Buch lesen: «Wolken über Taiwan», Seite 3

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Beitou

In Beitou steige ich um nach Xinbeitou, ins »neue Beitou«, bekannt für seine heißen Quellen, ein Museum und einige architektonische Sehenswürdigkeiten. An einem meiner letzten Tage in Taiwan fahre ich hin.

Schon am Bahnhof steht ein historischer Brunnen, der mir wegen seiner bescheidenen Zurückhaltung unter einem Bambusdach auffällt. Im Wasser sehe ich kleine hochkant gestellte Holzlatten, vom Wasser umspült. Neben mir steht ein stämmiger Mann, der genauso ratlos wie ich zu sein scheint. Vielleicht empfindet er das Wasser, in das wir gleichzeitig unsere Finger strecken, als ebenso grenzwertig heiß? Beide verziehen wir aber keine Miene, schauen ins Wasser und unseren Fingern zu. Es tut fast weh, also muss es wohl gesund sein.

Am Bach entlang gehe ich durch einen Park, dahinter Hochhäuser und Wohnblocks, davor zahlreiche luxuriöse und auch ein wenig gräuliche Badehotels. Auf Schildern wird dafür geworben, sich hier stundenweise einzumieten. Etwas Anrüchiges liegt in der Luft, Männer in protzigen Autos lassen Motoren aufheulen, nur wenige Menschen sehe ich auf der Straße.

Vielleicht bin ich auch nur voreingenommen, weil ich zuvor die Geschichte des Badeortes überflogen habe. Die Japaner hatten es sich während ihrer kolonialen Besetzung der Insel von 1885 bis 1945 in Xinbeitou gemütlich gemacht, eine Bahnlinie angelegt, um die heißen Schwefelquellen Hotels errichtet, der Bädertourismus boomte. Und als die neuen Herrscher Ende der fünfziger Jahre vom Festland nach Taiwan flohen, florierte die Prostitution erst recht.

Die Bibliothek am schmalen Beitou-Flüsschen ist so gelegen, dass man sich keinen besseren Ort mehr für eine Bibliothek vorstellen möchte. Der Bau schwingt sich auf drei Etagen in die Höhe und schmiegt sich an den Fluss. Einladend sind die einzelnen Schreibtische oder auch Sitzgruppen aufgestellt, der Raum ist licht, die Atmosphäre entspannt. Das nächste Mal, so träume ich vor mich hin, werde ich hierherkommen, und es würde sich wie von selbst schreiben.

Die weiträumige Tatami-Lounge im Hot Spring Museum wirkt freundlicher als die Museumsangestellten, die mir gleich hinter dem Eingang ein Paar ausgetretene Filzschlappen vor die Füße werfen. Das alte gekachelte Becken im Erdgeschoss, die Kargheit der Badehalle, ausgetretene Fließen, Kuhlen in Brüstungen – die Räumlichkeiten sind so, wie man es von einem Thermalbad erwartet. Dann entdecke ich das Becken für Frauen, es ist winzig klein. Vergeblich suche ich eine Erklärung. Die historischen Erläuterungen auf den kleinen Schildern erschöpfen sich sowieso bald, kein Wunder angesichts der doch nur kurzen hundertjährigen Geschichte des Badeorts.

Die Wenquan-Straße (Straße der heißen Quellen) will ich entlanggehen, weil mir eine Freundin einen Link mit Fotos von verfallenen Häusern geschickt hatte. Ich gehe allerdings in die falsche Richtung, entdecke einen japanischen Tempel, bin ein wenig zu unfreundlich zu einem Mönch, weil der mich auf Englisch ausfragen will. Ich gehe immer weiter die asphaltierte Straße bergaufwärts. Von oben sehe ich Beitou im Sonnenuntergang. Neben mir liegt ein Liebespärchen im struppig-trockenen Rasen. Ist sich selbst nicht genug, denn sie plappern unentwegt in ihre Smartphones und schauen dabei wie ich ins von der Hitze und den Quellen dampfende Tal hinab. Wegen der Moskitos breche ich bald wieder auf, habe mich schon wieder ganz rot gekratzt.

Auf dem Rückweg hinunter in die Stadt sehe ich sie im Dämmerlicht: Fenster wie schwarze Münder, aus denen Büsche wachsen, Tore, kaum mehr zu erkennen unter wildwuchernden Schlingpflanzen, geduckte Häuser, weil Bäume sich darüber breit gemacht haben. Wenn ein Haus lange leer steht, nisten sich Geister ein, habe ich bei Li Ang in ihrer Geisteranthologie Sichtbare Geister gelesen, und wenn Geister in einem Haus wohnen, lassen sich keine neuen Bewohner finden. Leere Häuser sprechen erst recht von den Abwesenden, in der Syntax der Verlassenheit, sie sind wie ein Splitter im Auge des Nachsinnens. Die Ruinen ergeben kein Bild.

Es wird immer dunkler, das Straßenlicht ist spärlich auf dem schmalen Weg. Irgendwann hört er abrupt auf, und ich stehe an einer vielbefahrenen Straße. Auf den Minibus zurück zum Bahnhof verzichte ich, kehre um und nehme denselben Weg wieder zurück. Auf einmal weiße runde Steine zwischen Weg und Bach, sie sehen aus wie Ufos, manche mit Augen. Sie sind aus Marmor. Auf einer Tafel steht: »Wunderliche unsichtbare Wesen leben hier.« Vielleicht im Dampf, der über den heißen Quellen aufsteigt, vielleicht in den verfallenen Häusern? Gleichzeitig dienen die Steine als Hocker und schützen die natürlichen Quellen sowie sämtliche Wesen, die hier leben, wird der Künstler Huang Ching-hui zitiert.

Über dem ganzen Ort liegt ein Geruch nach Schwefel, steigt womöglich auch aus dem Gully auf. Fließt selbst in den unterirdischen Kanälen heißes Wasser, vom Vulkangebirge gespeichert, das hinter Beitou aufragt? Ich wundere mich, wie lange ein Vulkan Hitze speichert und Jahrtausende später noch ausspuckt. Da erfasst mich die unermessliche Gesteinsewigkeit angesichts der Kurzlebigkeit eines Badeortes, der seine Vergangenheit in Ruinen bannt und Unsichtbares in weißen Marmorsteinen.

Brücken

Es sind keine Geflechte, dafür sind sie zu starr, zu funktionell. Sie sind nicht mit der Stadt verwoben, auch wenn Stadtplaner dies vielleicht gern so sehen wollen. Schnell sollen Autos mit den Menschen darin um-, durch- und aus der Stadt geleitet werden.

Wie klebriges Ungeziefer schieben sich Busse darüber. Jedes Mal, wenn ich dieses Geschiebe sehe, denke ich an Kafkas letzten Satz aus dem Urteil: »In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.«

Brücken stehen halb oder auch ganz über Taipei, auf wuchtigen Betonpfeilern, in den Flussgrund gerammt, bei Ebbe sind die Sockel wie Zahnhälse freigelegt. Manche Brücken ziehen sich erst an Flüssen entlang, bevor sie sich zur Überquerung aufschwingen, liegen übereinander und über Kreuz, winden sich wie Luftschlangen, in Beton gegossen. Darunter fahren manchmal Boote hindurch wie in dem Film Flow von Su Ming-yen19, wo Flussarme und Brücken neben- und übereinander liegen, die Bootsleute in eine steinerne Zukunft zu schippern scheinen, dabei zurückfahren in eine verschwommene Vergangenheit.

Unter den Betonbrücken Taipeis lebt die Stadt ihre Alternativen. Mancherorts sind diese Schutzräume wie Wohnzimmer; Zelte, kleine Hütten oder Buden stehen hier. Unter einer vierspurig befahrenen Brücke macht ein Grüppchen Taiji. Einen anonymeren Ort kann ich mir nicht vorstellen, doch womöglich finden sie hier Schutz vor dem Wind, der kalt vom Meer her weht. Am Abend steht ein Flötenspieler unter derselben Brücke. Weil er hier so selbstvergessen dem eigenen Echo lauschen kann? Neben sich hat er zwei Lautsprecher aufgestellt, hinter ihm steht eine kleinere Box mit der Playback-Musik. Unter dem nächsten Brückenbogen hüpfen junge Menschen mit einem Schwingseil, drehen Kurven mit den Rollerskates. Unter den Brücken ist der Asphalt glatt.

Etwas weiter steht ein roter, fahrbarer Tempel, die Weihrauchstäbchen sind erloschen. Mit dem Rücken dazu sitzen Männer auf Plastikstühlen und schauen zu, wie Frauen und Männer auf einem Kunstrasen Tennis spielen. Ich komme an einem Zelt vorbei, in dem schmachtende Liebeslieder geschmettert werden – egal, ob der Ton richtig oder falsch getroffen wird, allein die Inbrunst zählt.

Buchhandlungen

Sind Buchhandlungen nur Buchhandlungen? Sind sie nicht. Stehen Bücher nur in Buchhandlungen? Nein, sie stehen überall, wo sie stehen können, in Clubs, Cafés, Kneipen, selbst im 7-Eleven-Supermarkt – so kommt das Buch unter die Leute, die keine Buchhandlung betreten würden.

In den unabhängigen Buchhandlungen, die mir von zwei Verlegern empfohlen wurden, trinkt man Kaffee, trifft sich mit Leuten, lernt. Die Buchhandlung Dúzi (Leser) liegt in der Nähe der Taiwan Normal University. Als ich meinen Laptop aufklappe, um für die Prüfung am nächsten Tag zu lernen, schläft ein Student am Nebentisch, vor ihm liegt aufgeschlagen ein dicker Wälzer, an der Wand hängen Wünsche all jener Autorinnen und Autoren, die schon einmal hier gelesen haben, davor sitzt ein Paar, er massiert ihr die Füße. Nur lesen tut hier momentan niemand.

Gedichte verkaufen sich am besten. Auf den Tischen sind zudem kreativ und sorgfältig gestaltete Zines ausgelegt. Der Buchhändler der genossenschaftlich organisierten Buchhandlung erklärt: »Gedichte kann man schneller lesen. Erzählungen, von Romanen ganz zu schweigen, das dauert einfach viel zu lang, bis man die durch hat. Wir nehmen die Zines gern in Kommission, und oft sind gerade diese Autorinnen und Autoren unsere besten Kunden.« Zwar sei der Umsatz um geschätzte dreißig Prozent eingebrochen, sagt er weiter – haben mir auch andere Buchhändler gesagt –, weil es wegen des Corona-Virus keine Veranstaltungen mehr geben dürfe. Buchhandlungen sind eben nicht nur Buchhandlungen, sondern hier finden vor allem an Wochenenden Diskussionen, Konzerte, Lesungen statt, lebendige Kulturknotenpunkte also und als solche aus dem kulturellen Leben der Großstadt nicht wegzudenken.

Dennoch bin ich skeptisch, als ich höre, dass ein großes Buchfest stattfinden soll, weil eine der populärsten Eslite-Filialen schließt, das erste Buchkaufhaus Asiens, das 2006 den 24-Stunden-Verkauf einführte. Wie beliebt dieses Buchgeschäft ist, zeigt auch der romantisch-melancholische Film Au revoir Taipeh! von Arvin Chen. Eine Buchhändlerin verliebt sich in dieser Filiale in einen von der Liebe Enttäuschten, der Französisch lernen möchte und deshalb jeden Abend vor einem Regal mit Französischbüchern am Boden sitzt. Geschlossen wird das Geschäft aber nicht etwa, weil sich die mehrstöckige Buchhandlung nicht mehr rentiert, sondern weil das Geschäft so gut floriert, dass die Vermieterin, eine Bank, das Gebäude nun selbst nutzen möchte.

Vor allem junge Menschen sitzen an diesem letzten Abend zwischen den Regalen am Boden oder wo auch immer es noch Platz gibt, nicht alle lesen ein Buch. Ein Jugendlicher malträtiert das Display seines Smartphones. Andere sitzen da und schauen den vielen Menschen zu, die sich durch die Gänge schieben. Es geht zu wie bei einem Räumungsverkauf, viele Regale sind nur noch halbvoll, wie beispielsweise jenes für japanische Sprachlehrmittel, aber auch im Lyrikregal klaffen große Löcher. Wird hier nur gefeiert oder auch gekauft? Ich will mich weiter umsehen, komme aber nicht weit. Im Gang stauen sich Menschen mit Stapeln in den Händen, vor den Kassen bilden sich lange Schlangen, dabei sind die Preise der meisten Bücher nicht heruntergesetzt, man hätte sie genauso gut auch tagsüber und anderswo kaufen können. Um Mitternacht wird dieses Buchkaufhaus geschlossen, dann begibt man sich in eine andere Eslite-Filiale, wo das Programm weitergeht, mit Musik und einer Koch-Show.

Weniger ausgelassen, fast schon grimmig wird zur selben Zeit eine Buchhandlung eröffnet, die weltweit für Schlagzeilen sorgt. Lam Wing-kee, einer der fünf Buchhändler Hongkongs, der von der chinesischen Regierung Jahre zuvor entführt worden war und später nach Taiwan emigrierte, sammelte per Crowdfunding Geld für die Wiedereröffnung seines einstigen Causeway-Bay-Buchladens. Das gefällt nicht jedem: Wenige Tage vor der Eröffnung bewerfen ihn drei Männer mit roter Farbe.

Als ich seine Buchhandlung das erste Mal aufsuche, stehen im Gang davor zahllose Blumengebinde in Vasen, auch Präsidentin Tsai Ing-wen schickte einen Blumengruß. Der kleine Laden im zehnten Stock eines Hochhauses ist voll, Schulter an Schulter stehen Menschen vor den Regalen mit Büchern zu historischen und politischen Themen, westliche und chinesische Klassiker, Graphic Novels und tatsächlich zwei Bücher über die Innenpolitik Deutschlands. »Leergekauft« sei der Laden, heißt es kurz darauf in den Nachrichten, und tatsächlich sind die Regale bei meinem nächsten Besuch nur noch halbvoll. Wenige Wochen später sind die Blumen verschwunden und kaum Kunden anzutreffen. Dieses Mal aber entdecke ich andere und mehr Titel als bei meinem ersten Besuch. Lam Wing-kee wohne auch in seinem Buchladen, lese ich in einer Zeitschrift. Die Regale habe er maßschreinern lassen, der schmale Balkon sei seine Küche, dort koche er Tee, vielleicht noch eine Fertignudelsuppe.20 Ein Bett sehe ich nirgends.

Dann gibt es Buchgeschäfte mit ausgefallenen Architektur- und Kunstbüchern, manchmal mehr Kunst als Buch, bestickte Covers, Bücher als Handtasche, etwa in der Tianyuan-Buchhandlung (Gartenbuchhandlung) des gleichnamigen Verlags. Auch hier kann man Kaffee trinken, eine Kleinigkeit essen, ein Künstler hängt gerade seine Bilder über einer Sitzecke auf.

Auf dem Weg zur Buchhandlung im Kishu-An-Literaturwald sind Aphorismen bekannter Poeten ins Pflaster eingraviert. Ich will nicht auf sie treten, gehe einen mäandernden Weg um sie herum. Die Buchhandlung dort hat hauptsächlich philosophische Bücher im Sortiment. Ob sich diese Titel denn nicht schwer verkaufen, frage ich die Frau an der Theke, die neben Büchern auch Biobrot und Kaffee anbietet. Fast habe ich den Eindruck, als verstehe sie meine Frage nicht. »Doch, doch, gerade die anspruchsvollen Titel gehen gut, vielleicht, weil in diesem Viertel ziemlich viele Intellektuelle wohnen.« Im ersten Stock werden Veranstaltungen und Lesungen durchgeführt. Nachdem ich mir dort einen Film über den Lyriker Luo Fu angesehen habe, der in einem Militärbunker sein Lebenswerk Death in a Stone Cell21 schuf, liegt etwas Leichtes, Beschwingtes in der Luft.

Mangasick ist ein Untergrund-Comicladen, und das ist wörtlich zu nehmen. Es sei der erste dieser Art in Taiwan, sagt Emily. Er ist nicht einfach zu finden, kein Schild über oder neben der Tür, nur ein Aufkleber auf dem Briefkasten. Steil geht es eine sehr schmale, sehr dunkle Treppe hinunter ins Untergeschoss. Schuhe ausziehen, Mundschutz überstreifen, dann weiter durch eine kleine Galerie, dahinter der Verkaufsraum mit einem großen Tisch in der Mitte und darauf prominent Art Spiegelmans Maus. Daneben japanische Comics und die taiwanische Comic-Zeitschrift Monsoon, auf der anderen Seite jede Menge Zines, mal genäht, mal nur gefaltet, geklebt. Die Graphic Novels haben ein eigenes Regal. Viele Leute drängen sich gerade abends und an den Wochenenden um den Tisch in diesem viel zu kleinen Kellerraum, was mich für den Besitzer freut. Er verdient sein Geld mit Übersetzungen englischer und japanischer Prosa, weil mit dem Verkauf von Comics kein Lebensunterhalt zu bestreiten sei, wie er ein wenig beschämt erzählt.

Dass spezialisierte Buchhandlungen durchaus funktionieren, zeigt sich etwa in Shishenghuo (poetisches Leben). Hier wird ausschließlich Lyrik verkauft, hauptsächlich aus Taiwan und Hongkong, weil das Ehepaar, das die Buchhandlung führt, aus Hongkong stammt. Im Vergleich zu anderen Buchhandlungen, die einen Non-book-Anteil von zehn bis fünfzig Prozent haben, sieht man hier so gut wie keine buchfernen Objekte, dafür aber Gedichte auf Postkarten, »um es den Leuten einfacher zu machen, auch mal ein Gedicht zu lesen«, sagt die Inhaberin, und viele Zines, in denen Wort und Bild kombiniert werden. Gerade die kleinen Heftchen seien oft innerhalb eines Monats ausverkauft.

Zwar verschwinden laut Statistik immer mehr Buchhandlungen, und nicht überall, wo Buchhandlung draufsteht, ist auch eine Buchhandlung drin; einmal sehe ich Gemüse und Drogeriewaren ausgestellt. Doch man tue einiges, um die unabhängigen Buchhandlungen zu unterstützen, sagt Michelle Tu von der Buchmesse Taipei. Neben finanziellen Zuschüssen gebe es eine Messe für alle unabhängigen Buchhandlungen, einen Stadtplan, auf dem diese Buchhandlungen eingezeichnet sind, eine Website mit Hinweisen auf Veranstaltungen, Rezensionen, Schwerpunktthemen.

Buchhandlungen sind in Taipei offenbar tatsächlich lebendige Kulturknotenpunkte. Diese Entdeckung ist wie eine leise Freude.

Corona

Im April 2020 werde ich von Freunden um einen Lagebericht gebeten. Ich schreibe etwas.

Auf dem Weg zur U-Bahn komme ich jeden Morgen an einer langen Schlange vorbei. Die Menschen stehen für Gesichtsmasken an. Je nachdem, ob die letzte Nummer im Pass eine gerade oder ungerade Ziffer ist, kann man an dem einen oder anderen Tag in einer Apotheke mit der Krankenversicherungskarte die Masken zu einem subventionierten Preis kaufen, drei Masken zu umgerechnet sechzig Cent. Wer nicht so lange und womöglich vergebens anstehen möchte, weil die Masken ausverkauft sind, kann auf einer Website22 nachsehen, welche Apotheke wie viele Masken auf Lager hat. Dies initiierte die Digitalministerin Audrey Tang mit ihrem Team, weshalb sie von der Bevölkerung fast ebenso verehrt wird wie der Gesundheitsminister Chen Shih-chung, für den sogar Skulpturen wegen seines professionellen Krisenmanagements geschaffen werden.

In der U-Bahn gelten seit dem 1. April 2020 verschärfte Regeln. Am Eingang informiert ein Schild darüber, dass das Transportunternehmen keine Passagiere mitnimmt, deren Körpertemperatur 38 Grad übersteigt – was aber niemand kontrolliert –, und dass alle Passagiere Mundschutz tragen müssen. Bei Zuwiderhandlung muss mit einer Geldstrafe bis umgerechnet 450 Euro gerechnet werden – bei einem monatlichen Durchschnittsgehalt von etwa 1200 Euro.

Die Museen sind geöffnet. Im Museum für Gegenwartskunst wird am Eingang die Körpertemperatur gemessen, man muss sich die Hände desinfizieren, den Mundschutz überstreifen und ein Formular ausfüllen, in das man seinen Namen einträgt, seine Telefonnummer, und per Unterschrift versichert, dass man keine Symptome hat und auch in den letzten vierzehn Tagen nicht im Ausland war. In fast allen Einkaufszentren steht am Eingang Desinfektionsmittel. Trägt man keinen Mundschutz, wird man höflich dazu aufgefordert.

Die Universität hat eine Verordnung erlassen, wonach jeden Morgen die Temperatur zu messen und diese in einen digitalen Tagespass einzutragen ist; dieser muss am Eingang vorgezeigt werden. Der Pass wird aber nicht richtig kontrolliert; auch haben einige ausländische Studierende offensichtlich Probleme beim Herunterladen des Tagespasses. Am Eingang steht ein Temperatursensor, der warnend aufblinken würde, wenn die Körpertemperatur eines Besuchers 38 Grad und mehr beträgt.

Die Regierung handelt flexibel und erlässt Maßnahmen je nach Anzahl der Infizierten. Schulschließungen und Lockdown werden zwar von der KMT-Opposition gefordert und auch von einigen Experten, doch die Regierung hält sich zurück, weil sie die Folgen scheut. Vor allem kleinere Läden sind bereits im April 2020 finanziell stark angeschlagen – da befindet sich Taiwan im Corona-Monat vier des Jahres 2020 –, sodass Gutscheine verteilt werden, um den Konsum anzukurbeln. Diese Gutscheine kann man auch Arbeitsmigranten aus Ländern wie Indonesien und den Philippinen spenden, da diese Bevölkerungsgruppen, die ohnehin am Rand des Existenzminimums leben, von den Corona-Maßnahmen besonders stark beeinträchtigt sind. Die prekären Existenzen trifft es wie anderswo auch hier besonders hart.

Effizient ist das Contact-Tracing. Die Quarantäneregeln werden in Taiwan streng befolgt, wenn man überhaupt noch ins Land gelassen wird. Die Quarantäne erfolgt in bestimmten dafür vorgesehenen Hotels auf eigene Kosten, und wer sich an die Regeln hält, bekommt dreißig Prozent der Kosten wieder erstattet. Die Mobilfunkkontakte werden in dieser Zeit überwacht. Wer sich um den Datenschutz sorgt, kann eine befristete SMS-Karte erwerben, die er nach der Quarantäne entsorgt, erklärt der Reporter Klaus Bardenhagen.23 Eine Corona-App wurde vom Parlament Ende April 2020 aus Datenschutzgründen nicht genehmigt.

Das Kreisen der Gedanken, in dessen Mitte der Virus, ein Wirbel von Informationen und Meinungen. Das Kreisen läuft ins Leere, nur ein trübes schlammiges Nichts. Ich nehme mir vor, keine Nachrichten mehr über den Corona-Virus zu lesen. Und doch geistern sie nachts durch meinen Schlaf, ermüden mich tagsüber, und immer wieder ertappe ich mich dabei, in dieses Kreisen abzugleiten.

Ein Jahr später ist die Lage eine andere. Mit der steigenden Infektionszahl im Mai 2021 – die mit mehr als dreihundert Infizierten pro Tag den Höchststand erreichen – werden die Maßnahmen Tag für Tag verschärft und erst ab Mitte Juli – mit Inzidenzen von unter zehn pro Tag – Schritt für Schritt wieder gelockert. Verschärft ist die Lage auch, weil Taiwan international isoliert ist und aufgrund von chinesischem Druck nur ungenügend Impfstoffe erwerben kann. Japan schickt Taiwan 1,24 Millionen Impfdosen. Als auch die USA Taiwan Impfdosen übergeben will, lässt China verlautbaren, dass es nach Wegen suche, solche Geschenke zu unterbinden, die eine Einmischung in interne Angelegenheiten bedeuteten. Auch der innenpolitische Druck wächst; die Oppositionspartei KMT wirft der Regierung schlechtes Krisenmanagement vor, weil sie keinen Impfstoff aus China kaufen will. Taiwan konnte in der Situation seine Halbleiterindustrie ins Spiel bringen, Chips gegen Impfstoff. Die USA wollten beispielsweise ursprünglich 750’000 Dosen Moderna spenden und verdreifachten dann die Menge.24

Laut den Medien und den Informationen, die mich aus dem Internet erreichen, ist der Alltag wechselhaft. Restauranttotalschließungen wurden nach ersten Protesten wieder zurückgenommen, weil viele Wohnungen in Taipei zum Beispiel keine Küche besitzen. Take-away wurde dann wieder erlaubt.

Märkte werden nach den Nummern der Stände reguliert; ist die Zahl gerade, darf ein Stand an einem Tag öffnen, am anderen öffnen dann die mit den ungeraden. Dasselbe gilt für die Besucher; auch ihnen wird der Zutritt je nach gerader oder ungerader Endziffer ihrer Personalausweisnummer gewährt.

Für Unruhe und Protest sorgen die überfüllten Arbeiterwohnheime, anfällig für erhöhte Ansteckungsgefahr. Den Arbeitsimmigranten in Miaoli beispielsweise wird nur noch der Gang zur Arbeit erlaubt, obwohl die nicht erlaubt ist und es keine Ausgangssperre für die Bevölkerung gibt. Solange diese Arbeiter elektronische Teile herstellen, die für die Halbleiterindustrie essenziell sind, macht die Regierung Ausnahmen, schreibt Blogger Brian Hioe.25

Die Regierung schreckt davor zurück, einen harten Lockdown zu verhängen. Die erfolgreiche Strategie beim Pandemiemanagement beruhe auf diversen flexibel eingesetzten Maßnahmen und sei nicht auf die vermeintlich »gehorsameren« Taiwaner zurückzuführen, erklärt Lee Chun-yi, Professor an der Universität Nottingham, im Mai 2021 in einem Online-Diskussionsforum zu den unterschiedlichen Strategien verschiedener Länder im Umgang mit der Pandemie. Digitalministerin Audrey Tang hat sämtliche digitalen Kanäle aktiviert, um mit der Bevölkerung direkt zu kommunizieren. Entsprechendes ließe sich leicht auch in Ländern umsetzen, die finanziell weniger gut ausgestattet seien als Taiwan. So wird die Bevölkerung während der Corona-Krise 2020 und 2021 täglich über die neuesten Entwicklungen informiert. Die Maßnahmen werden stets nachvollziehbar und ausführlich erklärt, und die Bedürfnisse der Bevölkerung werden ernst genommen. Dass Taiwaner nur mit einer Person aus demselben Haushalt spazieren gehen dürften, wäre unvorstellbar. Zahlreiche Mitglieder der Entscheidungskommission sind Ärzte oder haben einen medizinischen Hintergrund. In ihr versammelt sich geballtes Know-how; es werden nicht nur einzelne Virologen oder Epidemiologen gehört.

Datenschutz wird durchaus ernst genommen. Was passiert mit den Daten, die während der Quarantäne erfasst werden, mit dem digitalen Fußabdruck, dem erstellten Bewegungsmuster? Zu jeder Maßnahme, die getroffen wird, werden sogleich die legalen Rahmenbedingungen erläutert; zum Beispiel müssen sämtliche Daten nach dem Ende der Pandemie gelöscht werden, und jeder Bürger kann dieses Recht einklagen.26

Taiwaner sind keineswegs pflichteifriger, aber der gesellschaftliche Druck scheint mir in diesem auf sich gestellten Land vielleicht höher als anderswo. Trägt jemand keinen Mundschutz, wird er oder sie auf offener Straße angesprochen. Selbstisolation nach einer Auslandreise oder nach dem Besuch eines Nachtmarkts ist zwar freiwillig und wird empfohlen, doch der Familien- und Freundeskreis kann gehörig Druck ausüben, erzählt mir Emily. Sie schickt mir Fotos von leeren Straßen und fast leeren U-Bahnen. Das war im Jahr zuvor noch undenkbar. Sie arbeitet nun von zu Hause aus, doch ihr ist langweilig, sie stöhnt. Die vielen Online-Konferenzen ermüden sie.

Serena, die mir bei so vielem geholfen hat, schimpft, dass ihre Familie ihr nicht einmal erlaube, ein Puzzle zu kaufen, wo doch das Geschäft unten im Erdgeschoss sei; sie habe ihr einziges Spiel schon gefühlte hundert Mal zusammengefügt! Sie sei trotzdem runtergegangen, weil ihr die Decke des Zimmers, das sie mit ihrer Schwester teile, auf den Kopf falle. Seit dem Puzzlekauf spreche sie kein Wort mehr mit ihr.

Und die Tänzerin F. sagt im Video-Chat, endlich habe sie einmal Zeit, nichts zu tun.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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