Buch lesen: «Wolken über Taiwan», Seite 2

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Ahnung

Manchmal stehe ich irgendwo oder bewege mich durch die Stadt mit dem Gefühl der Spannung, als berge dieses Land, diese Insel unzählige Möglichkeiten, tief unten in ihrem Felsensockel, umgeben von Meer, unter den Straßen, in den gezackten Tälern. Selbst beim Blick über den Fluss oder hinunter vom Balkon auf die Straße spüre ich die Spannung.

Als sei dies erst ein Anfang, ein Gemisch aus Erinnerungen und Ahnungen, als sei hier eine Zukunft möglich, als sei hier etwas möglich, von dem ich nur noch nichts weiß. Ein vertrautes Gefühl indes. Es erinnert mich nicht an Chengdu damals, sondern rührt an etwas tief in mir, das dort schon immer war und nun angestoßen wird.

Das warme Wetter trägt zu dieser Stimmung bei, weil ich es liebe, wenn am Ende des Tages der laue Wind in der Abenddämmerung über meine Arme streift, voll sinnlicher Vertrautheit. Seltsam, dass ich Erinnerung denke, sich aber kein Bild dazu einstellt. Es ist nurmehr eine Ahnung von etwas, was meinen Körper erbeben lässt.

Alishan

Jahrtausendealte rote Zedern stehen im lichten Wald, der Waldboden von Farn bedeckt. Staunend gleitet mein Blick am Stamm entlang nach oben, wo er sich teilt. Selbst auf den Ästen spreizt sich der Farn.

Seit ich Alishan besucht habe, bin ich im Baumfieber, empfänglicher auch für den heimischen Wald, für Baumrinden, ihre Schatten und Furchen, die Flechten wie Schuppen, das Totholz auf feuchtem Waldgrund und das Efeu, das Äste zu Tode umarmt. Bei Marion Poschmann lese ich: »Insofern handelt es sich um mehr als einen Ausflug. Unvermeidlich findet auf einer solchen Tour eine Sensibilisierung statt.«2 Doch wie geht das Schreiben darüber? Anders als die Malerei verfüge die Sprache über keine Technik, um die Welt der Bäume nuanciert zu beschreiben, bedauert Marion Poschmann. Die Sprache kenne nur Wiederholungen, eine Wurzel, ein Stamm, Blätter; es sind nur geringfügige Modifikationen möglich. Meine Versuche, die alten Zedern zu beschreiben, werden ihnen nicht gerecht; mir gehen die Wörter aus.

Höre ich Emily, meine Verlegerfreundin, über die Zedern sprechen, merke ich, dass ihr die Bäume etwas anderes bedeuten. Für mich bilden sie vorerst eine stimmungsvolle Kulisse. Doch die Menschen hier gehen fast andächtig über Holzstege, einen halben Meter über dem Waldboden. Warum gibt es diese Stege? Traut man dem Waldboden nicht? Ist der Spaziergang durch den lichten Wald so vielleicht einfacher, kein Stolpern über Wurzeln? Ist die Natur so ungestörter? Ehrfürchtig schauen die Menschen hinauf in die ausgedünnten Wipfel. Reicht es womöglich, die Zeder aufzurufen, um eine bestimmte Gefühlswelt heraufzubeschwören?

Dieser Wald, seine Bäume erzählen Geschichten. Alishan war einst ein Ort der Zuflucht. Als die Japaner 1895 kamen, flohen viele Taiwaner vor ihnen in die Berge. Nach dem Aufstand vom 28. Februar 1947 war anderswo kein Untertauchen mehr möglich. So liest es sich in der Erzählung »Flucht in die Berge« des Hakka-Schriftstellers Lee Chiao.3 Nachdem alle Kameraden verhaftet und einige auch getötet wurden, bleibt nur noch die Hauptperson übrig. Doch Spitzel lauern überall, verfolgen ihn in die Wälder und Berge. Der Flüchtende stirbt jedoch nicht durch die Kugel seines Verfolgers, sondern beide kommen durch den Biss einer Giftschlange zu Tode.

Auch heute noch sterben in diesem Wald Menschen. Es sind sogenannte Baumräuber; shān lăoshū, Bergratten, werden sie genannt. Man sieht sie nicht. Diese Menschen wurden, wie viele andere vor ihnen, in die Berge geschickt, um Bäume zu fällen, des Geldes wegen. Schon die Japaner hatten Wohlgefallen am Wuchs und Aroma der Zedern gefunden, nannten sie hinoki und fällten sie. Die Nationalpartei Kuomintang (KMT) übernahm das Geschäft, denn es versprach Profit, bis nur noch wenige Baumriesen standen. 1991 wurde endlich das Fällen in sämtlichen Urwäldern Taiwans verboten.4

Für Hoang, einen illegalen Einwanderer aus Vietnam, reichte 2018 das Geld in den Fabriken nicht, um zu Hause die Familie zu ernähren und die Schulden bei den Schleusern zu bezahlen. Er ging in den Süden, arbeitete auf Teefeldern, später für Gangs, die heimlich die alten Zedern fällen. Gefängnisstrafen bis zu zwanzig Jahren drohen den Holzdieben, deshalb wohl rannte Hoang bei seiner Verhaftung in den Wald, dem er sein Einkommen verdankte, was er mit dem Leben bezahlte. Er verblutete an einem Schuss in die Stirn, den Polizisten auf ihn abgefeuert hatten. Sein Bruder fand ihn fünf Tage später tot im Wald.5

Das Holz, das stückweise aus dem Wald geholt wird, damit die Dieberei nicht auffällt, wird von den Souvenirhändlern in Sanyi gern gekauft. Aus ihm wird geschnitzt, was Touristen gefällt, was Glück bringt, Buddhastatuen und Äpfel zum Beispiel. Das ist auch für die Ladenbesitzer gefährlich; für den Kauf von illegal gefälltem Holz drohen ihnen Strafen zwischen achtzehn Monaten und fünf Jahren.6

Doch einem jungen Holzkünstler will es gleich sein, woher sein Holz kommt. Er fragt nicht, sie sagen es nicht, doch dass es von den Baumratten ist, wissen alle. Er weiß um die Strafe, aber der Profit mit den Holzschnitzereien ist zu verlockend.

Fast hätte ich so einen samtig-glatten gelben Holzapfel gekauft, als ich noch nicht von den Baumratten und den Toten im Wald wusste, wegen des Streichelns über das hellschimmernde Holz, wegen der vollendeten Rundung des Apfels; bloß die Nutzlosigkeit des Gegenstands hielt mich davon ab.

Am Abend ist Alishan leer und verlassen, der Poetenpfad wie ausgestorben. Der Geruch nach frisch gemähtem Gras. Auf den Treppenstufen liegen Flügel toter Libellen.

Nebel zieht über die Flanken des Berges. Die Sonne hat den Tag abgewartet, bricht kurz noch durch den bleichen Himmel. Zikaden zermalmen ihn zwischen den Kiefern. Dann Stille.

Dann düstern Krähen. Ein Berg erhebt sich scharfkantig vor der untergehenden Sonne im Meer.

Die Alten

Sie haben mich schon immer überrascht, die Alten in Taiwan. Wie in China. Morgens treffen sie sich im Park, schlenkern mit den Armen, drehen die Hüfte, beugen sich ein wenig nach vorn, ein wenig nach hinten, so weit es die Wirbelsäule eben noch zulässt. Das Schwingen von Armen und Beinen gehört zu den bevorzugten Bewegungen. Manche tun so, als rennen sie, gehen, die Arme angewinkelt, eng am Oberkörper angelegt, diesen wiederum leicht nach vorn gebeugt, sodass mit Schritten die maximale Gehgeschwindigkeit erreicht wird. Und abends tanzen die Fitteren im Straßenlampenlicht, das kümmerlich die kreisrunden Plätze in den Parkanlagen beleuchtet.

Nicht wusste ich, dass man zu einer Popvariante von Beethovens »Freude, schöner Götterfunken« in die Hände klatschen, Ellbogen auf Brusthöhe aneinanderdrücken und Arme nach vorn strecken kann – nicht unbedingt im Takt zwar, aber mit viel Elan. Sogar der Parkgärtner, der mit seinem Besen die Blätter, die über Nacht gefallen sind, zusammenfegt, schmettert die Freudenhymne mit.

In den Straßen fallen all jene auf, die nicht mehr gehen können und einen dreifüßigen Gehstock spazieren führen oder im Rollstuhl sitzen. Die im Rollstuhl werden von jungen Frauen geschoben, die dem Aussehen nach aus Indonesien oder von den Philippinen stammen und fröhlich in ihre Smartphones plappern.

Doch was ist schon alt? Mein Drachenbootteam, das fand ich allerdings erst später heraus, war das Ü60-Team, nur dass die zähen Männer und Frauen aussehen wie um die Vierzig. Man tut viel, um gesund alt zu werden. Dafür sorgt auch die Bulao-Bewegung. 2007 fuhren greise Motorradfahrer einmal um die ganze Insel und erfüllten sich damit einen alten Traum.7 Die Alten genießen das Leben in bescheidener Dankbarkeit.

Ankommen

Und es gibt immer wieder Tage, da denke ich, du bist angekommen. Ich sehe den Fluss, die Berge, die Hochhäuser am anderen Ufer und denke, angekommen im Nichts-anderes-mehr-wollen.

Armut

Wenn man hinhört, sieht man sie. Schuhe, die schlappen, weil zwei Lagen Zeitungspapier zwischen Ferse und Leder eingelegt sind. Die alte Frau hat die Schuhe entweder aus dem Abfall geklaubt oder gefunden; jedenfalls sind sie zu groß, Gummiboote an ihren Füssen. Ihr hellblauer Mundschutz hängt fast unterm Kinn, sie hat nur Augen für den Boden.

Eine Frau beobachte ich, wie sie einen Rollkoffer hinter sich herzieht, dem ein Rad fehlt. Auf dem Koffer sind ihre Habseligkeiten festgezurrt, die offensichtlich nicht mehr hineingepasst haben.

Wenn man genau hinsieht: viel zu weite Anoraks, die über schmalen Schultern hängen, fleckig auf der Brust und abgewetzt an den Ellbogen, schlabbrige Hosen mit ausgefransten Bünden. Sie sitzen auf einer Parkbank, neben sich eine Plastiktüte mit all ihren Sachen. Wie lange wohl schon? Ob sie jeden Tag da sitzen? Wo sind sie, wenn es regnet, denn wenn es regnet, regnet es heftig.

Einmal erschrecke ich, als ich nackte, lange, dürre Beine sehe, angewinkelt. Die Frau kauert auf einem Hocker vor einem Nudelstand und schlürft eine Suppe. Sitzt in sich versunken, ihr halblanges graues Haar geht ihr strähnig bis zur Schulter. Was sie wohl unter der grauen Strickjacke bei dieser Hitze trägt, frage ich mich.

Sie bewegen sich unauffällig in der Stadt. Vielleicht fallen sie mir deshalb auf. Einmal abends auch beim Anstehen an einem Buffet. Die Buchwelt Taipeis feiert die letzte Nacht eines Eslite-Buchkaufhauses, dem ältesten der Stadt und ersten, das 24 Stunden rund um die Uhr geöffnet hatte. Wie sie sich anstellen, unter jene mischen, die noch mehr wollen, einen zweiten, dritten Nachschlag, oder jene, die nur aus purer Lust auf einen Schluck Whiskey, auf ein Häppchen hier stehen, sie aber aus purer Not, mit ausgebeulten Rucksäcken und abgerissenen Kleidern, wie sie scheu um sich blicken, kaum die Füße vom Boden heben, auch hier nicht. Einer hat einen eiergroßen Furunkel an seiner rechten Hand, so groß, dass er ihn beim Zugreifen mit den Stäbchen behindert. Die Musik eines Orchesters im Hintergrund klingt wie aus einer anderen, fernen, für sie unerreichbaren Welt.

Bäckerei

Nach dem Unterricht gehe ich schnurstracks in eine Bäckerei, die unsere Lehrerin für die in Taiwan so typischen Ananaskuchenstückchen empfahl: »Die muss man gegessen haben.« Das Angebot ist ansehnlich, Käsekuchen, Mandelnussschnitten, Brownies. In der Nähe der Universitäten legt man offensichtlich viel Wert auf Qualität und Auslage.

Als ich eintrete, meine ich, deutsche Schlagermusik zu hören, denke aber sogleich, dass ich mich verhört haben muss, wie so oft, wenn es um Musiktexte geht. Ich höre nicht weiter hin, konzentriere mich auf die Beschriftung der diversen Kuchen, bis das »Nur du, du, nur du« mir deutlich ins Bewusstsein dringt. Ein deutscher Schlager allererster Güte – wie kommt der hierher? Nach dieser Schnulze folgt auch schon die nächste.

Wäre diese Bäckerei nicht die Filiale einer großen Kette, hätte ich die Verkäuferin danach gefragt. Doch die Angestellte, positioniert hinter Desinfektionsmittel und Chocolate Brownies im Sonderangebot, sieht nicht so aus, als könnte sie mir darauf eine Antwort geben, zumindest nicht jetzt zur Mittagszeit, da sich Kuchen und Wraps am besten verkaufen.

Die Ananaskuchenstückchen sind mir indes viel zu süß, was meine Lehrerin am nächsten Tag fast nicht glauben kann.

Bange

Woher rührte das Gefühl der Bangigkeit in den ersten Wochen? Das ungläubige Staunen darüber, wie ich vor vielen Jahren, fast in einem anderen Leben, scheint mir, einmal alles in eine Waagschale warf, weil ich unbedingt nach Japan wollte? Mir heute unvorstellbar.

Mir ist bange, als ahnte ich etwas. Oder ist es nur die Ungewissheit? Ein Fremdeln, das mir neu ist, alles ist mir neu.

Zweieinhalb Monate später kann ich mir schon nicht mehr vorstellen, je wieder von hier wegzugehen, kann mir ein Leben in Europa nicht mehr vorstellen, erst recht nicht nach allem, was Europa nach diesem Frühling, diesem Sommer durchgemacht haben wird.

Bedrohung

Kann ein Volk Resilienz lernen, wenn es regelmäßig von einem anderen bedroht – mal subtil, mal mit roher Gewalt –, wenn es gezwungen wird, die Fäden zur Welt zu kappen, bis es alleine dasteht?

Wie zeigt sich diese Bedrohung im Alltag, wenn ein anderes Land sich in den Kopf gesetzt hat, dieses einzunehmen, das nicht einmal Feindesland ist, sondern dieselbe Sprache spricht, auf dieselbe Tradition zurückblickt? Wenn der große Bruder will, dass man zur Familie zurückkehrt, der kleine Bruder aber lieber draußen in Freiheit spielen möchte, wie es eine Radiojournalistin ausdrückte?

Gibt es Worte für diesen Zustand des Ausharrens, Abwartens?

Sind die Menschen gewappnet? Wie sehen die Schuppen einer möglichen Widerstandsfähigkeit aus?

Hält man sich an das »Wasser«, wie es die Hongkonger Protestbewegung als Motto gegen die unverhältnismäßige Polizeigewalt formulierte, was zu einem Revival von Bruce Lee führte? »Empty your mind, be formless, shapeless — like water. Now you put water in a cup, it becomes the cup; You put water into a bottle, it becomes the bottle; You put it in a teapot, it becomes the teapot. Now water can flow or it can crash. Be water, my friend.«

Diese Seinsweise ist mir vielleicht das größte Rätsel dieser Insel.

»Stellt euch eine Insel vor, eine schöne, kleine, tropische Insel, mit einer jungen Demokratie, vielen verschiedenen Nationalitäten und Religionen. Und daneben ein riesengroßes Land, in dem es das alles nicht gibt, das dieses kleine Land ständig bedroht und schlucken möchte. Wie lebt es sich in so einem Land?«, fragt die Tänzerin F., wenn sie im Westen nach Taiwan gefragt wird. »Von einem Bürgerkrieg kann ich nicht erzählen, auch geht es uns materiell gesehen relativ gut. Deshalb interessiert sich auch niemand wirklich für Taiwan, wenn zum Beispiel in Künstlerkreisen die Herkunft thematisiert wird. Da mag die Bedrohung, so wie ich sie fühle, noch so existenziell sein.«

Unter den zwölf Taiwanerinnen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Profession und Herkunft, mit denen ich mich seit 2019 über die Bedrohung Taiwans unterhalte, ist die Tänzerin mit diesem Gefühl alleine.

Eine verstummt allerdings bei dieser Frage und antwortet erst nach einer Weile, dass man die Zuversicht verloren habe. »Was können wir schon tun?« Ihre Eltern, ihr Bruder seien sicher, dass Taiwan eines Tages von China eingenommen werde. Ihr Vater werde deshalb auch kein Haus kaufen, keine Wohnung, wie es so viele für ihre Altersvorsorge tun, weil man nicht wisse, wie die Zukunft Taiwans aussehe.

Für viele ist diese Gefahr so alltäglich, dass sie sie nicht mehr ernst nehmen – was diverse Umfragen bestätigen.

Schon bei ihrer Geburt sei Taiwan bedroht gewesen, sagt die Journalistin. Es sei, als schimpfe ein Nachbar tagein, tagaus im Garten nebenan. »Der Garten gehört aber eigentlich uns.« Dennoch stehe Taiwan derzeit nicht auf der Prioritätenliste der Volksrepublik, die sich auf Tibet, Xinjiang und Hongkong konzentrieren müsse. Andererseits – sie wird nachdenklich – schickten Taiwaner, die es sich leisten könnten, ihre Kinder ins Ausland, um sie dort studieren zu lassen und in Sicherheit zu bringen, das heiße, sie haben kein Vertrauen in Taiwans Zukunft. Und Hongkonger wanderten lieber gleich nach Neuseeland und Kanada aus statt nach Taiwan, weil sie glaubten, Taiwan sei als Nächstes dran.

Das sei früher so gewesen, sagt der queere Politpsychologe Wen Liu im Gespräch mit dem Blogger Brian Hioe, doch die jungen Leute wollten Taiwan nicht mehr verlassen, seien groß geworden mit Gefahren wie Erdbeben, Taifun und eben China. »Das Risiko ist zwar da, dennoch muss man nicht immer mit dem Schlimmsten rechnen.«8

Sie drohen schon so lange, machen die Drohung aber nicht wahr. Nie ist etwas passiert. Ich mache mir Sorgen, aber es bringt nichts, sich zu sorgen. Wir können eh nichts machen, wir können uns ja nicht verstecken. – Fast ungläubig höre ich diesem Chor zu.

Die Pilotin K. beschreibt die Gemengelage. Zwar habe man sich im Großen und Ganzen an diese Situation gewöhnt, und früher sei es noch schlimmer gewesen. 1996 zum Beispiel, als Raketen abgeschossen wurden, die direkt vor Taiwans Küste ins Meer stürzten, weil sich China vor Lee Teng-hui als erstem Präsidenten fürchtete. »Aber ich erinnere mich an 1997. Meine Mutter nahm mich damals mit nach Hongkong. Es war meine erste Auslandsreise. Sie wollte mir zeigen, wie es dort ist, bevor die Kolonie zurück an China geht. Da war die Bedrohung für mich sehr real. Wir beobachten sehr genau, was in Hongkong vor sich geht. Und jedes Mal, wenn etwas passiert, ist das wie eine Krise, denn wir stellen uns vor, dass das auch in Taiwan passieren kann. Doch je mehr man hört und liest, desto größer wird der Widerstand dagegen. Im Luftraum bekomme ich ständig Meldungen und Warnungen, dass man den chinesischen Luftraum verletze. Weil man den Funk nicht abstellen darf, gehen sie zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus.«

Schwankt man also zwischen Gewöhnung und Verdrängung? Wie ist Bedrohung, wenn sie alltäglich wird? Wenn sie in wohldosierten Portionen verabreicht wird, ist man irgendwann immun dagegen? Was dann?

Jedenfalls ist es keineswegs so, wie ich es mir vorgestellt hatte, dass ein Volk wie ein Kaninchen vor der Schlange erstarrt. Und die Menschen tanzen auch nicht aus lauter Verzweiflung wie auf einem Vulkan, als wollten sie den letzten Moment in Freiheit genießen.

»Krieg? Die Zeiten sind vorbei. Wir konzentrieren uns in Taiwan auf die Arbeit, die Familie, die Kinder und darauf, im Alltag zu überleben und Geld zu verdienen«, meint Kleiderverkäuferin Chi-Jing, die die Bedrohung und China mit einer kreisrunden Handbewegung wegwischt und mit einem Schluck bernsteinfarbenem Whiskey runterspült.

Jüngere Taiwaner empfinden eine Abneigung gegenüber China, die mit jeder Drohgebärde wächst. Doch bei einer Umfrage im Juli 2020 stellt sich heraus, dass weniger als fünfzig Prozent dafür eine Waffe in die Hand nähmen.9

Taiwan könne leicht und schnell eingenommen werden, meint die Verlegerin Chuang Chin-chung. »Das Land muss Verbündete suchen, damit es im Notfall Unterstützung erhält, denn auf die USA könne man sich nicht verlassen.« Das heißt, man müsse auf Diplomatie und soft skills setzen, um nicht noch mehr Länder als Verbündete zu verlieren, sondern im Gegenteil neue dazuzugewinnen, wenngleich es sehr schwer sei, Medien für Taiwan zu interessieren und Regierungen von ihrer zwiespältigen China-Politik abzubringen.

Die Geschichte von Prag ist insofern eine Erfolgsgeschichte. Da kündigte der Prager Oberbürgermeister die Partnerschaft mit Shanghai wegen weiterer unzumutbarerer Klauseln und schloss stattdessen mit Taipei einen städtepartnerschaftlichen Vertrag. China schäumt und droht, aber passiert ist bislang wenig.

Auch Litauen wagte den Affront. 2021 trat es aus dem chinesischen 17+1-Bündnis mit mittel- und osteuropäischen Ländern aus und eröffnete eine Botschaft in Taipei. Slowenien intensivierte Anfang 2022 die Beziehungen zu Taiwan. China tobt, blockiert den Handelsaustausch; davon ist auch die EU betroffen.

»Wir sind bedroht, aber wir sind vorbereitet«, sagt Außenminister Joseph Wu wiederholt in Interviews mit westlichen Medien. Doch mit dem neuen Sicherheitsgesetz in Hongkong, Gesetz zur Wahrung der Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong, das die Verhaftung kritischer Personen erleichtert, ist die Gefahr eines möglichen Krieges noch einmal gestiegen. Bei jedem Besuch eines US-amerikanischen Diplomaten – Gründe finden sich immer – wird die Daumenschraube angezogen, werden Militärmanöver in der Taiwanstraße intensiviert. In Taiwan spüre ich diese Bedrohung im Luftraum durchaus. Taiwanische Bekannte zucken jedoch nur die Schultern, ähnlich wie bei den Erdbeben, die mir meine App anzeigt.

Es ist ein Volk, dass an Katastrophenwarnungen gewöhnt ist. Alljährlich wird die Insel von Tropenstürmen, Überschwemmungen, Erdbeben heimgesucht, doch weil die Regierung vorbereitet ist und entsprechende Katastrophenszenarien – die »Standard Operation Processes« (SOPs) – aus der Schublade zieht, wird es im Kriegsfall schon klappen, hoffen die Menschen. So wähnt man sich in Sicherheit.

Geübt wird der Kriegsfall durchaus. Das habe ich zunächst nur am Rande in den Medien verfolgt, doch am Montag, dem 17. Juli, schreibt mir eine Freundin eine Nachricht, fragt, wo ich sei, denn ich müsse wissen, heute stehe das Land zwischen 13 Uhr 30 und 14 Uhr still. Die U-Bahnen, Busse, nichts fahre mehr; man übe für den Ernstfall, falls China Taiwan aus der Luft angreife. Tatsächlich erhalte ich, vermutlich wie alle Bürger Taiwans, wenige Minuten später eine SMS direkt von der Regierung, die auf den simulierten Luftangriff und den Sirenenalarm aufmerksam macht. Anders aber als all die Jahrzehnte zuvor, so schreibt mir meine Freundin kurze Zeit später, als ich gerade unweit von Taipei auf einem verlassenen Pfad durch tropischen Regenwald wandere, müssten sie dieses Mal nicht die Bunker und Evacuation Centers aufsuchen, weil während der Corona-Pandemie Menschenansammlungen zu vermeiden seien. Das Leben gehe weiter; das sei früher anders gewesen und stets eine echte Belastung im Alltag.

Dennoch sterben 2020 Menschen bei einer Übung im Vorfeld des einwöchigen Han-Kuang-Militärmanövers. Auf rauer See kentert ein Schlauchboot, zwei Soldaten bekommen zu viel Wasser in die Lungen und ertrinken; der verantwortliche Offizier nimmt sich daraufhin das Leben. Und das Manöver endet mit einem Hubschrauberabsturz, bei dem nochmals zwei Soldaten ihr Leben verlieren.10

Überhaupt scheint die Ausstattung des Militärs in einem beklagenswerten Zustand zu sein. Soldaten sollen beispielsweise dazu angehalten worden sein, Ersatzteile aus eigener Tasche zu bezahlen.11

Auch die USA monieren die Ausstattung der taiwanesischen Armee und treiben die Regierung zu immer mehr Waffenkäufen an. Je nachdem, wie hoch das alljährliche Militärbudget ausfallen solle, redeten die Falken in den USA die Gefahr groß, schreibt der Blogger Brian Hioe. Sie verdienten an den lukrativen Waffengeschäften mit. Doch werden die USA Taiwan im Notfall wirklich unterstützen? Ist es nicht womöglich unvernünftig und blauäugig, vor allem auf militärische Verteidigung zu setzen? Der Abzug der USA aus Afghanistan und die Folgen rufen in Taiwan stille Bestürzung hervor. Man vergleicht die Situation dort mit der eigenen.12

In der westlichen Berichterstattung werden die Verletzungen des chinesischen Luftraums durch das US-amerikanische Militär indes kaum erwähnt. Seit zwei Jahrzehnten folgen die USA der Obsession, nach dem Kalten Krieg nun die chinesische Gefahr heraufzubeschwören – um die Militärausgaben aufzublähen, analysiert eine französische Journalistin.13

Und dass Taiwan nach 1949 unter Chiang Kai-shek jahrzehntelang drohte, das Festland anzugreifen, scheint der westlichen Amnesie zum Opfer gefallen zu sein.

Meinungen, Analysen, Umfragen, die sich widersprechen und im Widerspruch gegenseitig hochschaukeln.

So geht es auch nicht.

Schon vor Jahren hat der Krieg an einer ganz anderen Front begonnen. Taiwan ist das Land, das die meisten Cyber-Angriffe zu gewärtigen hat, das von einem Fake-News-Tsunami überschwemmt wird. Um dem zu begegnen, ernannte die Präsidentin Tsai Ing-wen Audrey Tang, den früheren Hacker Autrijus Tang, zur Digitalministerin. Fake News kontert diese unter anderem mit »Humor«, beauftragt Komiker mit Berichtigungen, die gerade in den sozialen Medien für Lacher und Aufmerksamkeit sorgen – und Stoff für meinem Sprachunterricht bieten.14 Aus denselben Gründen hat die Regierung entschieden, dass ab 2022 Behörden keinerlei Elektronik mehr aus China verwenden dürfen; ursprünglich war geplant, eine Liste mit den Namen der zu boykottierenden chinesischen Firmen zu veröffentlichen, was aber aufgrund der schieren Anzahl nicht mehr machbar sei.15

Laut westlicher Berichterstattung spitzt sich 2021 die Lage weiter zu. Regelmäßig frage ich bei meinen Freunden in Taiwan nach, wie schlimm es dieses Mal ist. Jedes Mal sagen sie: »Wie immer. Sorge dich nicht, uns geht es gut!« Aber ich mache mir Sorgen. Es beruhigt mich nicht zu lesen, die chinesische Armee könne nicht so schnell so viele Truppen verlagern oder Taiwan sei nur an wenigen Küstenabschnitten angreifbar.

Ich fürchte, die Strategie, so lange zu drohen, bis sich der Westen an diesen erwartbaren Angriff gewöhnt hat und deshalb nicht oder nur schwerfällig reagieren würde, ist klug. Gleichzeitig soll das hingehaltene taiwanische Volk mit Nadelstichen zermürbt werden.

Einzelne werden sich in die Berge und Wälder zurückziehen, von wo aus die Inselbewohner noch jedem begehrlichen Eroberer die Stirn zu bieten versuchten. Was passiert, wenn Taiwan und die USA auf einen Guerillakampf in unterirdischen Gängen setzen, Reservisten im Häuserkampf ausbilden, unter Stränden Tunnel anlegen und mit Sprengstoff füllen?16

Im Jahr 2021 nahmen die Bedrohungen jedenfalls weiter zu, Medien sprechen von den schlimmsten Spannungen seit der Krise 1996, als Chinas Raketen vor der Küste Taiwans einschlugen. 2021 drangen so viel Militärflugzeuge wie nie zuvor in Taiwans Identifikationszone zur Luftverteidigung ein.17

Welche Behörden, welche Organisationen wären im Falle eines Falles zu kontaktieren? Auf welchem Weg könnten Bekannte und Freunde vor dem Inferno gerettet werden? Wie könnte man ihnen nach einer Invasion helfen? Fragen ziehen sich manchmal wie Schleier vor die Nachrichten aus Taiwan.

»Sorge dich nicht, es geht uns gut, es ist wie immer, früher war es einmal schlimmer.« Dieser Refrain beruhigt mich nicht wirklich. Sehen die Menschen die Gefahr nicht? Sehe nur ich, sehen nur wir im Westen sie, weil sie aus geopolitischen Interessen heraufbeschworen wird? Sollte ich tatsächlich auf die Widerstandskraft der Taiwaner vertrauen? Meine Zweifel und Fragen finde ich in den Zeilen der Kurzgeschichte »The old capital« der Autorin Chu T’ienhsin wieder:

Du gehörtest zu jenen, die glaubten, jeden Moment könne ein Krieg ausbrechen, hattest aber keine Angst.

Es gab aber auch noch andere Menschen, die glaubten, der Krieg käme, und die mächtig Angst hatten.

Und jene, die glaubten, es gäbe keinen Krieg und deshalb auch keine Angst hatten.

Aber auch jene, die nicht an einen Krieg glaubten und dennoch Angst hatten.

Du hattest keine Angst, weil dir schon früh klar war, dass man als einzelne Person nur wenig ausrichten kann.18

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