Rimberti war für einen Moment sprachlos. Als er noch in gräflichen Diensten gestanden hatte, war es durchaus vorgekommen, dass er von Adeligen oder reichen Bürgern wie ein Hausbedienter behandelt worden war. Aber dass ein Schreiber so mit ihm redete, verunsicherte ihn für einen Augenblick.

»Er lügt«, stellte Kobus lakonisch fest.

Rimberti sah ihn fragend an, und sein Schreiber erklärte lakonisch: »Wäre sein Dienstherr anwesend, würde er sich als Schreiber so etwas nie herausnehmen. Also lügt er, vermutlich sogar im Auftrag seines Vorgesetzten.«

Rimberti war verblüfft über die Ausführlichkeit, in der sich sein Schreiber ausgelassen hat, noch mehr aber über den Inhalt.

»Stimmt das?«, fragte er nun den Burgschreiber unwirsch.

Der wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da stockte er.

Der ältere Mann, der vorhin an der Tafel neben Fräulein Maria gesessen hatte, stand plötzlich in der Tür. »Was fällt dir ein, Aimo Herkens?«, fragte er mit harscher, befehlsgewohnte Stimme.

Der Burgschreiber Herkens sprang auf, als er den Mann sah. »Verzeiht, Herr, ich habe …«, stotterte er, aber der Alte war mit wenigen schnellen Schritte schon bei ihm und packte ihn am Kragen.

»Weißt du, dass du einen Hofrat des Kaisers vor dir hast?«, sprach der Alte auf einmal mit bebender Stimme. Dann ließ er ihn plötzlich los, und der Burgschreiber taumelte zurück.

»Ich will jetzt sofort wissen, was hier los ist. Wo ist Rentmeister Scriver?« Die Stimme des Alten klang bedrohlich.

Der Burgschreiber sah zu Boden. »Es stimmt. Scriver ist nicht hier. Er ist schon im Morgengrauen aufgebrochen. Ich sollte alle hinhalten, bis es zu spät ist, ihm zu folgen. Er hat mir diesen Befehl im Auftrag von Graf Enno gegeben.«

»Graf Enno hat hier nichts zu befehlen!«, herrschte ihn der Mann an.

Der Schreiber wich noch einen Schritt zurück.

Die Stimme des Alten wurde wieder ruhig. »Du führst uns jetzt sofort in Scrivers Amtsstube. Und du erzählst alles, was hier passiert ist. Und mit ›alles‹ meine ich auch ›alles‹. Wenn du nur ein Wort zurückhältst, wirst du das bereuen.«

Der Burgschreiber nickte. Er öffnete ein Schubfach, holte einen schweren Schlüssel heraus und öffnete die Tür zur Amtsstube des Rentmeisters. Der Alte schob Rimberti vor und folgte ihm mit dem Schreiber. Am Fenster stand ein großer Tisch. Darauf befanden sich nur Schreibfeder, Tintenfass, ein sorgfältig gestapelter Stoß Papier und zwei Bücher. Zwei Schränke waren verschlossen, und in einem Regal lagen ebenso sorgfältig geordnet Stapel von Urkunden und Papieren.

Der ältere Mann nickte ihm zu.

»Der Rentmeister schickte mich gestern Abend fort«, entschuldigte sich der Burgschreiber. »Er gab mir frei. Im Morgengrauen weckten mich meine Wirtsleute. Rentmeister Scriver wartete vor der Tür und wollte mich sprechen. Er hatte zwei Satteltaschen mit Akten gepackt. Ich konnte nicht erkennen, was er mitnehmen wollte. Es war schon alles verpackt. Er sagte, dass er im Auftrag von Graf Enno und den Fräulein diese Unterlagen unbedingt wegbringen müsse. Und dass niemand wissen dürfe, dass er fort sei. Ich sollte allen Besuchern sagen, dass er heute ungestört arbeiten müsse. Das tat ich auch auf seinen Befehl. Verzeiht mir …«

Der Alte schnitt ihm das Wort ab. »Was hast du noch zu erzählen?«

»Ich sah mir den Schreibtisch des Rentmeisters an. Und ich warf auch einen Blick in die Schränke. Ich kann sie aufschließen, die Schlüssel sind hier.«

»Und du weißt, was er mitgenommen hat?«, erkundigte sich Rimberti.

»Ja, Herr. Die meisten Papiere und Urkunden hier in der Kanzlei habe ich sortiert und geordnet.«

»Nun? Was fehlt«, fragte der ältere Mann ungeduldig.

»Alle Aufzeichnungen über Steuereinnahmen und Zahlungen an den Hof. Alles, was Graf Enno und seine Männer im Namen der Fräulein eingezogen und konfisziert haben, ist hier aktenkundig. Außerdem gibt es Besitzurkunden über die Länder und Güter, die der Vater von Fräulein Maria und Fräulein Anna seinen Töchtern hinterlassen hat. Die fehlen auch.«

»Kennst du den Inhalt der fehlenden Dokumente?«, fragte Rimberti.

Der Burgschreiber zögerte. »Ich kenne den Inhalt vieler Vorgänge, aber bei Weitem nicht aller, die hier fehlen.«

»Gut«, fuhr Rimberti fort. »Deine Aufgabe in den kommenden Tagen ist, dass du über jede Urkunde, jeden Brief, jeden Vertrag, jedes Verzeichnis und was auch immer Scriver alles mitgenommen hat, ein Blatt anlegst. Und dort schreibst du auf, woran du dich erinnerst, und auch, woran du dich nicht mehr genau erinnerst. Aber notiere das dazu, damit wir das eine vom anderen unterscheiden können. Verstehst du, was ich will?«

Der Schreiber nickte.

Der alte Mann sagte: »Herkens, du weißt, ich kenne dich. Fast von Kind an. Und ich weiß, dass dein Vetter mit seiner Familie in Westrum lebt. Wenn du wegläufst und deine Herrschaft verrätst, bringst du Schande über ihn. Verstehst du das auch?«

Der Burgschreiber nickte stumm.

»Und jetzt lass uns allein und schließe die Tür.«

Eine kurze Zeit blieben die beiden Männer in der Amtsstube des Rentmeisters stehen. Dann knurrte der ältere: »Ubbo Scriver ist eine Kreatur, eingesetzt von den ostfriesischen Grafen. Ich habe ihm von Anfang an misstraut, aber die anderen Regenten wollten von meinen Verdächtigungen nichts wissen. Verzeiht.«

Er zögerte einen Moment und wandte sich Rimberti zu. »Ich weiß wohl, wer Ihr seid, aber Ihr kennt mich nicht. Ich bin Folpt Middens, Häuptling auf Sassenhusen. Ich bin einer der fünf Regenten des Jeverlandes. Edo Wiemken selbst hat mich noch in dieses Amt eingesetzt, und vermutlich bin ich der Einzige, der darauf noch etwas gibt. Sogar mein Neffe Keno ist den Schmeicheleien des Grafen erlegen. Sein Vater, mein älterer Bruder, stand noch treu zu Jever. Aber sein Sohn scheint ganz aus der Art geraten.«

»Ich bin ihm schon begegnet«, erwiderte Rimberti. »Er scheint sich viel von der ostfriesischen Herrschaft zu versprechen.«

»Eine Schande ist das. Aber ich kenne ihn kaum. Vor mehr als 25 Jahren ist er in auswärtige Dienste getreten. Seinem älteren Bruder sollte die Herrschaft zufallen, und sein Vater zahlte Keno eine großzügige Erbschaft schon zu Lebzeiten aus. Damit konnte er sich ein kleines Anwesen im Mecklenburgischen kaufen und in die Dienste des dortigen Hofes treten. Seinen Vetter Tjard, den Sohn unseres dritten Bruders, nahm er als Schreiber mit. Das ist eine lange Geschichte. Ich habe Keno in all den Jahren nicht wiedergesehen. Aber es war des Herrn Wille, dass mein älterer Bruder und sein erster Sohn vor über zwei Jahren an der Pest starben, und nun musste und durfte Keno doch sein Erbe antreten. Ich hatte gehofft, in ihm einen Verbündeten für die jeversche Sache zu finden. Aber ich habe ihn seit seiner Rückkehr nur zweimal flüchtig gesehen. Ich komme nur noch selten von Sassenhusen weg. Das Reisen fällt mir schwer, und ich sehe nicht mehr gut. Ich habe die Verantwortung für alles längst an meinen Sohn Jelto übergeben.«

Folpt Middens atmete schwer aus. Er zauderte einen Moment. Hatte er zu viel gesagt? Er war nicht ein Mann vieler Worte, aber nun galt es, dem Beauftragten des kaiserlichen Hofes einen Einblick in die verworrene Situation der Herrschaft Jever zu geben, an der seine eigene Familie nun einmal maßgeblichen Anteil hatte.

»Verzeiht, wenn ich zu viel geredet habe«, begann er.

»Ohne Euch stünde ich vermutlich immer noch in der Schreibstube des Sekretärs«, erwiderte Rimberti. »Alles, was Ihr mir zu sagen habt, hilft mir, einen Einblick zu bekommen. Ich kann Eure Hilfe gut gebrauchen – zumal uns jetzt der Verwalter abhandengekommen ist, mitsamt seinen Büchern und Unterlagen.«

»Ich werde mich jetzt zurückziehen, denn der Vormittag war anstrengend für mich. Wir haben ein Haus hier in Jever. Ihr seid dort jederzeit herzlich willkommen, Doktor Rimberti.«

Folpt Middens nickte ihm zu und verabschiedete sich dann.

Rimberti sah ihm hinterher. Vielleicht war die Sache der Fräulein Anna und Maria doch nicht ganz hoffnungslos, dachte er. Und dann war da noch etwas. Eine schemenhafte Erinnerung, die er im Moment nicht greifen konnte. In dem Moment, in dem er ihr nachspüren wollte, war sie auch schon weg.

Rimberti beschloss, den Vorfall dennoch mit Fräulein Maria zu besprechen. Aber auf halbem Wege kehrte er um. Das Fräulein saß vermutlich noch mit Graf Enno am Tisch, und ihre Schwester machte einen verwirrten Eindruck auf ihn, sodass er Anna nicht mit diesen Problemen behelligen wollte. Er machte sich auf den Weg in sein Quartier.

Als Rimberti in seine Stube kam, wartete schon jemand auf ihn: Keno Middens. Er hatte am Tisch Platz genommen, während Rimbertis Sekretär Kobus eine Abschrift des Buches anfertigte, in dem alle Besitzrechte und die jeweils zu erbringenden Leistungen im Jeverland verzeichnet waren.

 

Keno Middens erhob sich. »Wenn ihr diese Bücher nicht gestern schon an Euch genommen hättet, wären sie vermutlich auch mit dem Rentmeister verschwunden«, stellte er fest.

»Vermutlich«, erwiderte Rimberti.

»Herkens, der Burgschreiber, hat mir alles erzählt.«

»Da war er bei Euch gesprächiger als in meiner Gesellschaft. Ihr habt Euren Onkel gerade verpasst. Er ist eben in sein Haus zurückgekehrt.«

»Ich würde eher sagen, ich habe es genau abgepasst. Ich verspüre nicht den Wunsch nach einer Begegnung mit ihm.«

»Das wundert mich«, antwortete Rimberti, »er sprach sehr gut von Eurem Vater. Mir schien, er hat den Wunsch, auch mit Euch in einer herzlichen Verbundenheit zu sein.«

»Herzlich?« In Middens Stimme lag Häme. »Aus seiner Sicht mag das sicher so sein. Er hat gut für sich gesorgt mit dem Familienbesitz. Fast alles wurde von unserem Großvater, Häuptling Tjardo Middens, auf ihn überschrieben. Mein Vater wurde mit dem Gut Garssum abgespeist, das wir von einem kinderlosen entfernten Verwandten erbten. Und der jüngste Bruder wurde mit einem kleinen Gut abgefunden. Er war kein Landwirt und hat alles heruntergewirtschaftet. Jetzt fristet er in einer kleinen Kate vor sich hin. Unwürdig.«

»Ihr habt viele Jahre im Mecklenburgischen gelebt?«

»Mein älterer Bruder sollte Garssum übernehmen. Für zwei Familien hätte es nicht gereicht. Immerhin konnte mir meine Familie so viel Geld mitgeben, dass ich dort nicht mittellos anfangen musste. Ich konnte Grund und Boden erwerben und habe im Auftrage eines Grafen ein großes Rittergut verwaltet. Dann kam die Nachricht, dass mein Vater und mein Bruder nur wenige Tage nacheinander verstorben sind. Ich habe mein Leben dort aufgegeben und bin wieder in die Heimat zurückgekehrt. Nur meinen treuen Vetter Tjard habe ich zurücklassen müssen. Er hat mir die ganzen Jahre treu gedient und sollte mit mir zurückkehren. Auf der Rückreise ist er zu Tode gekommen. Ihn hätte ich als zuverlässigen Freund gebrauchen können in diesem Sumpf.«

»Nun«, antwortete Rimberti, »wir werden anfangen, den Sumpf trockenzulegen.«

»Damit werden die Frösche aber nicht einverstanden sein«, entgegnete Keno Middens grimmig. »Und als Erster gehört mein Onkel Folpt dazu. Als junger Mann habe ich den alten Hero Wiemken noch erlebt. Ein kraftvoller Mann. Schon er hat gespürt, dass die Zeit der Häuptlinge zu Ende geht. Während unsere Häuptlingsfamilien untereinander heirateten oder ihre Männer sich gegenseitig totschlagen ließen, entstanden um uns herum große Herrschaften. Wir bluteten uns gegenseitig aus, während in Oldenburg, in Ostfriesland, Braunschweig und Lüneburg mächtige Grafschaften und Herzogtümer entstanden. Unsere Häuptlinge sind wie Kinder, die sich balgen. Die Großen bauen derweil ihre Herrschaften aus mit Städten, Kriegsheeren, Steuern, Eindeichungen und gelehrten Schulen. Und wenn sie damit fertig sind, werden sie uns schlucken. Ihr wisst, dass es so ist.«

Rimberti nickte. »Ihr habt einen Verdacht, was hinter der Flucht des Rentmeisters steckt?«

»Was wirklich in Ubbo Scriver vorgegangen ist, weiß ich nicht. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass mein Onkel gerade jetzt der Burg und den Fräulein seinen Besuch abstattet.«

»Was wollt Ihr damit andeuten?«

»In den Unterlagen, die Scriver entwendet hat, sind viele Verträge und Besitzurkunden enthalten. Und man kann gewiss auch ersehen, welche Steuern und Dienste die Häuptlinge ihrer Herrschaft schuldig geblieben sind in über 20 Jahren. Die Deiche sind nicht wieder aufgebaut worden nach der großen Antoniflut, und die wenigen Flächen, die wiederhergestellt wurden, hat man untereinander aufgeteilt. Vielleicht hätte es dem neuen Drosten nicht gefallen, diese Dinge zu lesen.«

»Ihr betreibt den Zusammenschluss Eurer Herrschaft mit den ostfriesischen Grafen?«

»Eigentlich wäre er schon erfolgt, wenn nur Enno Cirksena und seine Brüder die Eheversprechen erfüllt hätten. Nur einer von ihnen hätte das tun müssen. So hätten wir eine große Herrschaft begründet. Aber Männer wie mein Onkel wollen das verhindern. Bis zum letzten Atemzug.«

Spät am Abend stolperte der Burgschreiber Aimo Herkens ins Haus. Er bemühte sich, leise zu sein. Das alte Ehepaar, das ihm die beiden oberen Kammern vermietete, hatte sich schon öfter darüber beklagt, dass er zu laut sei, wenn er so spät und so angetrunken nach Hause kam.

So leise wie möglich schloss er die Tür hinter sich. Als Schreiber verdiente er, genauso wie sein Vorgesetzter, nicht schlecht für das, was er tat, und besonders für das, was er nicht tat. So konnte er sich zwei große möblierte Kammern in einem Haus in der Nähe des Marktplatzes leisten. Vorsichtig trat er auf, als er die Treppe nach oben stieg. Sie schien ihm heute noch steiler als sonst.

Vielleicht hätte er weniger trinken und ausgeben sollen in der Schänke. Aber die meisten Münzen, die Scriver ihm vor seiner plötzlichen Abreise zugesteckt hatte, waren oben sicher verwahrt.

Oben angekommen, tastete er nach seiner Tür. Plötzlich trat jemand aus dem Dunkel und stand dicht vor ihm. Er stieß ihn heftig vor die Brust. Herkens taumelte zurück. Seine Füße traten ins Nichts. Er ruderte mit seinen Armen, und seine Hände griffen ins Leere.

7

Als Rimberti die Augen öffnete, stand ein Mann mit einer brennenden Kerze vor seinem Bett. Junker Boing.

»Verzeiht, dass ich Euch störe«, begann dieser. »Aber ich glaube, Ihr solltet mitkommen.«

Kurze Zeit später standen die beiden im Flur eines Hauses unweit des Marktplatzes. Am Fuß der Treppe lag der Burgschreiber. Arme und Beine lagen verdreht am Körper. Eine kleine Blutlache hatte sich neben dem Kopf gebildet.

»Das musste ja so kommen«, stellte die Frau des Hauses fest. Neben ihr stand ihr Mann und nickte.

»Mein Mann hat Herkens so oft gesagt, dass er das mit dem vielen Trinken lassen sollte«, fuhr sie fort. »Das konnte ja nicht gut gehen.« Ihr Mann schüttelte den Kopf.

»Wir müssen die beiden Kammern oben vermieten«, erklärte die Frau weiter. »Die Geschäfte meines Mannes gehen nicht gut. Wir brauchen das Geld.« Der Mann nickte verhalten.

»Wir hörten nur, wie er nach Hause kam. Es war schon nach dem Läuten. Wenn man so besoffen ist, kann man nicht leise sein.« Ihr Mann schüttelte wieder den Kopf.

»Und dann kam lautes Gepolter. Darauf war es ruhig. Wir warteten einen Moment, ob er die Treppe wieder hochgehen würde. Aber es war ganz still. Da wussten wir, dass er nicht wieder aufstehen würde. Und dann sind wir sofort aufgestanden, um ihm zu helfen.« Ihr Mann nickte.

»Mausetot!«, fuhr die Frau fort. »Ihr seht ja selbst, wie er hier liegt. Sicher hat er alle Knochen und auch noch das Genick gebrochen. Das sahen wir gleich, dass wir nicht mehr helfen konnten. Darum habe ich meinen Mann geschickt, dass er die Wache holt.«

Bevor ihr Mann nicken konnte, zeigte Rimberti auf dessen Schuhe. »Die muss ich mir einmal ansehen.« Der Mann nickte und zog seine Schuhe aus.

»Kein Blut«, stellte Rimberti fest. Er wies Boing auf die Türschwelle hin. »Dort ist ein Teil eines blutigen Schuhabdrucks. Aber diese Schuhe waren es nicht.« Er wandte sich wieder an das Paar. »Stand die Tür auf?«

»Ja«, erklärte die Frau. »Die muss mit einem tüchtigen Ruck geschlossen werden. Und der als Letzter nach Hause kommt, muss den Balken einlegen, damit man die Tür nicht von außen öffnen kann. Vielleicht hat er, Gott sei ihm gnädig, in seinem Zustand vergessen, die Tür zu schließen. So ist es wohl gewesen.«

»Habt ihr sonst etwas Ungewöhnliches mitbekommen? Geräusche?«, fragte Rimberti weiter.

»Nein«, sagte die Frau.

Der Mann aber nickte. »Ja. Wir legen uns immer früh hin. Einmal bin ich aufgewacht, weil ich dachte, dass der Schreiber gerade die Treppe in seine Wohnung geht. Ich muss mich wohl verhört haben.« Seine Frau nickte.

»Ihr denkt auch, was ich denke«, stellte Boing von Oldersum fest, als er mit Rimberti im Wohnraum des toten Burgschreibers stand. Beide hielten eine brennende Kerze in der Hand, um den Raum durchsuchen zu können.

»Entweder hat der Einbrecher etwas gesucht und wurde überrascht …«, überlegte Rimberti.

»… oder es war ein Mörder, und der unglückliche Herkens wurde überrascht«, beendete Boing den Satz.

»Was aber nicht ausschließt, dass man bei dem Burgschreiber wirklich etwas gesucht hat. Vielleicht hängt es mit der Flucht des Rentmeisters zusammen?«

»Scriver?« Boing lacht grimmig. »Das war wohl eher Verrat. Keno Middens hat mir vertraulich erzählt, dass die Fräulein Maria und Anna den Rentmeister überredet hätten, vertrauliche Dokumente außer Landes zu bringen.«

»Mir hat er verraten, dass sein Onkel und die alten Häuptlinge Scriver angestiftet hätten. Er sollte alle Verträge und Dokumente verschwinden lassen, die ihre Rechte und Besitzungen zugunsten der Landesherrschaft beeinträchtigen.«

»Vielleicht steckt noch etwas anderes dahinter. Doktor Rimberti, wo würdet Ihr hier etwas Wertvolles verbergen?«

»Ich schlage vor, dass wir erst einmal alle Schränke und Schubladen durchsuchen, bevor wir uns entlegeneren Verstecken zuwenden.«

Unter einem Stapel Kleidung fand Boing einen Beutel mit einigen Münzen, auf die das Porträt von Graf Enno von Ostfriesland eingeprägt war. Das war vermutlich das Geld, das der unglückliche Herkens von Scriver erhalten hatte, um dessen Flucht möglichst lange zu verschweigen.

Rimberti entdeckte auf dem Fußboden bei der Tür einen winzigen Rest verschmiertes Blut. Rückwärts stieg er mit einer Kerze die Treppe hinunter und nahm jede Stufe konzentriert in Augenschein. Auf einer Stufe in der Mitte entdeckte er einen weiteren Blutspritzer. Der Gast von Burgschreiber Herkens musste nach seiner Bluttat noch einmal nach oben gekommen sein. Vielleicht hatte er seine Suche fortgesetzt.

Boing und Rimberti suchten den Schrank nach Geheimfächern ab und betasteten den Fußboden, ob unter einer Diele noch etwas versteckt war. Ein Dielenbrett unter Herkens’ Bett war locker. Der Drost nahm seinen Dolch und schob ihn vorsichtig in die kleine Spalte. Mühelos hob er das Brett an und zog es heraus. Auch das daneben liegende Brett konnte man nun wegnehmen.

Die beiden Männer schoben das Bett beiseite. Das Fach war leer.

»Hier hat jemand gefunden, was er gesucht hat«, bemerkte der Drost. Sie setzten ihre Suche fort. Eine weitere Diele war etwas locker, aber der Drost konnte sie nicht weiter bewegen.

Rimberti sah, dass über dem Bett ein kleines holzgeschnitztes Kruzifix hing. Er nahm es vorsichtig ab und drehte es um. Auf der Rückseite war mit Wachs ein Schlüssel befestigt.

Rimberti vergewisserte sich, dass der Drost noch mit den Fußbodenbrettern beschäftigt war, und steckte den Schlüssel ein. Er hatte einen guten Eindruck von Junker Boing, aber er war immerhin der von den ostfriesischen Grafen eingesetzte Drost, der seinen Herren gegenüber loyal sein musste. Er entschied, den Fund des Schlüssels erst einmal für sich zu behalten.

»Wir verständigen uns darauf, dass es ein Unfall war«, stellte der Drost fest.

»Das ist sicher am besten«, stimmte Rimberti zu. »Vorerst.«

»Vorerst«, bestätigte Boing.