Morgen kommt der Weihnachtsmann

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Morgen kommt der Weihnachtsmann
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Andreas Scheepker

Morgen kommt der Weihnachtsmann

Ostfrieslandkirmi


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Andreas Scheepker ist gebürtiger Ostfriese. 1963 wurde er in Hage geboren. Nach dem Abitur am Ulrichsgymnasium in Norden studierte er Evangelische Theologie und später noch Literaturwissenschaft, Geschichte und Pädagogik. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Aurich, wo er als Schulpastor am Gymnasium Ulricianum unterrichtet. Außerdem arbeitet er als Studienleiter in der Arbeitsstelle für Ev. Religionspädagogik. Neben seiner vielfältigen Berufstätigkeit interessiert er sich besonders für historische und regionalhistorische Themen. Scheepker hat mehrere Kriminalromane und Kurzgeschichten verfasst, die in Ostfriesland spielen. Dabei stehen oft Themen der ostfriesischen Geschichte im Hintergrund.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2006 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © artfocus / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6448-5

Vorbemerkung des Autors

Ein Fürstentum Ostfriesland gibt es seit 1744 nicht mehr. Aber mich hat die Idee gereizt, Ostfriesland als Kleinstaat mit einem Fürsten an der Spitze unter heutigen Bedingungen darzustellen. Ein Paralleluniversum ist wohl nicht daraus geworden – höchstens ein Parallel-Ostfriesland. Aber sieht dieses wirklich so ganz anders aus als unser jetziges Ostfriesland?

Neben erfundenen Orten wie Reentshusen kommen natürlich auch wirkliche Orte vor – besonders die Stadt Norden, in der der größte Teil der Romanhandlung spielt. Die Norderinnen und Norder mögen mir gestatten, dass ich an einigen Stellen in das Stadtbild eingegriffen und z. B. historische Gebäude wie das Osterhaus und den Gasthof ›Jerusalem‹ zumindest in diesem Buch vor ihrem Abriss bewahrt habe.

Herzlich danken möchte ich Herrn Pastor Manfred Hurtig aus Nesse und Herrn Dr. Ekkehard Wolter aus Norden für ihre Beratung.

2006 ist dieser Roman zum ersten Mal im Leda-Verlag in Leer erschienen. Herzlich danke ich Maeve Carels für ihr Lektorat sowie Heike und Peter Gerdes vom Leda-Verlag für alle Unterstützung. Ich freue mich, dass dieses Buch nun erneut im Gmeiner-Verlag erscheint. Ich danke Claudia Senghaas und dem Team vom Gmeiner-Verlag für die sehr gute Zusammenarbeit.

Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Angelika, die Entstehung dieses Romans mit vielen guten Ratschlägen und Ideen und mit ihrer hilfreichen Kritik begleitet hat.

Die Hauptpersonen und ihre Weihnachtswünsche

Die Ermittelnden:

Gerrit Roolfs, Hauptkommissar, wünscht sich eine Erleuchtung.

Johannes Fabricius, Buchhändler, wünscht sich ein gutes Weihnachtsgeschäft.

Lothar Uphoff, Kriminaldirektor, wünscht sich den Erfolg seines Teams.

Theda van Immen, Kommissarin, wünscht sich eine faire Chance.

Christian Gronewold, Kommissar, kümmert sich selbst um die Erfüllung seiner Wünsche.

Habbo Janssen, Oberinspektor, hat sehr konventionelle Wünsche.

*

Zeugen, mehr oder weniger hilfreiche Personen und die üblichen Verdächtigen:

Fürst Carl Edzard II. wünscht sich Frieden auf Erden, besonders in Ostfriesland.

Uwe Osterloh, Pastor, wünscht sich eine weihnachtsmannfreie Zone.

Tammo Tjarksen, Geschäftsmann und Mordopfer, hätte sich noch mehr Weihnachtsfeste im Jahr gewünscht.

Klaus Tjarksen, Sohn von Tammo Tjarksen, wird sich gerade erst über seine Wünsche klar.

Renate Tjarksen, Witwe von Tammo Tjarksen, wünscht sich eine harmonische Familie.

Onno Erdwiens, pensionierter Lehrer und Schriftsteller, wünscht sich Gerechtigkeit und gute Verkaufszahlen für seine Bücher.

Mareke Meents-Grootekamp, Ehefrau eines Burgbesitzers, wünscht sich eine adventliche Landpartie.

Günther Meents, Unternehmer, Burgbesitzer und Ehemann von Mareke Meents-Grootekamp, erfüllt seiner Frau ihren Wunsch.

Dr. Gerald Oosterhuis, Jurist und Politiker, wünscht sich, angemessen in alles einbezogen zu werden.

Wolfgang Hinrichsen, Prokurist bei Tammo Tjarksen, wünscht nicht, über die Vergangenheit zu sprechen.

Hartwig Rosenboom, Kapitän im Ruhestand, wünscht nicht, über die Vergangenheit zu sprechen.

Irene Sanders, ostfriesische Bischöfin, wünscht sich Advent im Advent.

Fokko Grootekamp, Heimatforscher, lebt mit unerfüllten Wünschen.

Dr. Tido Fischer, pensionierter Historiker, wünscht sich eine Rückkehr zu alten Werten und Traditionen.

Fenna Potthoff, pensionierte Dorfschullehrerin, weiß nicht, was sie sich wünschen soll.

Mittwoch, 09. Oktober 2002

Er blieb neben der Pastorin vor dem Grab stehen. Die Träger stellten den Sarg seiner Schwester auf zwei massive Bretter über der offenen Grube. Sie trugen schwarze Überhemden.

Dann sah er, wie eine Rose sich aus dem Blumengesteck löste und in das Grab hinunterfiel. Die sechs Sargträger nahmen ihre Prinz-Heinrich-Mützen ab und verharrten in regloser Andacht. Vermutlich zählten sie bis zwanzig oder warteten auf ein Zeichen, dass es weiterging. Das schneeweiße Beffchen der Pastorin flatterte im Wind wie ein fröhliches Fähnchen.

Er stand dicht am Grab seiner Schwester und sah hinunter in die Grube. Auf dem Boden hatte sich Grundwasser gesammelt. Einer der Träger verneigte sich vor dem Sarg. Dann setzten die sechs Männer ihre Mützen wieder auf. Die Schwarztöne ihrer Hemden waren unterschiedlich dunkel und intensiv. Eins war schon bis zu einem hellen Grau ausgeblichen. Der Mann, der es trug, musste wohl der Dienstälteste sein. Richtig, dieser Mann gab nun durch sein Kopfnicken ein Zeichen, und die anderen zogen die Bretter weg und ließen den Sarg langsam hinunter. Wieder blieben die Träger einen Moment andachtsvoll stehen, dann stolperten sie über die aufgeschütteten Erdhaufen davon.

Jetzt beobachtete er, wie sie in angemessener Entfernung hinter einem Busch stehen blieben und der Dienstälteste eine Zigarettenschachtel herumreichte, aus der sich jeder bediente.

Die Pastorin begann mit dem Vaterunser. Die Anwesenden stimmten nach und nach ein. Viele waren gekommen. Er achtete gar nicht darauf, wer alles zur Beerdigung seiner Schwester erschienen war. Er erschrak, weil die Trauerfeier fast vorbei war und er auf die Worte am Grab gar nicht gehört, sondern nur die Sargträger beachtet hatte.

Nun sprach die Pastorin den Segen und zeichnete ein Kreuz in die Luft. Wie alt mochte sie sein? Etwas jünger als er? Sie trug keinen Ehering. Vielleicht war sie geschieden. Oder es hatte sich bisher nicht ergeben … Ob er sie wohl mal zum Tee einladen durfte? Nicht als Seelsorgerin, sondern …

Die Pastorin stand plötzlich vor ihm und reichte ihm die Hand. Ihr Händedruck war weich und kräftig zugleich. Er wartete nicht ab, bis die anderen zum Grab gingen, um ihm dann anschließend ihre Anteilnahme auszusprechen. Mit etwas zu raschen Schritten ging er davon.

Auf dem Parkplatz blieb er einen Moment stehen. Sein Herz klopfte. Langsam stieg er in sein Auto und fuhr los. In der Stadt war wenig Verkehr; die Ferien waren längst vorbei, und während der Mittagszeit waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Er parkte beim Imbiss gegenüber vom Gymnasium und ließ sich zwei Frikadellen und eine Portion Kartoffelauflauf in Alufolie verpacken. Dann fuhr er durch die Innenstadt und bog beim alten Norder Rathaus rechts ein, um in Richtung Westermarsch und Greetsiel nach Haus zu fahren.

Auf der Westermarscher Landstraße überholte er ein weinrotes Auto mit einem polnischen Kennzeichen. Das Auto hatte auch beim Friedhof geparkt. Im Vorbeifahren sah er, dass eine Frau am Steuer saß. Der Mann neben ihr trug eine Sonnenbrille. Das Auto fuhr langsam, als ob die beiden etwas suchten.

Auf einmal hatte er ein mulmiges Gefühl. Zu Hause angekommen, ging er in sein Zimmer und öffnete das kleine Fach im Sekretär. Er holte das abgegriffene Schwarzweißfoto heraus und betrachtete die Gruppe von Menschen, in der Mitte seine Eltern und seine drei Schwestern. Die Jüngste lag als Baby im Arm der Mutter. Er selbst saß als kleiner Junge auf den Schultern seines Vaters. Um die Familie herum standen alle, die damals auf dem Hof gearbeitet hatten, Mägde, Knechte, Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter.

Ganz am Rand des Fotos, an der Stalltür, war der Mann zu sehen, der so viel Kummer über ihn und die Familie gebracht hatte.

 

Aus dem Fenster heraus sah er, dass ein kleines, weinrotes Auto die Einfahrt heraufkroch. War es der polnische Wagen, den er vorhin überholt hatte?

Es klingelte an der Tür. Er hatte das Gefühl, genau zu wissen, was gleich passieren würde. Er atmete tief aus und ein, sah sich noch einmal im Garderobenspiegel an und öffnete dann die Tür. Er hatte das Foto noch in der Hand.

Vor ihm standen eine Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte, und ein alter Mann. Es war der Mann, der auf dem Foto in seiner Hand abgebildet war.

Sonnabend, 30. November 2002

Weihnachtsmann

In der Woche vor dem ersten Advent hatte eine Supermarktkette lebensgroße Weihnachtsmann-Figuren im Angebot.

In Norden gab es auf der vielbefahrenen Norddeicher Straße ein paar Auffahrunfälle, weil einige Autofahrer erschrocken auf rotgekleidete Gestalten blickten, die auf Dächern saßen, an Balkonen hingen, sich an Dachrinnen festklammerten und an Regenrohren kletterten.

Nachdem die Tageszeitungen im Fürstentum Ostfriesland auf ihren Titelseiten ausführlich über diese Unfälle und ihre Ursache berichtet hatten, gehörten die Weihnachtsmänner zum Alltag, und niemand schenkte ihnen noch besondere Aufmerksamkeit.

Vielleicht achtete Johannes Fabricius an diesem dunklen Morgen deshalb nicht so genau auf den lebensgroßen Weihnachtsmann, der auf dem Norder Marktplatz an einem Baum neben dem Pavillon hing. Vor einigen Tagen war hier ein Weihnachtsmarkt mit Buden, Ständen und beheizbaren Zelten aufgebaut worden.

Johannes Fabricius war unterwegs zu seiner Buchhandlung. Er hatte ein paar Tage wegen einer schweren Erkältung gefehlt und ahnte, dass im Geschäft ein großer Stapel unerledigter Aufgaben auf ihn wartete. Hoffentlich hatten seine Angestellten die Weihnachtsdekoration ordentlich aufgebaut.

Jetzt stutzte Fabricius. Er blieb stehen und drehte sich um. Er betrachtete den Weihnachtsmann, der neben dem Pavillon hing, und ging langsam zu ihm zurück. Je näher er dem Weihnachtsmann kam, umso deutlicher erkannte er, dass dort keine Puppe hing, sondern ein Mann, verkleidet wie ein Weihnachtsmann mit rotem Mantel, weißem Bart und tief ins Gesicht gezogener roter Mütze. Regungslos, mit Raureif überfroren. Tot.

Fabricius sah sich um. Die Weihnachtsbuden auf dem Marktplatz waren um diese Zeit natürlich noch geschlossen. Niemand war in der Nähe.

Da schlug es acht Uhr vom Glockenturm, und im selben Moment gingen im Haus vor ihm die Lichter an. Es war die Praxis von Doktor Ailts.

Die Sprechstundenhilfe füllte gerade die Kaffeemaschine, als Johannes Fabricius eintrat. Er fragte: »Ist Doktor Ailts schon da?«

»Wir haben heute Notdienst, dann kommt der Doktor immer schon früh. Setzen Sie sich doch schon mal ins Wartezimmer, Herr Fabricius. Ich hole Sie gleich herein.«

»Nein, ich bin nicht krank, der Doktor muss mitkommen, schnell – auf dem Markplatz hängt ein toter Weihnachtsmann!«

»Der Tod braucht keine Eile«, brummte Doktor Ailts, der gerade aus seinem Sprechzimmer kam.

Die Polizei, die ihr Dienstgebäude am Marktplatz hatte, war schnell herbeigeholt worden, und Doktor Ailts stellte die Tatsachen fest. Man hatte den toten Weihnachtsmann inzwischen heruntergeholt. Der Arzt kniete neben ihm. Um ihn herum bildeten einige Kriminalbeamte mit dem Team der Spurensicherung einen Ring, der den Kreis von diskret Schaulustigen in angemessener Distanz hielt.

»Tammo Tjarksen«, teilte Doktor Ailts dem Kriminalbeamten Habbo Janssen mit, der die nur noch im Fürstentum gebräuchliche Amtsbezeichnung »Oberinspektor« führte.

»Moin, Herr Doktor«, sagte Janssen und hockte sich neben den Arzt. »Wissen Sie, wie lange er schon tot ist?«

»Seit ein paar Stunden. Aber nicht durch dieses Seil hier.« Der Arzt drehte mit Janssens Hilfe den Toten auf den Rücken und öffnete den roten Mantel. Er zeigte auf ein Einschussloch in der Brust. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist er erschossen und dann aufgehängt worden.«

»Also Mord?«, fragte der Kriminalbeamte erstaunt.

»Oder es ist der eigenartigste Selbstmord, den ich in meinem dreiunddreißigjährigen Berufsleben untersuchen musste«, bemerkte Doktor Ailts trocken.

Erinnerungen

Er saß in seinem Wagen und beobachtete, wie ein paar Männer um die Leiche im roten Kostüm hockten, während zwei Polizeibeamte in Uniform die neugierigen Passanten zum Weitergehen aufforderten. Er hatte weit genug entfernt geparkt, um unbeachtet zu bleiben.

Er musste die ganze Zeit an ein Weihnachten seiner Kindheit denken. Er mochte damals acht oder neun gewesen sein. Er sah alles auf einmal wieder deutlich vor sich.

Am Tag vor Heiligabend saß er in der Küche und las noch einmal das Gedicht, das er so sauber auf das Blatt Papier geschrieben hatte und das er schon längst auswendig konnte. In einer halben Stunde würde die Weihnachtsfeier in der alten Schule beginnen und er würde sein Gedicht aufsagen. Seine Mutter putzte die guten Schuhe, die er gleich anziehen sollte.

Auf einmal stand der Mann in der Tür.

»Frohe Weihnachten, mein Junge«, sagte der Mann, und sein verschlagener Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen.

»Frohe Weihnachten«, sagte der Junge und sah wieder auf sein Blatt.

»Ich habe eine Weihnachtsüberraschung für dich. Joke muss gleich nach Norderney fliegen, um da Medikamente hinzubringen. Die Fähre kann heute nicht rüber. Wir beide dürfen mitfliegen.« Herausfordernd sah der Mann den Jungen an.

Das Herz des Jungen klopfte. »Das geht nicht. Ich muss doch gleich bei der Weihnachtsfeier …« Er hatte Angst vor dem Fliegen, und er freute sich so auf seine Rolle beim Weihnachtsspiel. Er wusste, dass der Mann das auch wusste.

Drohend machte der Mann einen Schritt auf ihn zu. Er sprach leise und betonte jede Silbe: »Sind dir denn andere Leute wichtiger als unsere Weihnachtsüberraschung? Du bist in einer Minute im Wagen. Keine Widerworte!«

Die Mutter sah einen Augenblick auf, und dann senkte sie wieder ihren Blick. Sie stellte die Schuhe weg.

Seit einiger Zeit meldeten sich viele dieser Erinnerungen wieder, wie unliebsame und aufdringliche Bekannte aus alter Zeit.

Er drehte den Zündschlüssel um und startete den Wagen. Fast geräuschlos fuhr er los. Niemand achtete im Morgenverkehr auf ihn.

»Advent ist im Dezember«

Der Buchhändler Johannes Fabricius hatte heute besonders zeitig in seinem Geschäft sein wollen. Aber da er bei Oberinspektor Janssen zunächst seine Angaben zu Protokoll geben musste, stand er erst wenige Minuten nach neun im Eingang der Hofbuchhandlung. Fabricius ließ seinen Blick prüfend über die weihnachtlich geschmückten Schaufenster gleiten.

Im Fürstentum Ostfriesland galt es als stillos, vor dem Totensonntag weihnachtlich zu dekorieren. In diesem Jahr hatte Fürst Carl Edzard II. sich der Kampagne »Advent ist im Dezember« angeschlossen und allen Geschäften gedroht, sie von der Liste der Hoflieferanten zu streichen, wenn sich bis zum Totensonntag auch nur ein einziger Weihnachtsmann blicken oder ein Takt Jingle Bells hören ließ. Der Fürst hatte es sogar auf einen Eklat ankommen lassen, denn bei Weihnachten hörte für ihn der Spaß auf.

So war der Montag nach dem Totensonntag für viele Geschäftsleute im Fürstentum ein anstrengender Tag, weil innerhalb weniger Stunden unzählige Schaufenster und Läden gestaltet werden mussten, während gleichzeitig die Fußgängerzonen von den Bediensteten der Städte und Gemeinden ihre adventliche Dekoration erhielten.

Johannes Fabricius nickte zufrieden. Seine Angestellten hatten gute Arbeit geleistet. Im großen Schaufenster waren Szenen aus Charles Dickens’ Christmas Carrol mit Puppen dargestellt. Die Niederdeutsche Bühne in Norden würde in der Adventszeit die plattdeutsche Theaterversion dieses Weihnachtsmärchens aufführen.

Das zweite Fenster war Barbara Robinsons Buch Hilfe, die Herdmanns kommen gewidmet, das in der Adventszeit in den Norder Kirchen als Musical aufgeführt werden sollte. Im dritten Fenster schüttete der obligatorische Weihnachtsmann den obligatorischen Sack mit den wunderbarsten Büchern aus.

Skeptisch betrachtete Fabricius die große Weihnachtsmannpuppe. Tanja Becker, die Auszubildende, brachte gerade den Bart in Form.

Fabricius betrat die Buchhandlung und ging zu ihr. »Moin, Tanja. Den Weihnachtsmann nehmen Sie man schnell wieder aus dem Schaufenster, sonst kauft heute bestimmt keiner bei uns.«

Tanja dreht sich überrascht um und sah ihn mit ihren großen, blauen Augen irritiert an.

Verunsichert fragte Fabricius: »Oder wissen Sie noch gar nicht, was passiert ist?«

Adventsgesteck

»Tammo Tjarksen?«, fragte Kriminaldirektor Lothar Uphoff ungläubig und ließ den Tannenzapfen, den er aus dem Adventsgesteck der Dienststelle herausgedreht hatte, auf den Boden fallen. Er kullerte Habbo Janssen vor die Füße.

»Tammo Tjarksen«, bestätigte Janssen. Er bückte sich, tastete nach dem Zapfen und platzierte ihn in aller Gemütsruhe wieder im Gesteck.

»Ach, du lieber Himmel. Weiß der Fürst schon Bescheid?«

»Nee, Lothar, wie denn? Ich komme gerade vom Tatort und bin noch ein Stück mit Doktor Ailts gegangen. Ich habe ihm gesagt, dass unser Gerichtsmediziner sich mit ihm in Verbindung setzen wird. Und nun bin ich wieder hier.«

Habbo Janssen nahm die Streichhölzer vom Tisch und zündete die Kerze auf dem Gesteck an. Dann holte er einen winzigen Notizblock aus seiner Tasche, auf dessen Blättern alles in mikroskopisch kleinen Buchstaben notiert war.

Während Janssen in aller Ausführlichkeit berichtete, drehte Uphoff drei Fliegenpilze aus der Dekoration. Dann öffnete er mit dem abgebrannten Streichholz den Kerzenmantel in Höhe des brennenden Dochtes, und das flüssige Wachs ergoss sich in das Gesteck. Während dieser Prozedur hörte der Kriminaldirektor konzentriert zu und stellte kurze, präzise Fragen, auf die Janssen genau so kurz und präzise antwortete.

»In Ordnung, Habbo. Du schreibst den Bericht, und ich informiere den Fürsten. Gerrit kommt heute Vormittag etwas später. Wenn er da ist, bringst du ihn auf den neuesten Stand. Ihr beide übernehmt den Fall. Auch vor meinem Gespräch mit dem Fürsten kann ich schon eine Ansage machen: Bitte die höchste Beschleunigungsstufe! Sonst ist ein Skandal im Anmarsch.«

Zimtsterne

»Tammo Tjarksen?« Fürst Carl Edzard II. von Ostfriesland war sichtlich erschrocken. Er brauchte einen Moment, um sich zu fassen.

»Ja«, bestätigte Kriminaldirektor Uphoff, »Tammo Tjarksen wurde heute früh gefunden. Tot. Er muss in der Nacht aus nächster Nähe erschossen worden sein. Der Arzt sagte, dass Tjarksen sofort tot gewesen sein muss, und dass ihn sein Mörder oder jemand anders dann an einen Baum neben dem Pavillon gehängt hat. Mehr wissen wir noch nicht.«

»Ich lasse sofort meine Vormittagstermine verschieben und bestelle uns Kaffee«, sagte der Fürst entschieden. »Ich bin gleich wieder da.«

Vermutlich wollte er einen Moment allein sein, um das Gehörte zu verarbeiten. Als Carl Edzard zurückkehrte, hatte die Sekretärin gerade Kaffee und einen Teller mit Zimtsternen gebracht.

Der Fürst stand am Fenster und schaute auf den Schlossvorplatz. »Herr Kriminaldirektor, ich muss Ihnen nicht sagen, dass ich Tjarksen so etwas nie gewünscht hätte, auch wenn er und ich nicht gerade gute Freunde gewesen sind. Ich mochte ihn nicht, das gebe ich ehrlich zu. Er war nicht einfach ein Gegner, er war leider ein unanständiger Gegner.«

Carl Edzard drehte sich zu Lothar Uphoff um. »Zuerst gilt mein Mitgefühl ihm und seiner Familie. Aber ich verhehle Ihnen nicht, dass mich dieser Vorfall in eine recht unangenehme Situation bringt. Es geht dabei nicht nur um mich, sondern auch um die Regierung und einige Persönlichkeiten, die sich in den Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen recht weit aus dem Fenster gelehnt haben. Es geht – wenn ich das so sagen darf – um den öffentlichen Frieden.« Jetzt war er wieder ganz der Staatsmann.