Buch lesen: «Genug. Mein Ende als Polizist.»

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18 Jahre Alptraum

Mein Ende als Polizist

Es ist der 10. Mai 2017, 12:00 Uhr. Ich weine. Ich sitze im Auto und weine. Viele Jahre habe ich mich gequält, habe gehofft, versucht und gekämpft. Alles hat mal ein Ende. Meine Ende als Polizist ist gekommen. Das langersehnte Ende im Sicherheitsbereich, wo es subjektiv weniger Sicherheit und subjektiv mehr Unsicherheit gibt, als zuvor. Ich fange an zu schreiben, weil ich es muss. Ich muss es schreiben, muss vieles schreiben. Ich will nicht belehren, nicht streiten, nicht kämpfen und niemanden verletzen. Ich selbst bin verletzt und deshalb schreibe ich. Einfach so. Das geht und wer es will, der soll mich verstehen. Wer es nicht kann, nicht will oder nicht darf, der ist auch in Ordnung. Ich gehe euch aus dem Weg. 18 Jahre Streit sind genug und ich mag nicht mehr streiten. Ich mag nicht mehr!

Um 12:00 Uhr kam der ersehnte Telefonanruf. „Sie werden abgeordnet, nach einigen Monaten können Sie endgültig aus dem Polizeidienst ausscheiden und in den allgemeinen Verwaltungsdienst gehen.“ Man muss zwischen einer Abordnung, Umsetzung, Versetzung unterscheiden. In Deutschland hat alles seine Ordnung. Nur das eigentliche Leben ist nicht geordnet. Hunderttausende Gesetze regeln das, was uns an Anstand, an zwischenmenschlichem Vermögen und Einsicht fehlt. Der Polizist sieht alles das, was ihn im beruflichen Alltag begleitet. Unberechtigte PKW auf Behindertenparkplätzen, Arroganz, Lüge und Falschheit. Er sieht die Wahrheit in Kinderaugen und die wachsamen Augen unscheinbarer - vor allem älterer – Menschen. Polizisten entwickeln ein untrügliches Gespür für den anderen, und das belastet oft.

Ich bin 48 Jahre alt, verheiratet, 1,84 m groß, lebe in Norddeutschland und habe einen tollen Sohn, der seit drei Jahren in Sydney studiert, dort auf dem Bau arbeitet, auch nachts arbeitet. Ein Kind, welches mir immer Freude bereitet hat und es bis heute tut. Ein Kämpfer, der jahrelang mit wenig Schlaf und sehr harter Arbeit sein teures Studium selbst finanziert. Ein Sieger, der sich immer durchsetzen wird. Meine Frau liebt mich seit 23 Jahren. Ich bin ein normaler Mann, Segler, Motorradfahrer, Kraftsportler und mit dem heutigen Tag ein Schreiberling zur Probe.

Ich werde von meinem erlebten Alltag als Polizist, als Polizeivollzugsbeamter, schreiben und mir damit diese Jahre aus dem Gedächtnis radieren. Es mag jeder seine eigenen Schlüsse aus meinem Bericht ziehen, so wie jeder einen anderen Mond sieht,wenn man genau hinschaut. Schauen Sie genau hin?

Ich komme aus einer Unternehmerfamilie, die nach 1989 im Osten eigenverantwortlich das Leben in die Hände nahm. Der Vater hatte diesen Schritt bereits 1988 in die Wege geleitet, also vor der Aufbruchstimmung. Wir hatten bereits vor der Revolution unsere eigene familiäre Revolution. Also die Idee, sein eigener Herr sein zu wollen. Das klappte. Wir bauten gemeinsam unsere Firma auf. Nach einigen Jahren wurde diese für mich zu klein und ich kündigte. Der Sohn muss seine eigene Wege gehen, ich wollte keiner dieser Spinner mit Papis Firma sein und kannte inzwischen genug von denen. Es folgten eine Umschulung, danach schnell die Meisterausbildung in Hamburg und einige weitere Ausbildungen im technischen Bereich. Anschließend arbeitete ich in verschiedenen Firmen, um eine breitere berufliche Aufstellung zu haben. Mein Abitur konnte ich nicht beenden, als ich 1985 die Sportschule freiwillig verließ. Doch das ist eine andere Geschichte. Inzwischen ist es 1998, wo ich beginnen werde.

Der Anfang als Polizist

Ein Staat im Staate

Es ist der Sommer 1998, als ich bei der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern meine Ausbildung beginne. Rangabzeichen, eine geschlossene Unterbringung auf einem ehemaligen Gelände der Staatssicherheit für Frauen und Männer, Befehle und süffisante Kommandos. Ich bin wieder beim Militär. Eigentlich wollte ich dies nie wieder sein, nachdem ich bei der Nationalen Volksarmee als Fallschirmjäger diente und somit einer von wenigen echten Kämpfern war. Doch dies sollte vorbei sein. Vergangenheit. Warum also das alles? Es gibt im Osten keine Arbeit mehr. Die westdeutschen Firmen haben ihre Filialen im Osten geschlossen, Sonderabschreibungen besonderer Art gibt es nicht mehr. Selbst viele Verbrecher der Banken-und Versicherungswirtschaft sind verschwunden und vereinzelt tauchen nur noch einige Roma und Sinti auf, um uns zu betrügen. Was sollte ich tun? Maschinenbau studieren? Nein, es gibt selbst an den Handwerkskammern zu viele von ihnen, die nach Arbeit fragen. Die Heimat verlassen? Die Familie, Freunde und Feinde? Das wollen wir nicht. Wir haben schon so viel verloren. Unsere Flagge, unsere Nationalhymne und unsere Gesellschaftsidee. Unsere Gesetze und viel von unserer Achtung. Täglich können wir in den Zeitungen alles über uns lesen und wenig über die andere Seite. Unsere Archive sind offen, die anderen bleiben geschlossen. So sieht der Alltag aus. Ich begreife auch langsam, dass zuerst das äußere Erscheinungsbild zählt. Dann kommt wohl der Mensch. Dann kommt seine Seele. Ich bewerbe mich bei der Polizei, als einer von ungefähr 6500 Menschen, von denen ungefähr 1850 zum Auswahltest eingeladen sind. Es sind 60 Stellen zu vergeben. Ich bin als Zweitältester dabei und habe einen Ausbildungsplatz bekommen . Alle anderen kommen überwiegend frisch vom Abi. Nun bin ich also von hohen Mauern umgeben und lebe und lerne hier. Als Ehemann und Familienvater habe ich beantragt wenigstens am Mittwoch, einmal in der Woche, für eine Nacht nach Hause fahren zu dürfen. Meine Familie fehlt mir sehr. Der Antrag wurde genehmigt. 2 Wochen später muss ich mich bei meinem leitenden Dozenten rechtfertigen, warum ich unerlaubt die Unterkunft verlassen habe. Ich rechtfertige mich mit meinem genehmigten Antrag. Ich soll diesen sofort vorzeigen, was ich nicht kann. Er ist zu Hause abgeheftet. Auf meine Frage, wo denn die Kopie bei ihm abgeheftet sei, bekomme ich ein lautes „Raus!“ zu hören. Ich ahne, dass ich Schwierigkeiten bekommen werde. Offenbar gibt es keine Buchführung.

Es ist ein Mikrokosmos. Der Chef der Ausbildung sieht aus wie Napoleon. Er hat dessen Größe,dessen Statur und trägt gerne die rechte Hand am Hosengürtel. Nur sein Gesicht ist das einen Kindes. Seine Stimme auch. Abends sitzen die höheren Polizeiführer aus dem Westen, welche unvorstellbar schnell begünstigt und befördert worden sind, in der Kneipe, die auch vorhanden ist. Da wir alle in der Unterkunft bleiben müssen, stecken wir vorsichtig unsere Gesichter in die Kneipe. Ich erkenne sofort, wer dem Alkohol verfallen ist. Dazu brauche ich nur 2 oder 3 Sekunden. Die Nase, die Haut und die Augen verraten es sofort. Meine Enttäuschung ist groß, als ich auch einige Ausbilder hier sehe. Die Monate vergehen und alle haben sich inzwischen an alles gewöhnt. Wir haben Unmengen an Fächern. Wir haben aber auch Unmengen an Fragen. Viele bleiben bis zum Schluss der Ausbildung unbeantwortet. Wir können inzwischen alle hunderte Gesetze auswendig. Wir kennen alle Absätze, jedes Wort. Wir sind sprechende Maschinen geworden. Es zählt alleine die Gesamtpunktzahl. Mehr nicht. Wir verstehen uns im Grunde alle ganz gut. Eine Idee, eine gemeinsame Ausbildung eben. Am Anfang gehe ich mit meinem Schlafanzug zum Waschraum. Ich habe auch einen Koffer dabei. Mein Zimmernachbar liegt in seinem Bett. Er ist sportlich und wirkt sehr klug. Er ist es auch. Sein Kumpel kommt und erzählt ihm, dass da ein Typ mit einem Koffer gekommen ist. Alle haben wohl Sporttaschen dabei. Ich schaue langsam hoch zu meinem Schrank. Da liegt er. Es ist meiner. Der Koffer leuchtet gerade strahlend hell, weil die Sonne auf ihn scheint. Wir haben hohe Räume und die Sonne geht gerade unter. Unser Zimmern liegt nach Westen raus. Irgendwann sieht es auch der Typ. Er stutzt. Beide erzählen von ihrer Armeezeit. Ich antworte dem Besucher, dass ich auch bei der Armee war. Er hatte mich gefragt. Er will wissen, wo ich genau gedient habe. Ich erzähle es ihm. Er wird blass. Mein Zimmernachbar staunt. Das sollten sie beide auch, denn wir waren einzigartig. Eine Kommandotruppe, bei der nach 8 Wochen Ausbildung bereits 25 Soldaten von ungefähr 80 Soldaten verletzt ausgefallen sind. Der Drill und das Training waren gnadenlos. Wir bekamen damals alle eine Keramiktasse in die Hand. Wessen Tasse kaputt ging, der musste sich zu einer Sonderbehandlung melden und den ganzen Tag über Liegestütze und weitere Sportübungen machen. Ich schaffte es als Vorletzter, sie zu behalten. Was für ein Irrsinn. Ich hätte sie gleich zum Anfang auf den Boden werfen sollen, anstatt wochenlang darauf aufzupassen. Die Strafe kommt so oder so und irgendwann geht sie nun mal kaputt, weil ich kaputt bin. Müde bin. Die verletzten Kameraden haben Knochenbrüche, Nervenzusammenbrüche oder Wasser in den Beinen, so das wir ihnen die Armeehosen mit dem Messer aufschneiden müssen, weil sie auf den geschwollenen Beinen wie angewachsen erscheinen. Nachts weinen viele. Wir sind alle 18 Jahre alt. Für Fehler im Dienst müssen wir eine Rechtfertigung schreiben und jeweils 50 Liegestütze machen. Im ersten Jahr kommen am Tag etwa 500 Liegestütze zusammen. Sie werden auf den Fäusten gemacht. Ich halte durch, verletze mich nicht und schreibe auch für andere diese Rechtfertigungen. Ich bin der schnellste Soldat auf den zwei unterschiedlichen Hindernisbahnen. Niemand ist schneller. Schon als kleines Kind bin ich alleine mit dem Segelboot auf die See hinaus gefahren. Meine Eltern hatten keine Angst, weil sie mir vertrauten. Ich bin auch Surfer und habe 6 Jahre Judo gemacht, wovon ich die letzten 3 Jahre unbesiegt blieb. Überall brauchte ich einen sehr guten Gleichgewichtssinn und nun als Soldat hilft es mir. Auch bei Schlägereien in der Kaserne. Die Ausbildung dauert drei Jahre. Im ersten Jahr bist du nichts. Diejenigen, die schon ein Jahr da sind, sollen uns verprügeln. Also sucht sich jeden Morgen jeder von denen einen von uns aus. Sie warten vor unserem Haus, als wir vom 8 Km Frühsportlauf kommen und in unsere Unterkünfte müssen. Die Zeit läuft. Als mein bester Kumpel, ein Hüne von Mann, 1,95m groß, breit, aus Berlin, von denen zusammengeschlagen wird, da wird es ernst. Mein Gegner kommt. Ich schlage ihm blitzschnell ins Gesicht. Ich bin ein Straßenkämpfer und komme mitten aus dem Stadtzentrum. Tägliche Schlägereien waren bei uns an der Tagesordnung. Mein Angreifer stutzt, zögert und wischt sich über sein Gesicht. Er blutet stark. Ich habe ihm seine Unterlippe aufgeschlagen. Sie hängt leicht herunter und ist aufgeplatzt. Nun ist meine Gelegenheit gekommen. Ich renne schnell an ihm vorbei. Später werde ich noch drei schwere Schlägereien dort haben. Als ich alle drei gewinne, fasst mich nie wieder einer von denen an. Sie haben Angst, ihr Gesicht zu verlieren oder sich zu verletzen. Ich gebe es zu, ich könnte sie töten. Ich würde es tun, wenn sie mich in die Enge treiben würden. Doch diese Zeit ist lange vorbei und ich bin jetzt in einer zivilen Ausbildung. Fast. Ich werde, als Dreißigjähriger, noch mehrere Langstreckenläufe gegen meine neuen Kameraden bei der Polizei gewinnen. Ich kann im Grunde jede Lauftaktik wählen. Manchmal lasse ich sie vorlaufen und hole sie ein. Manchmal laufe ich gleich an die Spitze und baue den Vorsprung weiter aus. Einmal hatte ich die falschen Schuhe an. Da ging ich baden. Sprintschuhe eignen sich nicht für längere Strecken. Jedenfalls ist der Koffer vergessen und verziehen. Ich werde ihn nie wieder nutzen. Kommen wir zurück zum Schlafanzug. Mehrere Leute sehen mich auf dem Flur komisch an. Einige sind tätowiert. Viele braungebrannt. Bauchmuskeln inklusive. Da gehe ich also an ihnen vorbei. Opa Andreas im Schlafanzug sozusagen. Das ändert sich rasch und ich trage bald ein modisches Design. Ich finde allgemein zurück zur Mode, jedoch nie zu einer Tätowierung. Soweit geht die Freundschaft nicht. Die ersten Tage fühle ich mich alt. Dann verjünge ich mich. In allem. Das macht die Umgebung. Zu Hause ist meine Frau mit meinem Sohn allein. Ich muss die Ausbildung zu Ende bringen. Ich will, dass mein Sohn in Würde aufwachsen kann. Im Osten regiert die Arbeitslosigkeit und die Angst. Alles ist beerdigt worden und es gibt keine Sicherheit mehr. Du willst nicht, du weigerst dich? Tschüß, Ossi. Geh zum Amt. Viele haben ihren sechsten oder siebten Job durch. Keiner fragt mehr, ob oder wo man arbeitet. Man will niemanden verletzen. Also muss ich durchhalten. Die Zwischenprüfungen bei der Ausbildung sind zu Ende. Es kommen einige Monate im Praktikum. Dieses ist zu Hause. Ich werde also, abgesehen vom Schichtdienst, bei meiner Familie sein. Auf der Polizeidienststelle werde ich einem älteren Kollegen zugeteilt. Dieser kommt mir komisch vor. Er ist ungefähr 50 Jahre alt, mittelgroß, unscheinbar grau in allem. Es fehlt ihm irgendwie an Größe. An charakterlicher Größe. Ich bin sehr wachsam. Als er in der Nacht mal austreten muss, steht er direkt unter einer blinkenden Alarmanlage, die noch optisch einen möglichen Einbruch anzeigt. Ich zeige ihm dies, woraufhin er sofort einsteigt und weiterfährt. Ich bin sprachlos. Fassungslos. Dann kontrollieren wir dort doch. Es ist kein Einbruch feststellbar. Nach meiner zehnten Verkehrsunfallanzeige nehmen mich die Kollegen zur Seite und erklären mir, dass mein Kollege aus dem KFZ-Bereich der ehemaligen Volkspolizei übernommen worden sei und auf der Unfähigkeitsliste dieser Wache uneinholbar führe. Er ist also kein Polizist. Eigentlich. Nach zwei weiteren Tagen mit ihm gebe ich auf und erkläre dem Schichtleiter, dass ich mit diesem Kollegen nicht mehr fahren kann, weil er einfach unfähig ist. Er bleibt im Wagen sitzen, als ein Fahrzeugführer uns in der Einbahnstraße entgegenkommt und ich diesem kontrollieren will. Er tut nichts. Er hilft nicht. Ich steige also zu einem anderen Kollegen auf den Wagen. Dessen Partner muss nun diesen anderen Kollegen begleiten. Entschuldigung. Der Neue ist ein Profi, endlich! Er ist 55 Jahre alt und sein ganzes Berufsleben schon auf Streife. Er muss so 1,65 m groß sein und hat schwarze Haare. Er trinkt gerne Alkohol. Nach vielen Jahren dieses Genusses sieht man es im Gesicht. Seine Haut ist aufgedunsen. Er hat grobporige Haut rechts und links seiner Nase und ist sehr faltig. Das ist aber seine Sache. Im Dienst ist er nüchtern, seine Kollegen schätzen ihn. Es freut mich, dass er mich mag. Ich fühle es. Das Praktikum geht in den verschneiten Winter hinein. Als ich nachts mit ihm stadtauswärts zum Klinikum fahre, erkläre ich ihm folgende Situation: wer uns jetzt mit verschneitem Dach und kalter Motorhaube entgegenkommt, der ist nur mal kurz zur dortigen Tankstelle nach Zigaretten und Alkohol gefahren und betrunken. Der kommt also mit uns aus der Stadt und ist nur kurz zur Tanke gefahren, um später zu seinen Leuten zurückzukehren. Kaum spreche ich es aus, kommt uns genau so ein PKW entgegen. Hektik, schnelles Wenden. Wir halten das KFZ an, ich renne zur Fahrertür und reiße sie auf. Der Fahrer ist so perplex, dass er mich mit leerem Blick ansieht. Auf der Beifahrerseite liegen zwei Flaschen Schnaps. Korn. Er selbst hat den Alkohol bis knapp unter seine Pupillen gebunkert. Jedenfalls scheint der Alkohol in seinen Augen zu schwimmen. Es folgt eine unglaubliche Serie an festgestellten Alkoholfahrten in diesen Tagen. In wenigen Schichten führen mein Kollege und ich in diesem Bereich. Wer betrunken ist, der hat eine verzögerte Informationsverarbeitung. Er bremst zwischen durch, wo andere einfach fahren oder fährt da zu schnell, wo andere bremsen. Wer diese kleinen Fehler erkennen kann, der sieht so etwas ganz leicht. Dadurch kommt es eben auch zu diesen Verkehrsunfällen. Mein Kollege ist respektvoll, freundlich und reflektiert. Eine Wohltat. Als er sich nachts an einem Kontrollpunkt auf der Beifahrerseite zum geöffneten Seitenfenster hin eine Zigarette anzünden will, stiere ich ungläubig auf die vierhundert Meter einsehbare Straße vor uns. Dort fährt ein PKW in ausufernden Schlangenlinien auf uns zu. Das Feuerzeug brennt lange in der Hand meines Kollegen. Seine Zigarette hat er nicht angezündet. Es herrscht Stille in unserem Fahrzeug. Wir halten den Fahrer an. Als wir seine Fahrertür öffnen, fällt er aus seinem Fahrzeug. Er hat Glück, denn sein Sicherheitsgurt hält ihn. Immerhin hat er sich angeschnallt. Der Betrunkene ist 40 Jahre alt. Verheiratet. Vater zweier Kinder. Er hätte sterben können, denn er fuhr auf eine große Hauptstraße zu, auf der nachts schnell gefahren wird. Gerade nachts, dann sind die Straßen frei und die Leute können rasen. Bei uns hat sich aber noch nie jemand bedankt, dass wir ihn vor solchen Unglücken bewahrt haben. Auch nie eine Ehefrau. Wir sind die Bullen, die Idioten. Leute, die nichts anderes zu tun haben als unschuldige, betrunkene Fahrer aus dem Verkehr zu ziehen. Es folgen Einsätze zu Schlägereien und Ruhestörungen. Nachts entfällt offenbar die soziale Kontrolle. Es sind die merkwürdigsten Gestalten unterwegs. Mein Kollege muss mal austreten und wir halten an einem Waldstück innerhalb der Stadt. Er geht um 3 Uhr nachts 5 Meter hinein und ich höre einen erstaunten Laut von ihm. Ich renne zu ihm und sehe dort einen fremden Mann mit einem Fahrrad. Der Mann erklärt uns, dass er nachts nicht schlafen könne und deshalb mit dem Fahrrad unterwegs sei. Im Wald? Wir bekommen keine vernünftige Antwort und überprüfen seine Personalien. Er ist polizeilich unbekannt und wir fahren weiter. Mein Kollege hat offenbar inzwischen Schmerzen und wir fahren zu einem anderen Waldstück, damit er diese los wird und seine Blase endlich entleeren kann. Eine Schlägerei wird gemeldet und wir fahren mir Blaulicht und Sirene dorthin, nehmen einen der Schläger bei uns im Fahrzeug mit. Er versucht mir ins Gesicht zu spucken. Ich bin sehr schnell und kann seinen Kopf nach oben drücken. Trotzdem läuft mir sein Speichel über meine rechte Hand. Er lacht und ich habe mich an die Gesetze zu halten. Ich werde, wie bei fast allen Nachtschichten, beleidigt und sei doof, ein Trottel, ein Arschloch und Idiot. Als erstes habe ich von meinen Kollegen gelernt, dass Anzeigen wegen Beleidigungen nichts bringen. Einige Kollegen sind mit ihrer privaten Rechtsschutzversicherung gegen einige Schläger und Beleidigungen vorgegangen. Tage später verhöhnt mich ein Jugendlicher vor seiner Freundin an der Tankstelle. Er macht sich über meine blanken Schulterstücke lustig und über die Uniform. Dann will er persönlich werden, aber die Mitarbeiterin der Tankstelle verwarnt ihn. Der Bürger ist so frei uns zu verhöhnen. Das ist mir nie zuvor passiert. Ich frage mich, woher dieser Mut kommt. Oder das vermeintliche Recht. Das muss wohl die Freiheit sein, von welcher alle so begeistert sind. Wer mitten in der Woche und nachts betrunken in der Tankstelle steht, der ist vielleicht auch von Arbeitsverpflichtungen befreit. Damit keine Missverständnisse aufkommen. Ich bin für die Freiheit und habe für diese früh in meiner Stadt gekämpft. Aber sie verlangt Verantwortung.

Ich ahne langsam, dass ich als Polizist nichts wert bin. Solange keiner unsere Hilfe braucht oder kein Opfer ist. Am nächsten Tag will ein Unfallzeuge unsere Aufzeichnungen sehen. Ich frage ihn, was er dadurch erkennen will. Er bezweifelt, dass wir überhaupt schreiben können und lacht über seine Genialität mehrere Minuten lang. Die Scheidungsrate bei Polizisten ist hoch und irgendwann gibt die Psyche nach. Ich höre seit Wochen Beleidigungen, Verhöhnungen und wurde bereits dreimal körperlich angegriffen. Nun befinde ich mich wohl im Krieg, denn es gibt eine gegnerische Front: den Bürger.

Das Praktikum geht zu Ende. Ich weiß jetzt, dass ich beruflich ein Abschaum bin. Die Bürger scheinen sich darüber einig zu sein. Einzig die Alten sind überwiegend sachlich und respektvoll sowie höflich. Das ehrt sie.

Ich muss mich wieder von meiner Frau und meinem Sohn verabschieden. Es wird noch ein Jahr dauern, bis ich wieder ganz zu Hause sein kann. Die Monate vergehen und mit ihr viele bestandene Prüfungen. Selbst den Führerschein müssen wir noch einmal machen, damit wir die Berechtigung zum Führen von Dienstfahrzeugen erhalten. Na gut. Auch das noch.

Im Jahr 2000 habe ich den Abschluss. Strafrecht machte mir sehr viel Spaß, aber der Ausbilder war zwangsverpflichtet und wusste im Grunde nicht sehr viel. Wenigstens war er sehr nett, also eine Ausnahme. Aber nicht die Einzige. Kurzum: bestanden und ich kann jetzt meine Familie ernähren. Meine Frau? Sie wurde, nachdem sie einer Kollegin von ihrer Schwangerschaft erzählte, sofort von ihrer Chefin entlassen. Kündigungsschutz gab es 1995 im Osten nicht. Also musste ich es schaffen. Erstmal alleine. Mit Wut und Verzweiflung in der Seele. Was ist Freiheit ohne Einkommen, ohne Geld und Macht? Viele haben sich tot gesoffen oder sind allein in einer Hochhauswohnung gestorben. Nun zählt allein das Geld. Nur das. Sonst nichts mehr. Die ersten Freunde nehmen Kredite auf, um zu reisen oder sich einen PKW zu kaufen. Die ersten Schuldzinsen entstehen so. Abhängigkeit entsteht, die viele später in den finanziellen Ruin treiben wird. Meine Frau und ich sind da sehr vorsichtig. Wir haben ungefähr 400 Vertreter der seriösen Banken-und Versicherungswirtschaft an der Wohnungstür abgewimmelt. Einer ging am Sonnabend Mittag gleich durch ins Wohnzimmer. Ich habe ihn rausgeschmissen. Das ging bis ungefähr zum Jahr 2000 so weiter. Der Ossi hat also den Wessi gleich in seiner Haupteigenschaft kennengelernt. Beim Geldverdienen. Gerne im Osten, wo der Mensch noch vertraut, noch glaubt. Noch hofft. Und unterschreibt. Selbst innerhalb der Familien kam der West-Onkel gerne mal mit einem Versicherungsvertrag um die Ecke. Die Familie zählt eben. Also Geld.

Ich sprach eingangs vom „Staat im Staate“. Nun, ich sehe ein eigenes Gebiet jeweils in den Wachen, Stationen und Behörden. Die Polizisten bilden das Volk und die jeweiligen Polizeiführer und deren unreflektierte Paladine stehen für die Regierungsgewalt. Es gibt erst in den letzten wenigen Jahren überhaupt Quereinsteiger bei der Polizei. Viele bei der Internetkriminalität. Überwiegend schwimmen alle in einer Suppe und darin schwimmen sie bis in alle Ewigkeit.

Der Einstieg

Nach der Ausbildung komme ich zur Bereitschaftspolizei. In den Funkbereich. Am ersten Tag hält mir der Leiter eine vierstündige Rede. Er ist klein und sieht komisch aus. Ich bin geschafft. Sein Stellvertreter übertrumpft ihn. Als ich mit ihm auf eine Tagesdienstreise muss, spricht er den ganzen Tag allein. Die Reise dauert 9 Stunden. Die Wochen vergehen, ohne dass sich etwas tut. Ich habe keine Aufgabe. Es ist erstaunlich, wie lange ältere Kollegen eine bekannte Tageszeitung lesen können. Mir kommen Zweifel, was ich machen soll. Deshalb besorge ich mir dienstliche Lektüre und vertiefe mich wochenlang in Gerichtsurteile und deren Auslegungen. Es folgt ein Castor-Einsatz, also es geht um ein Atommüllendlager. Manche sagen auch Zwischenlager. Keiner weiß es ganz genau. Jedenfalls wollen die Anwohner diesen radioaktiven Müll nicht haben und kämpfen dagegen. Mitten in der Nacht sitze ich in einem großen Funkwagen. An einer Waldkante. Die Funkmasten sind oben und ich überwache den Funkverkehr, als ich von Fenster aus mehrere Personen am LKW vorbeigehen sehe. Ich bin alleine. Es sind Anwohner oder Randalierer oder beides. Jedenfalls keine Polizisten. Einige haben Tücher vor ihrem Gesicht. Sollte es zur Konfrontation mit mir kommen, dann werde ich ihnen die Schlüssel aushändigen für den LKW. Ich werde nicht schießen, werde aber freies Geleit fordern. Es hat keinen Sinn zu kämpfen. Auf ein Übergabeprotokoll werde ich verzichten müssen. Also fordere ich lieber über Funk eine Sicherungsgruppe der Polizei an. Sie kommen auch. Ich bin wichtig und für den Funkverkehr einiger tausend Kollegen mit verantwortlich. Es geht alles gut. Die Blitze in der Gegend sind übrigens keine Gewitter. Gegner der Atomrückstände, nicht des Atomstroms vermutlich, beschädigen die elektrischen Oberleitungen. Dabei kommt es zu Überladungen, welche als blaue Blitze sichtbar sind.

Einige kleinere Tageseinsätze gibt es noch zu Hause. An einem Wochenende rücken wir tatsächlich mit schwerer Schutzausrüstung aus zu einer Nachtschicht aus. Die älteren dicken Männer machen den Ninja-Turtel. Sie sind sehr aufgeregt. In ihrer Lieblingszeitung steht nicht, was sie machen oder wie sie sich verhalten sollen. Nun sind sie auf sich allein gestellt. Einsam und ruhelos. Wir werden über Funk zu einer Schlägerei gerufen. Auf die Festwiese eines Dorfes. Am Ende der Welt und noch ein kleines Stück weiter. Selbst Fuchs und Hase, die sich ja bekanntlich in solchen Gegenden eine Gute Nacht wünschen, wie es heißt, findet man hier vergebens. Es ist eine dieser national befreiten Zonen. Hier herrscht Adolf. Hier herrscht noch die gute alte Zeit. Alle drei Einsatzfahrzeuge fahren hintereinander auf diese Wiese. Wir werden sofort mit Bierflaschen und Baseballschlägern angegriffen. Mehrere Scheinwerfer werden eingeschlagen, eine Frontscheibe geht zu Bruch. Jemand steigt auf unser Autodach. Ich sehe in die wutverzerrten Gesichter dieser Typen und muss lachen. Ich lache sie an und aus. Wir ziehen uns zurück. Zweihundert Meter. Meine Kollegen sind fertig. Das ist zu viel für sie. Ich sehe die Angst in ihren Augen. Ich habe natürlich auch Angst. Keiner von und weiß, was die nächsten Minuten bringen werden. Niemand von uns will verletzt werden. Wir melden alles der Einsatzleitstelle. Es kommt ein neuer Befehl. Wir müssen erneut hin. Die Personalien sollen festgestellt werden. Es gibt mehrere schwerverletzte Gäste, die von diesen Leuten auf dieser Festwiese angegriffen worden sind. Sicherheitsleute, Frauen, Ehemänner. Der Bürgermeister liegt auch im Krankenhaus. Wir besprechen uns kurz. Die Meute kommt schon auf uns zu. Wir werden 4 oder 5 Rechtsextremisten aus der Masse ziehen und mitnehmen. Die Gesetzeslage lässt dies zu. Ich kläre meine Kollegen kurz über die Rechtslage auf. Landfriedensbruch und so. Wir haben keine Zeit mehr und 4 Frauen auf unserer Seite mit dabei. Auch sie werden jetzt ihren Mann stehen, denn heute Nacht müssen sie wie Männer sein. Es geht um einen physischen Kampf. Es ist stockdunkel, wir schieben unsere Taschenlampen im Schulterbereich unter die Sicherheitsweste. Jetzt können wir sehen. Die Angreifer sehen uns damit jetzt nicht so gut, denn sie werden leicht geblendet. Die Funkgeräte schnarren und stören uns in der Konzentration. Da sind sie nun also. Wir stehen mit 20 Polizisten in einer langen Linie zu ihnen. Ungefähr 5 Schritt Abstand nebeneinander. Es müssen 50 oder 60 rechte Schläger sein. Ich höre über Funk, dass gestern Abend an gleicher Stelle ein Kollege schwer verletzt worden ist. Ich rate, wer die Täter sind und brauche nicht lange zu überlegen. Rechts von mir höre ich Schreie. Es ist surreal. Mitten am Ende der Welt, im Nebel und bei Dunkelheit ziehen meine Kollegen einen Rechten aus der Masse. Damit fallen 5 Kollegen aus. Es bleiben 15 übrig. Ich schaue nach links und erschrecke. Der nächste Kollege ist über 30 Meter weit entfernt. Auch dort wird gekämpft. Ich schätze, dass wir noch 6 oder 7 Polizisten in der Linie sind. Die anderen kämpfen. Mittlerweile stehe ich so ziemlich alleine auf der Wiese. Bis auf die Tatsache, dass mich so 25 Rechte aus 8 Metern Entfernung angrinsen und langsam näher kommen. Ich verstehe die Taktik. Sie werden jetzt ganz friedlich so nahe zu mir kommen, bis sie mich gefahrlos schlagen können. Bis meine Schusswaffe nutzlos ist, weil ich sie nicht mehr ziehen kann. Meine Kollegen können ihre Pistole gar nicht ziehen, weil die alte Schutzweste über dem Holster hängt. Die Ausrüstung ist zusammengewürfelt. Sie kommen nicht heran und können mir im Grunde auch gar nicht mehr helfen. Beim zweiten Anlauf auf diese Bande habe ich meine Pistole herausgeholt und sie vor meiner Brust in ein kleinere Tasche gesteckt und mit einem Band, mit einer Leine, gesichert. Jetzt also sind sie noch 7 Meter von mir entfernt. Alles Männer, ungefähr 25 Jahre alt. Einige von ihnen sind um die 1,90 m groß. Sie sehen kampferfahren aus. Ich stehe alleine. Funken brauche ich nicht, wer sollte mir helfen können? Jetzt? Ich schreie die Meute an. Sie sollen stehenbleiben. Sie müssen alle taub sein, denn sie gehen weiterhin auf mich zu. Alle. Der Abstand beträgt nur noch 4 Meter. Ich ziehe die Waffe und lade sie durch. Viele Jahre später werden wir die Waffen bereits geladen, oder unterladen, haben. Heute Nacht ist das nicht der Fall. Ich halte die Waffe in Richtung dieser Schläger und ziele auf ihre Schuhe. Ich bin körperlich absolut fit, ich bin ausgesprochen entschlossen und wild genug, diese Entschlossenheit auch umzusetzen. Ich schreie deutlich, dass der nächste Schritt in meine Richtung mit einem gezielten Schuss beantwortet werden wird. Das meine ich auch so, ich werde schießen. Ich will leben. 4 oder 5 von ihnen werde ich schaffen. Dann wird man sehen. Dann kommt es darauf an. Meine Kollegen rufen mich. Ich soll zu den Fahrzeugen kommen. Sie haben einige von denen eingesackt und wollen los. Helfen kann mir wohl keiner, weil sie mehr oder weniger auf diesen Verrückten liegen und sie festhalten. Mein Lichtkegel der Taschenlampe ist nach vorne gerichtet und wird größtenteils von der Tarnkleidung der Angreifer absorbiert. Sie wissen also nicht, wo ich genau bin. Die Fahrzeuge wurden bereits einige Meter vom Schlachtfeld weggefahren. Ich bin 350 Meter von diesen entfernt. Hören kann ich meine Kollegen aber noch. In der Nacht trägt die Stimme weit. Funken kann ich jetzt nicht. Ich habe beide Hände an der Pistole. Was nun? Die Rechtsradikalen oder Extremisten scheinen verblüfft. Sie bleiben stehen. Wer will den ersten Schuss abbekommen? Keiner traut sich. Ich kann mich nicht bewegen, weil ich nicht stolpern darf. Das wäre für mich zwar recht ungewöhnlich, aber ich bedenke es. Zur Sicherheit. Sie geben sich plötzlich friedlich. Einige gehen zur Seite weg und verabschieden sich wortlos von mir. 15 von ihnen bleiben aber. Das muss der harte Kern sein. Als einer von denen einen Ansatz macht auf mich zuzugehen, lege ich Druck auf den Abzugshebel der Pistole. Der Typ schreckt zurück. Er hat wohl gesehen, dass ich sein Bein mit meinen Augen fixiert haben. Sie gehen. Sie gehen alle ihren deutschen Kameraden nach. Ich gehe mit der Waffe in der Hand zu den Dienstfahrzeugen zurück, entspanne die Waffe und sichere sie damit. Ich behalte sie in der Hand, als ich in meinen Dienstwagen hinten einsteige. Ich werde sie später wortlos in mein Holster stecken. Meine Kollegen sehen es, aber sie fragen nicht weiter. Wir fahren zu nächsten Dienststelle und lassen von den Rechten Blutproben entnehmen. Sonst sagen sie morgen, dass sie sich an nichts mehr erinnern können und absolut betrunken waren. Es wird, wie immer, eine sehr schwierige Beweisführung werden. Viel Hoffnung habe ich nicht. Die Streifenpolizisten übernehmen jetzt alles. Wir selbst sind fertig und fahren zur Dienststelle zurück. Ich habe Mitleid mit meinen alten Kollegen. Ihre Kinder sind erwachsen. Die Enkel lernen gerade laufen und sie müssen sich nachts mit Vollidioten herumprügeln. So ist das eben. So ist die Welt, wie sie nicht jeden gefällt. Meiner Frau werde ich das nicht erzählen. Nein.

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