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6. Top-down- und Bottom-up-Ansätze als sich ergänzende Komponenten eines Früherkennungssystems

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Der wesentliche Nachteil der Bottom-up-Ansätze – sowohl der operativen als auch der strategischen Ansätze – liegt in ihrer subjektiven und u.U. nicht vollständigen Erfassung der existenzbedrohenden Risiken eines Unternehmens. Bottom-up-Ansätze – für sich separat betrachtet – erfüllen nicht die an ein Krisenfrüherkennungssystem gestellten Anforderungen der Objektivität und Ganzheitlichkeit. Diese Anforderungen lassen sich aber mit den modernen Verfahren der Jahresabschlussanalyse Top-down-Ansätzen erfüllen, denn mit ihnen kann ein objektives Gesamturteil über die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens gebildet werden.

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Die Bilanzbonitätsratings bedürfen allerdings der zusätzlichen Berücksichtigung der Negativmerkmale. Die sich aus den Negativmerkmalen ergebenden Risiken werden aber gerade durch die Bottom-up-Ansätze erfasst und bewertet. Ein Bottom-up-Ansatz kann diese Lücke in der Informationsauswertung der Top-down-Ansätze schließen. Top-down-Ansatz und Bottom-up-Ansatz ergänzen sich also in idealer Weise.

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Das Ergebnis zeigt, dass sich Bottom-up- und Top-down-Ansatz nicht ausschließen, sondern sie sind die unbedingt zusammengehörenden Komponenten jedes Krisenfrühwarnsystems.

V. Auswirkungen der Krise

1. Überblick

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In einem Unternehmen reduziert sich mit einer Verschärfung einer Krise die für die Abwehr der Krisenursachen verbleibende Zeit. Entscheidungen müssen unter Zeitdruck getroffen werden. Solche Entscheidungen werden oft mit einer schwächeren Informationsbasis begründet, weil für eine hinreichende Informationsbeschaffung Zeit und Ressourcen fehlen. Hierdurch steigt die Gefahr von Fehlentscheidungen. Außerdem nimmt der Handlungsspielraum der Unternehmensleitung mit dem Krisenverlauf ab (vgl. Rn. 17).

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In der Krise verändert sich die Zielsetzung des Unternehmens. Häufig werden riskantere, aber angeblich rentablere Entscheidungsalternativen realisiert, um das oben genannte erste finanzielle Ziel „Geld verdienen“ wieder zu realisieren. Auf diese Weise wird versucht, bereits eingetretene Verluste durch erhoffte höhere Erträge aus riskanteren Geschäften auszugleichen. Mit diesem Streben nach höherer Rentabilität wird aber – aufgrund des höheren Risikos – das zweite finanzielle Ziel, „die Verdienstquelle zu sichern“, erheblich beeinträchtigt. Tatsächlich sollte sich das Unternehmen vor allem darum bemühen, eine Überschuldung bzw. eine Illiquidität abzuwenden, um das Überleben des Unternehmens kurzfristig zu sichern. In einer solchen Lage lässt sich indes das ursprünglich gesetzte finanzielle Ziel des „Geldverdienens“ zumindest vorübergehend nicht weiterverfolgen.

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Um eine (drohende) Überschuldung abzuwenden, konzentrieren sich kriselnde Unternehmen vor allem auf die Kostenreduktion. Kosten lassen sich – anders als Erlöse – durch das Unternehmen stärker und schneller beeinflussen. Allerdings werden dabei oft überlebenswichtige Forschungs- und Entwicklungs- aber auch Marketing- und Personalqualifikationsaufwendungen reduziert oder gänzlich eingespart, was relativ kurzfristig Ertragsminderungen zur Folge hat.

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Zur Sicherung der Liquidität versuchen kriselnde Unternehmen, Einnahmen vorzuziehen und Ausgaben zeitlich nach hinten zu verschieben (liquiditätspolitische Maßnahmen). Durch den Verkauf von Vermögen bzw. von Segmenten können liquide Mittel generiert werden. Indem Investitionen unterlassen bzw. verschoben werden oder desinvestiert wird oder Instandhaltungsmaßnahmen auf ein Minimum reduziert werden, lässt sich die Zahlungsfähigkeit kurzfristig verbessern. Diese Maßnahmen sind vor allem geeignet, die kurzfristige Liquiditätslage des Unternehmens zu verbessern. Sie laufen indes dem zweiten Unternehmensziel „Geld verdienen“ regelmäßig zuwider und sind daher mittel- bis langfristig oft nachteilig für das Unternehmen, z.B. wenn infolge von Investitionsstopps die künftigen Kundenwünsche nicht (mehr) befriedigt werden können.[162]

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In den Rn. 11–81 wurde deutlich, dass eine Krise ein Prozess ist, der in der Regel durch eine Vielzahl von Ursachen ausgelöst wird. Diese Ursachen können einander verstärken bzw. weitere Krisenursachen auslösen (mehrstufige Ursache-Wirkungsbeziehungen). Aus diesem Grund stellen die Auswirkungen einer (beginnenden) Krise in der Regel gleichzeitig Ursachen der (sich verschlimmernden) Krise dar.

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In Kapitel 4 wurde zunächst dargelegt, dass Unternehmertum ohne Risiko undenkbar ist, da das Ergreifen einer Chance immer zugleich bedeutet, dass Risiken eingegangen werden. Unternehmen befinden sich daher auch in guten Zeiten stets in einer potenziellen Krise (vgl. Rn. 26). Ein Unternehmen sollte daher nicht danach streben, jegliche Risiken zu minimieren, vielmehr muss es versuchen, sein Chancen-Risiken-Profil, also das Verhältnis von ergriffenen Chancen zu den damit verbundenen Risiken, zu optimieren. Hieraus ergibt sich das Erfordernis eines angemessenen Risikomanagements im Unternehmen.

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Dem von Ludwig Erhard geäußerten Ausspruch „Wirtschaft ist zur Hälfte Psychologie“ folgend, werden im Folgenden zwischenmenschliche, „weiche“ Auswirkungen der Krise im Unternehmen fokussiert. Hierbei wird zunächst die Bedeutung der Unternehmenskultur für die Krisenfrüherkennung betrachtet, des Weiteren werden die Auswirkungen einer Krise auf die Unternehmenskultur erläutert. Schließlich wird die Gefahr verdeutlicht, dass eine Krise infolge verzerrter Wahrnehmungen der tatsächlichen Unternehmenslage zu einer „self-fulfilling prophecy“ werden kann.

2. Unternehmenskultur und Unternehmenskrise

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Ein Risikofrüherkennungssystem unterstützt die Leitungsfunktion des Top-Managements eines Unternehmens umso besser, je stärker die Mitarbeiter für die Risiken, die mit den wahrzunehmenden Chancen in Zusammenhang stehen, sensibilisiert werden und sie die für die Steuerung der Risiken vorgeplanten Prozesse anstoßen. Denn je eher ein Risiko, auf welcher Hierarchieebene bzw. in welcher Abteilung auch immer, identifiziert wird, desto mehr Zeit verbleibt der Unternehmensleitung, auf dieses Risiko zu reagieren.[163] Die Unternehmenskultur spielt einerseits bei der Krisenfrüherkennung eine bedeutende Rolle, andererseits kann die Unternehmenskultur, sofern sie im Verlauf einer bestandsgefährdenden Krise geschädigt wird, die Krise verstärken.

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Jedes Unternehmen hat eine Unternehmenskultur.[164] Der Begriff der „Unternehmenskultur“ ist definiert als ein dynamisches Gefüge aus von den Mitarbeitern geteilten Werten, Normen und Überzeugungen, das über einen längeren Zeitraum gewachsen ist und das Verhalten des Kollektivs aller Mitarbeiter des Unternehmens in eine bestimmte Richtung lenkt.

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Eine Unternehmenskultur, die von allen Mitarbeitern geteilt wird, wird als „stark“ bezeichnet. Im gegenteiligen Fall, in dem von den verschiedenen Mitarbeitern unterschiedliche Werte, Normen und Überzeugungen vertreten werden, handelt es sich um eine „schwache“ Unternehmenskultur.

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In empirischen Studien konnten die folgenden fünf Funktionen einer starken Unternehmenskultur identifiziert werden, die den Erfolg eines Unternehmens unabhängig von dessen Branchenzugehörigkeit, Marktposition oder Größe positiv beeinflussen.[165]


1. Motivation/Zufriedenheit: Die Unternehmenskultur fördert die Bereitschaft der (zufriedenen) Mitarbeiter, eigeninitiativ zu arbeiten und sich für das Unternehmen zu engagieren. Sie fühlen sich gegenüber dem Unternehmen „verpflichtet“, auf dessen Ziele hinzuarbeiten.
2. Integration: Neue Mitarbeiter werden in bestehende Teams integriert; die Mitarbeiter entwickeln ein „Wir-Gefühl“.
3. Identifikation: Die Mitarbeiter identifizieren sich mit dem Unternehmen und den Unternehmenszielen.
4. Koordination/Kommunikation: Bei wiederkehrenden Problemen und Herausforderungen koordinieren sich die Mitarbeiter „automatisch“, da jeder Mitarbeiter die Anforderungen und Grenzen seines Handlungsspielraums kennt. Die Orientierung an den (verinnerlichten) Organisationszielen vereinfacht die Abstimmungsprozesse innerhalb des Unternehmens.
5. Innovation: Um Produkte und Prozesse zu verbessern, müssen die Mitarbeiter umfassend aus- und weitergebildet werden. Ebenfalls sollten sie ermutigt werden, Produkt- und Prozessverbesserungen vorzuschlagen und umzusetzen.

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Diese fünf Funktionen sind nicht überschneidungsfrei, vielmehr verstärken sie einander. Beispielsweise wird ein Mitarbeiter, der in das Unternehmen integriert ist, sich stärker mit dem Unternehmen identifizieren. Des Weiteren wird ein zufriedener und motivierter Mitarbeiter eher Produkt- und Prozessverbesserungen vorschlagen als ein unzufriedener und unmotivierter Mitarbeiter. Bei einer starken Unternehmenskultur sind diese fünf Funktionen positiv ausgeprägt. Das gleichzeitig hohe Niveau jeder der fünf Funktionen führt dazu, dass die Arbeitsprozesse im Unternehmen reibungsloser ablaufen, dass zielgerichtet gearbeitet wird, dass Kunden einwandfrei bedient werden und so eine hohe Kundenbindung aufgebaut wird. Hierdurch wird der Unternehmenserfolg positiv beeinflusst. Eine schwache Unternehmenskultur hingegen beeinflusst den Unternehmenserfolg negativ.[166]

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Eine starke Unternehmenskultur ist ein wesentlicher Faktor für ein optimal funktionierendes Krisenfrüherkennungsinstrument. Motivierte und zufriedene Mitarbeiter identifizieren sich mit „ihrem“ Unternehmen. In diesem Fall wirkt die Unternehmenskultur wie ein „psychologischer Arbeitsvertrag.“[167] Da das Unternehmen für die motivierten und zufriedenen Mitarbeiter mehr ist als nur ein Arbeitgeber, engagieren sich diese Mitarbeiter stärker für ihr Unternehmen. Sofern diesen Mitarbeitern potenziell krisenverursachende Sachverhalte bekanntwerden, werden sie diese Sachverhalte umgehend weitergeben und so den Risikomanagementprozess (vgl. Rn. 99) anstoßen. Sehr gut integrierte Mitarbeiter kennen ihre jeweiligen Ansprechpartner, hierdurch wird die Kommunikation der potenziellen Krisenursache sowie die Koordination der einzuleitenden Gegenmaßnahmen erheblich erleichtert. Bei einer schwachen Unternehmenskultur sind die genannten Unternehmenskulturfunktionen schwach ausgeprägt, sodass Krisen tendenziell später erkannt werden und der Unternehmensleitung somit weniger Spielräume bleiben, um die Krise abzuwenden.

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Eine starke Unternehmenskultur trägt zwar erheblich zum Funktionieren eines Krisenfrüherkennungssystems bei, allerdings wird das dynamische Gefüge Unternehmenskultur (vgl. Rn. 240) durch eine Krise negativ beeinflusst. In der Krise müssen alle Mitarbeiter des Unternehmens unter erhöhtem Zeitdruck arbeiten (vgl. Rn. 232). Gleichzeitig ist das Unternehmen gezwungen, Aufwendungen zu verringern (vgl. Rn. 233–235). Insoweit wird eine (fortgeschrittene) Unternehmenskrise nicht selten dazu führen, dass die Unternehmenskultur des Unternehmens negativ beeinflusst wird, wodurch der Erfüllungsgrad der Unternehmenskultur-Funktionen (vgl. Rn. 242) abnimmt. Eine Verschlechterung der Unternehmenskultur beeinflusst den Unternehmenserfolg negativ und verstärkt so die Krise.

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Durch den Zeitdruck und den Zwang, Aufwendungen zu kürzen, wird der Umgangston im Unternehmen rauer. Die Mitarbeiter stehen unter Druck und sorgen sich um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes. Infolgedessen werden sie nicht selten unzufriedener und unmotivierter.

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Die Sorgen um die Sicherheit des Arbeitsplatzes fördern ein Ellenbogen-Verhalten der Mitarbeiter. Dies führt zu einer Desintegration innerhalb des Unternehmens. Ein zuvor bestehendes Wir-Gefühl wird zumindest gestört, ggf. zerstört.

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Aufgrund der erhöhten Unzufriedenheit nimmt die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen ab. Auch die Identifikation mit den Unternehmenszielen schwindet, da die strategischen Unternehmensziele, mit denen sich die Mitarbeiter ursprünglich identifiziert hatten, aufgegeben werden müssen zugunsten der kurzfristig dringlicheren Existenzsicherung des Unternehmens. Die von der Unternehmensleitung zur Existenzsicherung ergriffenen Mittel und Maßnahmen entsprechen möglicherweise in keiner Weise den Werthaltungen der Mitarbeiter.

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Eine existenzbedrohende Unternehmenskrise stellt im Unternehmenslebenszyklus eine außergewöhnliche Situation dar. Es handelt sich daher nicht um ein wiederkehrendes Problem, bei dessen Lösung sich die Mitarbeiter „automatisch“ koordinieren (vgl. Rn. 242). Vielmehr werden in der Krise Handlungsspielräume der Mitarbeiter häufig infolge des Zwangs, Aufwendungen zu kürzen, eingeschränkt. Selbst kleine Ausgaben müssen in solchen Krisensituationen durch die Unternehmensleitung genehmigt werden. Hierdurch wird der Abstimmungsbedarf innerhalb des Unternehmens und somit die allgemeine Komplexität des Unternehmens erhöht, wodurch der Erfüllungsgrad der Funktion „Koordination/Kommunikation“ abnimmt.

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Da die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen abnimmt, nimmt auch deren Bereitschaft, Produkt- und Prozessverbesserungen vorzuschlagen, ab. Diese Verbesserungsvorschläge sind aufgrund der erforderlichen Verringerung des Aufwands in der Regel von der Unternehmensleitung ohnehin unerwünscht. Die Innovationskraft, die maßgeblich für den künftigen Unternehmenserfolg ist, sinkt.

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Die Verschlechterung der Unternehmenskultur sowie die Verschlechterung der Zielerreichungsgrade der genannten fünf Unternehmenskulturfunktionen beeinflussen den Unternehmenserfolg negativ und verstärken so die Krise. Die Krise und die dadurch verschlechterte Unternehmenskultur führen in vielen Fällen dazu, dass sich die Mitarbeiter um andere Arbeitsplätze bemühen. Vor allem den hervorragenden Mitarbeitern wird es leicht fallen, einen neuen Arbeitgeber zu finden. Selbst wenn es gelingt, die Krise abzuwenden, besteht die Gefahr, dass das Unternehmen mittelfristig wieder in eine bestandsgefährdende Krise gerät, da wichtige Know-how-Träger das Unternehmen in der Krise verlassen haben.

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An dieser Stelle mag der Leser den Eindruck gewinnen, dass eine Krise nur destruktive Auswirkungen auf das Unternehmen hat. Eine Krise kann indes auch konstruktive Auswirkungen haben.

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Ein Unternehmen, das eine Krise erfolgreich abwendet, geht im Regelfall gestärkt aus dem Krisenprozess hervor, wenn die Krisenursachen frühzeitig erkannt wurden und das Unternehmen Gegenmaßnahmen ergreifen konnte. Gegenmaßnahmen bedürfen grundlegender Innovationsentscheidungen bzgl. der Unternehmensstruktur. Innovationen bringen Veränderungen mit sich, gegen die sich Unternehmen – vor allem erfolgreiche Unternehmen – oft stemmen. Unternehmen in der Krise sehen in strukturellen Veränderungen häufig den (letzten) Ausweg aus der Krise. Sie sind daher eher bereit, solche Änderungen umzusetzen.

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Es lässt sich aber beobachten, dass es bisher erfolgsverwöhnten Unternehmen häufig nicht gelingt, sich an geänderte Umweltbedingungen, z.B. geänderte Kundenerwartungen, rechtzeitig anzupassen. Der Grund hierfür ist eine außerordentlich starke Unternehmenskultur, gepaart mit einer sich aus den vergangenen Erfolgen ergebenden Erfolgsarroganz.[168] Ein Management, das lange Zeit mit einem bestimmten Vorgehen erfolgreich war, unterliegt der Gefahr, die Erfolge in der Vergangenheit als eine Selbstverständlichkeit anzusehen und sich wenig beeindruckt von Krisenanzeichen zu zeigen. Diese Situation liegt vor, wenn der Gedanke dominiert „Wir haben das schon immer so gemacht“ und es an Änderungswillen mangelt, wie das folgende Bsp. illustriert.

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(c) Beispiel:

Betrachtet man einen typischen italienischen Traditionsanbieter von Fahrradrahmen in den 80er Jahren, so war dessen Position von einem stabilen Marktanteil gekennzeichnet. Für die Rahmen wurde als Werkstoff vor allem Stahl verwendet. Die Ende der 80er Jahre aufstrebenden US-amerikanischen Anbieter nutzten die Werkstoffe Aluminium, Carbon und Titan. Aufgrund besserer Materialeigenschaften in Bezug auf Gewicht, Steifigkeit, Dämpfung, Verarbeitung etc. war es diesen Anbietern möglich, relativ schnell Marktanteile zu gewinnen. Obwohl die technologischen Möglichkeiten, beispielsweise über Messen, den italienischen Traditionsanbietern bekannt waren, nahmen sie die neuen Werkstoffe erst dann in das Produktprogramm auf, als sie signifikant Marktanteile verloren hatten.[169]

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Mit Blick auf den für ein Unternehmen gefährlichen, oben erläuterten Gedanken „Wir haben das schon immer so gemacht“ ist bei der Reaktion auf Krisenursachen zu beachten, dass gleiche Probleme mit gleichen Mitteln gelöst werden können und müssen, während unterschiedliche Probleme unterschiedliche Lösungen erforderlich machen.

3. Unternehmenskrise als self-fulfilling prophecy

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Schätzen Banken aufgrund ihrer Ratingprozesse die wirtschaftliche Lage eines Unternehmens als schlecht ein, werden sie die Kreditvergabe an dieses Unternehmen an stärkere Auflagen (Financial Covenants)[170] knüpfen oder das Volumen des Kreditgeschäfts mit dem Unternehmen reduzieren oder den zu zahlenden Zinssatz um einen entsprechenden Zuschlag erhöhen. Damit wird dem Unternehmen der Zugang zu neuem Fremdkapital schwierig gemacht. Dies gilt vor allem für deutsche Unternehmen, deren wichtigste Kapitalquelle Banken sind. Werden die finanziellen Mittel des Unternehmens eingeschränkt, wird dieses Unternehmen seine Geschäftstätigkeit einschränken müssen, z.B. könnten Investitionen unterbleiben oder die Forschung und Entwicklung eingeschränkt werden. Dies wiederum wirkt sich möglicherweise negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens aus und die wirtschaftliche Lage des Unternehmens könnte sich real verschlechtern, was sich auch im Jahresabschluss und damit in den Jahresabschlusskennzahlen niederschlagen würde. Die Ratingmeinungen über das Unternehmen würden sich verschlechtern. Ein schlechtes Rating wiederum würde Banken dazu zwingen, die Kreditkonditionen erneut anzupassen (Basel II bzw. III). Die Banken würden dann entweder nicht bereit sein, das höhere Risiko in ihre Bücher zu nehmen oder sie würden einen entsprechend höheren Kreditzinssatz vom Unternehmen verlangen. Bei einem solchen Szenario schließt sich der Kreis und das Unternehmen gerät in eine bestandsgefährdende Krise (vgl. Abb. 19).

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Abb. 19: Unternehmenskrise als self-fulfilling prophecy


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Die Gefahr, dass sich die Identifizierung einer Unternehmenskrise als self-fulfilling prophecy erweisen könnte, macht erforderlich, dass innerhalb des Risikomanagementsystems diejenigen Informationen überwacht werden, die Unternehmensexternen zur Verfügung stehen. Konkret heißt dies, dass der in Rn. 155–228 beschriebene Ansatz der Krisenfrüherkennung mittels Jahresabschlussanalyse, die das wichtigste Krisenfrüherkennungsinstrument für externe Analysten darstellt, auch intern verwendet werden muss. Eine umfangreiche Kapitalmarktkommunikation ist erforderlich: Unternehmen müssen einen Ansprechpartner für die externen Kapitalgeber haben, an den sich die Kapitalgeber wenden können, um etwaige Negativmerkmale sowie deren potenzielle Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage des Unternehmens zu besprechen. Börsennotierte Unternehmen sollten beispielsweise eine Investor Relations Abteilung einrichten, um von der tatsächlichen Unternehmenslage abweichenden und negativen Einschätzungen durch Unternehmensexterne vorzubeugen.[171]