Maria - Fräulein der Friesen

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2

Als sie aus dem Wald traten, erblickten sie den aufsteigenden Rauch.

»Isko!«, zischte Folkert Hedden. Er und seine Männer liefen los. Rimberti kletterte auf sein Pferd, das er bisher geführt hatte, und ritt in Richtung Dorf. Zwei Häuser in Grootewarden brannten. Der Rauch wehte durch das Dorf und kündete von Zerstörung und Gewalt. Mehrere bewaffnete Männer standen vor den brennenden Gebäuden und hielten die Dorfbewohner davon ab, das Feuer zu löschen. Inzwischen hatte es sich so ausgebreitet, dass die beiden Häuser nicht mehr zu retten waren.

Rimberti stieg umständlich von seinem Pferd. Da bemerkte er, dass einige Einwohner an den Bewaffneten vorbei drängten. Der Wind hatte gedreht, und die Flammen und Funken bedrohten nun die Nachbarhäuser. Die Leute aus dem Dorf wollten löschen, um ihre Häuser zu retten. Die Soldaten trieben sie zurück.

Als eine Frau einen Bewaffneten zur Seite stieß, gab der ihr einen Hieb mit dem Schaft seiner Hellebarde. Die Frau ging zu Boden. Benommen versuchte sie, wieder aufzustehen, da holte der Soldat erneut aus.

Bisher hatte Rimberti der Szene regungslos zugesehen, unbemerkt von den anderen. Nun packte ihn der Zorn. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Bevor der Soldat ein zweites Mal zuschlagen konnte, stürzte sich Rimberti auf ihn. Der Mann war überrascht von diesem unerwarteten Angriff, und Rimberti warf ihn zu Boden.

Rimberti war kein Kämpfer. Er war noch nicht einmal ein mutiger Mann. Aber der Zorn verlieh ihm so viel Kraft, dass der Soldat sich nicht aus seiner Umklammerung lösen konnte. Mit aller Kraft hielt Rimberti den Mann nieder und entwand ihm die Hellebarde.

Da wurde er von hinten gepackt. Die anderen Soldaten sprangen ihrem Gefährten bei und rissen Rimberti hoch. Zwei hielten ihn fest, die anderen bildeten einen Halbkreis um ihn. Sein Gegner stand vom Boden auf. Er nahm seine Hellebarde und kam grinsend näher.

Im gleichen Moment waren Folkert Hedden und seine Männer zur Stelle und stürzten sich auf die Soldaten. Nach einem kurzen Handgemenge hatten die Männer des Dorfes die Eindringlinge entwaffnet.

»Und was sollen wir mit ihnen machen?«, fragte Hedden.

»Das ist die falsche Frage, Folkert Hedden!« Eine tiefe laute Stimme schnitt durch den Lärm. Im Handgemenge war es unbemerkt geblieben, dass eine Schar bewaffneter Reiter die Dorfbewohner eingekreist hatte.

»Die Frage ist, was wir mit dir machen!« Noch einmal erklang die tiefe Stimme des Anführers. Rimberti hörte, wie die Leute um ihn herum ängstlich den Namen nannten: »Herr Isko.«

Hedden ließ sich nicht einschüchtern. Aufrecht stellte er sich vor den Anführer der Reiterschar. »Isko Onninga, Eure Männer haben unser Dorf überfallen. Sie haben geplündert, sind handgreiflich geworden und haben zwei Häuser in Brand gesteckt. Sich gegen Räuber und Brandschatzer zur Wehr zu setzen, das ist unser gutes friesisches Recht.«

»Was friesisches Recht ist, bestimmt Graf Enno«, erwiderte Isko Onninga.

»Das mag er in seinem Land gern tun, aber wir sind freie Jeverländer. Über uns hat Euer Graf genau so wenig Recht wie Ihr, Onninga.«

»Da täuscht ihr euch gewaltig«, antwortete Isko mit schneidender Stimme. »Graf Enno hat die Schutzherrschaft für euer Land und eure Fräulein übernommen. Darum stehen ihm auch die Abgaben zu. Und wenn ihr nicht kommen und zahlen wollt, dann müssen wir eben kommen und holen, was unserem Grafen zusteht.«

»Wir haben pünktlich unsere Abgaben gezahlt. Ich werde Euch das Schriftstück vorlegen«, sagte Hedden.

»Für mich gilt nur ein Schreiben, das von Graf Ennos Drost oder einem seiner Beauftragten unterzeichnet ist.«

»Wir haben unsere Abgaben in voller Höhe an unsere Fräulein in Jever gezahlt.«

»Graf Enno hat die Fräulein von Jever mitsamt ihrer Herrschaft unter seinen gnädigen und sicheren Schutz genommen. Darum steht ihm die Abgabe zu. Und wenn ihr sie nicht zahlt, dann treiben wir sie ein. Wer uns die Abgabe vorenthält, wird wie ein Dieb behandelt und bestraft. Ich werde ihm und seiner Familie die Habe wegnehmen und sein Haus anzünden. Und ich fange gleich mir dir an, Folkert Hedden.«

»Das steht Euch nicht zu!« Rimberti war erschrocken über die Lautstärke seiner Stimme. Er trat vor, zitternd vor Angst und gleichzeitig fest entschlossen, Onninga in die Schranken zu weisen.

Erst jetzt bemerkte Rimberti den Mann auf dem Pferd neben Onninga. Es war Ulfert Fockena, sein Gefährte, mit dem Rimberti im vorletzten Jahr den Mörder mit der Armbrust gejagt und einen Angriff auf die Insel Bant vereitelt hatte. Fockena sah ihn bedeutungsvoll an, sagte aber nichts und machte auch kein Zeichen des Erkennens. Er wird seine Gründe haben, dachte Rimberti und beließ es dabei.

Isko Onninga musterte Rimberti, der in seiner verdreckten und von der Rauferei unordentlichen Kleidung keine sehr eindrucksvolle Erscheinung abgab.

»Hast du hier auch etwas zu sagen?«, antwortete Isko belustigt. »Ich denke, eine gehörige Tracht Prügel wird dich und Hedden wieder zur Vernunft bringen. Los, schnappt euch die beiden, damit hier Ruhe einkehrt.« Er winkte seinen Leuten zu, die Folkert Hedden und Rimberti umgehend packten.

»Wagt es nicht, Hand an mich legen zu lassen«, erwiderte Rimberti. Er bemühte sich, seine Stimme so fest und klar klingen zu lassen, dass niemand seine Angst bemerkte.

»So, wollt ihr beide mir drohen?«, spottete Isko Onninga. »Ihr jeverländischen Bauern hattet in den letzten Jahren wohl zu viele Freiheiten, dass ihr so aufmüpfig geworden seid. Es wird Zeit, euch unter das Joch zu bringen.«

»Wir sind nicht eure Ochsen, sondern freie Bauern!«, rief Hedden.

»Vielleicht müsst ihr erst einmal die Peitsche spüren, damit ihr wisst, wer ihr seid«, erwiderte Isko hämisch.

»Ihr habt kein Recht, das Dorf auszuplündern, Herr Isko«, wies Rimberti ihn zurecht. »Wenn die Abgaben entrichtet worden sind, dann habt Ihr hier nichts zu schaffen.«

»Bevor die beiden hier die übrige Herde noch widerspenstiger machen, sollten wir sie am nächsten Baum aufknüpfen«, antwortete Isko Onninga kühl. »Wenn jemand von euch sich rührt, werde ich euer ganzes Dorf niedermachen!«

Totenstill war es plötzlich. Die Leute von Grootewarden wussten, dass jede Gegenwehr sinnlos war. Onninga lauerte nur darauf, beim geringsten Anzeichen des Widerstandes seine Drohung wahr zu machen.

»Ich bin hier im Auftrag des kaiserlichen Hofes in Brüssel«, erklärte Rimberti. »Königin Maria hat mich beauftragt, Verhandlungen mit Graf Enno und den Fräulein von Jever zu führen. Die Leute hier im Dorf haben mir nach einem Reitunfall beigestanden. Fügt mir oder jemandem aus dem Dorf einen Schaden zu, so wird es Euch schlecht bekommen, Herr Isko.«

Rimberti sah für einen Augenblick Furcht in Iskos Augen flattern. Isko wandte sich Ulfert Fockena zu. »Was sollen wir mit einem solchen Lügner machen?«

»Ich habe den Mann schon einmal gesehen. Er sagt die Wahrheit. Es ist Doktor Rimberti«, sagte Fockena ruhig. »Er hat vor zwei Jahren die Verhandlungen um den Verkauf von Hillersum geführt.«

»Das Alter hat Euch verweichlicht, Fockena«, erwiderte Isko. »Der Graf wird keinen Aufruhr im Jeverland dulden.«

»Krümmt Ihr ihm ein Haar, so wird Königin Maria Euch für vogelfrei erklären«, brummte Fockena. »Ihre Soldaten werden Eure Burg in Schutt und Asche legen. Was sie dann mit Euch machen, bevor sie Euch hinrichten, wollt Ihr sicher nicht hören, Herr Isko. Um Euch ist es nicht schade, aber Euer Vater ist ein Mann von Ehre.«

Isko Onninga warf Rimberti einen hasserfüllten Blick zu. »Los, Leute«, schnauzte er seine Männer an. »Nehmt alles Vieh mit. Wir holen Graf Ennos Steuern. Leistet jemand Widerstand, zündet sein Haus an.« Er schlug sein Pferd mit der Peitsche und ritt davon.

Hilflos mussten die Leute von Grootewarden mit ansehen, wie Onningas Männer ihre Kühe, Schweine und Schafe davontrieben.

»Ich fürchte, Ihr habt einen Todfeind gewonnen«, sagte Folkert Hedden zu Rimberti. »Isko wird nie vergessen, dass Ihr ihn vor allen Leuten in die Schranken gewiesen habt. Ab jetzt müsst Ihr vorsichtig sein!«

3

Folkert Hedden begleitete Rimberti nach Jever, um bei den Fräulein Maria und Anna Beschwerde über Isko Onninga einzulegen und das Vieh der Dorfbewohner zurückzufordern.

Hoch über den Häusern von Jever erhob sich der wuchtige Turm inmitten der Burg wie ein klobiger, starker Riese, der bereit war, jeden Angreifer niederzuzwingen.

Seit gut 100 Jahren stand die Burg in Jever. Immer wieder hatte sich der Ort mit seiner Herrschaft gegen Nachbarn behaupten müssen. Edo Wiemken, der Vater der beiden Schwestern, hatte die Burg mit dem Turm weiter ausbauen und stärker befestigen lassen. Vor 20 Jahren war er verstorben, und für den minderjährigen Sohn Christoph hatten fünf Häuptlinge des Jeverlandes die Regentschaft übernommen. Aber Junker Christoph war seinem Vater schon nach wenigen Jahren in den Tod gefolgt. Graf Edzard von Ostfriesland hatte die Gelegenheit genutzt und sich zum Beschützer Jevers und der drei Töchter Edo Wiemkens erklärt. Er hatte einen Drosten in Jever eingesetzt und Eheverträge zwischen seinen drei Söhnen und den drei Fräulein geschlossen.

Vor vier Jahren hatten die Ostfriesen dann die Burg besetzt und dort Soldaten stationiert. Graf Edzards Sohn war inzwischen eine vorteilhaftere Ehe mit Anna von Oldenburg eingegangen, und von den Eheversprechen war längst nicht mehr die Rede. Auf Seiten der Ostfriesen war man davon ausgegangen, dass Jever ihnen nun auch ohne Einhaltung des Eheversprechens zufallen würde wie ein reifer Apfel.

Das alles hatte Rimberti schon auf seiner letzten Reise nach Jever in Erfahrung gebracht. Von Folkert Hedden ließ er sich unterwegs erzählen, wie die Ostfriesen Jever inzwischen als ihr eigenes Land behandelten und die Töchter Edo Wiemkens mehr oder weniger gefangen hielten, bis man sie an andere Heiratskandidaten oder in ein Kloster vermittelt hätte.

 

Folkert Hedden brachte Rimberti zur Burg. Dort war man schon durch Rimbertis Schreiber auf seine Ankunft vorbereitet. Der Drost wurde erst am späten Abend zurückerwartet. Man hatte Rimberti eine Schlafkammer und eine Schreibstube für seine Dienstgeschäfte vorbereitet, während sein Schreiber Kobus Temmen beim Dienstpersonal des Hofes untergebracht war. Rimberti kündigte für den nächsten Vormittag seinen Antrittsbesuch bei den Fräulein Maria und Fräulein Anna und beim Drosten an. Dann zog er sich in seine Kammer zurück.

Rimberti fühlte sich nach den Ereignissen dieses Tages erschöpft. Er setzte sich in einen prächtig geschnitzten Holzstuhl mit Armlehnen und Polstern. Sein Fuß schmerzte, und die Striemen an seinen Handgelenken brannten. Im Kampf mit Iskos Männern hatte er einen großen Bluterguss am rechten Oberschenkel sowie Schürfwunden und blaue Flecke davongetragen. Er würde gleich morgen an den kaiserlichen Hof nach Brüssel schreiben und über Isko Onningas Umtriebe berichten.

Es klopfte. Rimberti erhob sich aus dem Stuhl und ging zur Tür. Er öffnete.

Ein Mann trat ein, groß und kräftig, mit sanften Augen und einem rotbraunen Bart, bekleidet mit einem Lederwams und Reitstiefeln. Er war ganz außer Atem, und es gelang ihm nur mit Mühe, seine Erregung zu unterdrücken. Er schloss die Tür hinter sich.

»Doktor Rimberti, Folkert Hedden war soeben bei mir und hat mir berichtet, was Euch widerfahren ist. Fräulein Anna und Fräulein Maria lassen Euch ihre tief empfundene Anteilnahme an diesem Unglück aussprechen. Bitte teilt das, was Euch widerfahren ist, der Regentin mit. Alles. Schonungslos. Die Königin muss alles erfahren. Morgen werden Euch die Fräulein empfangen. Sie sind sehr verstört über die Ereignisse, die sich hier zugetragen haben. Ich …«

Der Mann zögerte. Er stand unter großer Anspannung. Er setzte noch einmal an: »Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Boing von Oldersum. Ich bin der neue Drost. Ich werde morgen auch da sein, wenn Ihr mit den Herrinnen sprecht. Ich hoffe, Ihr bringt gute Nachrichten vom Hof der Statthalterin. Fräulein Maria und Fräulein Anna brauchen jetzt mehr denn je die Unterstützung der Königin. Sonst ist Jever verloren.«

Es klopfte wieder an die Tür, und ein Bediensteter stand im Türrahmen. »Junker Boing, der Bote ist gekommen. Es ist dringend.«

Boing wandte sich an Rimberti. »Verzeiht. Ich möchte nicht unhöflich sein. Aber es hat einen Zwischenfall an der Grenze gegeben. Habt Ihr alles, was Ihr benötigt?«

Rimberti bejahte, und Junker Boing folgte dem Bediensteten. Rimberti überlegte einen Moment, ob er noch seinen Schreiber aufsuchen sollte, um mit ihm die Aufgaben der kommenden Tage zu besprechen. Aber er beschloss, dass es für heute genug war. Er setzte sich wieder. Er glaubte nicht, dass er nach den Ereignissen des Tages schlafen konnte. Nur für einen Moment schloss er die Augen.

Rimberti schreckte hoch. Er musste doch eingeschlafen sein, denn es dämmerte schon der graue Morgen. Er hörte Rufe von unten. Pferdegetrappel.

Rimberti trat ans Fenster. Er konnte noch sehen, wie eine Gruppe von Reitern aufbrach und im Morgennebel verschwand. Er legte sich auf sein Bett, aber nun konnte er nicht mehr einschlafen.

»Der Drost ist schon früh nach Esens aufgebrochen«, teilte Rimbertis Schreiber Kobus mit, während er die mit Honig gesüßte Weizengrütze löffelte. Eigentlich war Rimbertis neuer Schreiber äußerst zurückhaltend und im Gespräch oft einsilbig. Nun fuhr er tatsächlich fort: »Gestern gab es hier großen Ärger. Eine Gruppe von Reitern kam, und der Drost stritt sich mit dem Anführer. Dabei fiel auch Euer Name.«

»Mein Name?«, fragte Rimberti erstaunt.

»Ich konnte nicht alles verstehen«, erklärte Kobus. »Wo wart Ihr eigentlich so lang?«

»Dringende Amtsgeschäfte haben mich aufgehalten«, brummte Rimberti, der seinem Schreiber nicht unbedingt auf die Nase binden wollte, was er gestern erlebt hatte.

Die restliche Zeit der Mahlzeit saßen die beiden schweigend nebeneinander. Rimbertis früherer Schreiber liebte das Plaudern. Aber nach seiner Heirat und der Geburt des ersten Kindes im vergangenen Jahr hatte er die Reisetätigkeit aufgegeben und eine Stelle als Schreiber beim Häuptling von Lütetsburg angenommen, um dort mit seiner Familie zu wohnen.

Sein Nachfolger Kobus hatte sich in den letzten Monaten als würdiger Nachfolger erwiesen. Konzentriert konnte er in kurzer Zeit schwierige Texte entziffern und in sauberer Handschrift kopieren. Viele Schreibarbeiten erledigte er mehr oder weniger selbstständig. Und genauso wie sein Vorgänger übernahm er mit dem Amt des Schreibers auch gewisse Aufgaben eines Dieners. Nur gesprächig war er nicht. So wunderte sich Rimberti, als er plötzlich zum dritten Mal das Wort an ihn richtete.

»Ich glaube, Ihr werdet erwartet«, sagte der Schreiber und deutete auf die Tür. Dort stand ein kräftiger Mann, die dunkelblonden Haupthaare kurz geschnitten und den dichten Vollbart sauber gestutzt. Er war bekleidet mit einer Schaube aus feinem dunklem Stoff, die ihm bis zu den Knien reichte. Er musste etwas älter als Rimberti sein, vielleicht Anfang oder Mitte 40.

Rimberti erhob sich, und der Mann richtete das Wort an ihn: »Verehrter Doktor Rimberti, ich darf Euch im Namen von Fräulein Anna und Fräulein Maria begrüßen. Ich bin Keno Middens von Garssum, einer der Regenten des Jeverlandes und Ratgeber unserer beiden Fräulein. Mein Vater war ein treuer Freund von Edo Wiemken, dem Vater unserer Fräulein. Es ist für uns eine große Ehre und Freude, einen Beamten vom Hof unserer Statthalterin, Königin Maria, empfangen zu dürfen. Die Fräulein erwarten Euch.« Er trat einen Schritt beiseite und gab die Tür frei.

Rimberti überlegte, ob er zuerst in sein Quartier gehen und die Tasche mit den Aufzeichnungen und Abschriften der wichtigen Unterlagen holen sollte. Er entschied aber, sich bei dieser Begegnung nur ein erstes Bild von den Fräulein und von der Situation zu machen. Schweigend folgte er dem Mann durch den Gang, bis sie vor einer Doppeltür standen, die von zwei Soldaten in der Tracht Graf Ennos bewacht wurde. Als sie den Mann und Rimberti sahen, traten sie einen Schritt beiseite.

Der Mann legte seine Hand auf Rimbertis Arm, um ihn zurückzuhalten. »Auf ein Wort noch, Doktor Rimberti. Der Drost musste leider schon vor dem Morgengrauen aufbrechen. Ein Zwischenfall. Er versichert Euch seiner Ehrerbietung und bat mich, an seiner Stelle für Euch zur Verfügung zu stehen.«

Rimberti nickte. »Ich danke Euch.« Er machte Anstalten weiterzugehen, aber der Mann blieb stehen.

»Verzeiht«, richtete er das Wort noch einmal an Rimberti, »die beiden Fräulein sind in Regierungsgeschäften gänzlich unerfahren und dadurch leicht zu ängstigen. Alles, was den Fräulein Sorgen machen könnte, mögt Ihr mit Drost Boing oder mit mir bereden. Beunruhigt bitte die Fräulein nicht zu sehr mit diesen Dingen.«

»Ich verstehe. Aber ich kann nicht alles von den Fräulein fernhalten«, antwortete Rimberti. Er wusste noch nicht, was er von diesem Mann halten sollte.

Einer der Soldaten öffnete die Tür. Rimberti folgte Keno Middens in das Empfangszimmer der Burg; ein großer und heller Raum öffnete sich vor ihm. An einem langen Tisch aus schwerem dunklem Holz saßen die beiden Fräulein auf Lehnstühlen. Rimberti wusste, dass sie wenige Jahre jünger waren als er, aber die eine wirkte älter und blickte aus dem Fenster, während sie mit den Fingern nervös an den Bändern ihrer weißen Haube nestelte. Vor sich hatte sie eine kleine Schale mit gezuckerten Mandeln. Sie drehte sich zu Rimberti, nickte und nahm aus der Schale ein paar Mandeln, die sie sich hastig in den Mund stopfte. Dann sah sie wieder aus dem Fenster.

Ihre Schwester sah aus wie ein großes altkluges Kind. Mit weit geöffneten Augen sah sie Rimberti an, und erst als er ihr ein zweites Mal ins Gesicht sah, bemerkte er die leichte Skepsis in ihrem Blick.

Er verbeugte sich und überbrachte die Grüße von Königin Maria. Nun schoss ihm in den Sinn, dass der Brief der Königin und sein Beglaubigungsschreiben noch auf dem Tisch in seinem Quartier lagen.

Das Fräulein am Fenster nickte gedankenverloren, während ihre Schwester seinen Gruß erwiderte: »Verehrter Doktor Rimberti, die Grüße der Königin sind meiner Schwester Anna und mir genauso willkommen wie Euer Besuch.« Sie räusperte sich und schien nach Worten zu suchen. Ihre Stimme klang angestrengt. Sie bedeutete Rimberti und Middens, auf den beiden freien Stühlen Platz zu nehmen. »Euer Besuch ist nicht nur erfreulich«, setzte sie die Begrüßung fort, »Er war dringend erforderlich.«

»Fräulein Maria, es wird sich alles zum Guten wenden«, wandte Keno Middens ein.

»Ihr hattet eine gute Anreise, Doktor Rimberti?«, fragte Fräulein Maria.

Sicher hatte sie von dem gestrigen Zwischenfall gehört. Rimberti wollte die Männer von Grootewarden nicht gefährden und ihr Versteck im Wald nicht preisgeben. »Ich hatte eine unerfreuliche Begegnung mit Isko Onninga«, erklärte er. »Er wollte das Dorf Grootewarden plündern, und dabei ist es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Glücklicherweise konnte einer der Offiziere Graf Ennos das Missverständnis klären, aber Isko hat den Dorfbewohner sämtliches Vieh genommen.«

Marias Augen weiteten sich vor Schreck. Ängstlich sah sie Middens an. »Davon habt Ihr mir nichts berichtet.«

»Kein Grund zur Sorge.« Keno Middens legte seine Hand beruhigend auf ihre. »Isko Onninga ist ein Hitzkopf. Ich habe schon veranlasst, dass er einbehält, was an Steuern gezahlt werden muss, und alles andere den Bewohnern von Grootewarden wieder zurückgibt.«

»In Grootewarden ist man der Meinung, man hätte die Steuern schon bezahlt«, wandte Rimberti ein.

»Alle sind immer der Meinung, sie hätten die Abgaben bezahlt«, erklärte Middens. »Sie schicken ab und zu einen Schlachtochsen in die Burg oder ein Fass mit Salzbutter, zwischendurch dann eine Tonne Bier oder vielleicht eine Wagenladung Brennholz. Und damit haben sie ihrer Meinung nach ihren Teil erfüllt. Das genügt nicht. Unser Land braucht die Abgaben. Junker Balthasar von Esens rüstet zum Krieg. Sein Verbündeter, Herzog Karl von Geldern, stellt ein Expeditionsheer auf, um sich einen friesischen Hafen zu erobern. Im Oldenburgischen tummelt sich ein Haufen von Landsknechten unter dem Kommando von Ewert Owelacker. Sie haben schon drei Gehöfte in Rüstringen geplündert und angezündet. Nur mit knapper Not konnten die Bewohner ihr Leben retten. Allein Graf Ennos Soldaten können dem Einhalt gebieten. Darum brauchen wir die Abgaben und können uns nicht mit gelegentlichen Aufmerksamkeiten zufriedengeben.«

Maria wollte etwas einwenden, aber Middens deutete ein Kopfschütteln an. Maria behielt ihren Einwurf für sich.

»Das entschuldigt nicht Iskos beleidigendes Verhalten gegenüber einem Beamten des kaiserlichen Hofes in Brüssel«, erklärte Keno Middens. »Der Drost hat ihn gestern dafür zur Rechenschaft gezogen. Isko Onninga entschuldigt sich für sein grobes Benehmen. Der Drost hat ihn mit seinen Männern zurück nach Ostfriesland geschickt. Damit ist alles in Ordnung.«

Rimberti zögerte. Wollte er Folkert Hedden und seine Männer nicht in Gefahr bringen, durfte er nicht von den Einzelheiten seiner verzögerten Reise berichten.

Er sah die beiden Schwestern an. »Fräulein Anna, Fräulein Maria, Ihr habt an die Königin appelliert. Ich bin hier, um zu prüfen, ob Graf Ennos Schutzherrschaft über Jever und seine Ansprüche auf die Regentschaft zu Recht bestehen. Ferner muss ich mir ein Bild von den Eheversprechen machen, die Euer Vater Graf Edzard gemacht hat. Mit Eurer Erlaubnis werde ich in Eurer Kanzlei alle Dokumente und Urkunden studieren. Königin Maria hat den Staatsrat von Wittenvelde mit den Angelegenheiten beauftragt. Der Staatsrat will umfassend informiert werden und erwartet meinen Bericht. Sofern es ihm möglich ist, wird er noch in diesem Jahr hier eintreffen. Darum ist es vermutlich unerlässlich, Personen zu befragen und mir vor Ort einen Einblick in die Verhältnisse in Eurer Herrschaft zu verschaffen. Dazu brauche ich Eure Erlaubnis.«

»Der Drost wird Euch im Namen Graf Ennos eine solche Genehmigung ausstellen«, stellte Keno Middens fest. »Ihr werdet feststellen, dass die freundschaftliche Umarmung durch die ostfriesischen Grafen in den vergangenen Monaten vielleicht etwas bedrückend gewesen sein mag, aber unsere Heimat ist in großer Gefahr. Das Jeverland ist wohlhabend genug, um sich Freunde zu machen. Aber es ist zu klein, um sich seiner Feinde zu erwehren. Solche unschönen Zwischenfälle wie der in Grootewarden dürft Ihr nicht überbewerten. Anders führen sich auch viele Beamte nicht auf, die in ihrem eigenen Land für den Fürsten die Abgaben einfordern. Isko wird sich in Zukunft zurückhalten. Es wäre jedoch schade, wenn die Erwähnung dieses Vorfalls ein ungünstiges Licht auf die Regentschaft unserer Fräulein würfe.«

 

Fräulein Maria sah Rimberti für einen Moment an und schlug dann die Augen nieder. Sie betrachtete ihre gefalteten Hände. Vom Hof waren Pferdegetrappel und laute Stimmen zu hören.

Middens erhob sich und trat ans Fenster. Er sah eine Weile nach unten und drehte sich wieder um. »Vielleicht können wir unsere Erörterungen ein anderes Mal fortsetzen. Mit Eurer Erlaubnis will ich nachsehen, was los ist.«

Bevor Middens den Raum verlassen konnte, wurde die Tür geöffnet, und ein verschwitzter Mann mit verschmutzen Kleidern stolperte hinein. »Grootewarden …«, stieß er hervor, »sie waren in Grootewarden.«

»Wer war in Grootewarden?«, herrschte Keno Middens ihn an. »Sprich nicht in Rätseln, erstatte deiner Herrin Bericht!«

»Ewert Owelacker und seine Landsknechte sind über Grootewarden hergefallen.«

Keno Middens verschränkte die Arme vor der Brust und sah Rimberti mit einem vorwurfsvollen Blick an. »Hätten wir Herrn Isko und seine Männer nicht fortgeschickt, so hätten sie diesen Überfall abgewehrt.«