Killerrache: Krimi Koffer 9 Romane

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9



Rudi und ich gingen ins Freie. Zusammen mit Polizeimeisterin Düpree liefen wir zur Kaimauer. Auf der linken Seite passierten wir dabei ein kleines Lagerhaus und erreichten schließlich die uniformierten Kollegen, die dort den Boden absuchten.

Einer von ihnen stellte sich mir als Polizeimeister Ernst Golltke vor und deutete auf einen dunklen Fleck auf dem Boden. „Das könnte Blut sein“, meinte er. „Genau kann man das natürlich nur sagen, wenn man einen Hämoglobin-Schnelltest oder Luminol zur Hand hat – in dem eingetrockneten Zustand. Aber fürs Erste können Sie meiner Erfahrung trauen – das hier ist meiner Meinung nach Blut.“ Er deutete zur Kaimauer, wo sich zwei weitere Kollegen auf dem Boden umsahen.

„Ich rufe unsere Spurensicherer an“, kündigte Rudi an.

Herr Golltke deutete in Richtung seiner Kollegen. „Dort an der Mauer gibt es noch weitere Blutspuren.“

„Das könnte passen“, stellte ich fest. „Rademacher wurde hier erschossen und dann zum Wasser geschleift! Dann fehlen uns eigentlich nur noch die Projektile.“

„Da sehe ich wenig Hoffnung“, meinte Golltke. „Wahrscheinlich sind die ins Wasser gefallen.“

„Kommt auf die Schussposition an“, widersprach ich. „Wenn wir Glück haben, finden wir dort hinten an der Uferböschung noch etwas.“







10



Zur gleichen Zeit erreichten unsere Kollegen Jürgen Carnavaro und „Olli“ Oliver Medina Rademachers Eigenheim in Oranienburg. Rademacher hatte sich einen schmucken Bungalow in der Jasper Straße gekauft, einer breiten Allee mit Häusern, die der oberen Mittelklasse entsprachen.

Unsere Kollegen parkten ihren Volkswagen aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft am Straßenrand, gingen durch die offene Hofeinfahrt zur Garage und standen schließlich vor der Haustür.

Ein Team der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst war ebenso auf dem Weg hier her wie die BKA-Kommissare Fred LaRocca und Annemarie O’Hara, deren Aufgabe es sein würde, Jürgen und Olli bei der Hausdurchsuchung zu helfen.

Annemarie war mit einem irischen Computerspezialisten verheiratet, der im Entwicklerzentrum eines großen Online-Händlers in Berlin-Mitte arbeitete. Auf diese Weise war unsere Kollegin zu ihrem exotischen Nachnamen gekommen.

Aber da sie selbst rothaarig war, hielt sie jeder selbst für eine Bilderbuch-Irin, sobald sie ihren Nachnamen nannte.

Nur der deutlich hörbare Berliner Akzent, der bei Annemarie O'Hara immer wieder durchkam, irritierte dabei etwas.

Jürgen und Olli stutzten.

Das Haus war ziemlich bald, nachdem man Rademacher an Land geholt und identifiziert hatte, von Kollegen der Schutzpolizei versiegelt worden.

Aber das Siegel war gebrochen.

Jürgen griff nach seiner Dienstwaffe. Olli folgte seinem Beispiel.

„Hier war offenbar jemand schneller als wir!“

„Rademacher war unverheiratet und lebte allein. Eigentlich dürfte niemand hier gewesen sein!“

Jürgen holte den Schlüsselbund hervor, der mit einem Karabinerhaken an Rademachers Gürtel befestigt gewesen war. Er war zusammen mit dem Teil, der bei der Leiche gefundenen persönlichen Habe, der nicht mehr im Labor untersucht zu werden brauchte, am Morgen per Kurier ins Präsidium gesandt worden.

Jürgen öffnete die Tür.

Geräusche waren zu hören.

Olli ging mit der Waffe in der Hand voran, durchschritt beinahe lautlos den Empfangsraum und erreichte schließlich die halb geöffnete Tür zum Wohnzimmer. Jürgen folgte.

Mit einem Tritt öffnete Olli die Wohnzimmertür.

„Waffe weg! Polizei!“, rief er.

Ein durchdringender Schrei ertönte.

Eine junge Frau stand mitten im Raum. Sie war blond, trug Jeans, T-Shirt und einen Blouson.

Das einzig auffällige an ihrem Outfit war das Armband mit den zwei das Handgelenk umschmeichelnden Schlangen.

Sie stand wie erstarrt da, in der Rechten hielt sie einen .22er Revolver und richtete ihn auf Olli.

„Die Waffe weg!“, wiederholte unser Kollege.

Sie schluckte und zitterte. Auf ihrer Stirn perlte der Angstschweiß.

„Okay“, flüsterte sie schließlich. „Ich gebe auf! Wer immer Sie auch sind, tun Sie mir nichts!“

„Wir sagten, wer wir sind!“, hielt Jürgen ihr entgegen. Er machte ein paar schnelle Schritte nach vorn, nahm ihr die Waffe aus der Hand und legte ihr anschließend Handschellen an.

Sie setzte sich auf die Couch.

„Ich bin Kommissar Jürgen Carnavaro und dies ist mein Kollege Kommissar Oliver Medina. Wir kommen vom Bundeskriminalamt und untersuchen den Tod unseres Kollegen Thorben Rademacher. Und jetzt möchte ich gerne wissen, wer Sie sind!“

„Christine Wistanow“, sagte sie.

„Und was tun Sie in Thorben Rademachers Wohnung?“, fragte Jürgen.

„Thorben und ich waren seit einiger Zeit ein Paar“, erklärte Christine Wistanow. „Wenn Sie mal in meiner Jacke nachsehen, dann werden Sie feststellen, dass ich einen Wohnungsschlüssel besitze - so wie sich umgekehrt auch an Thorbens Schlüsselbund ein Schlüssel zu meiner Wohnung finden müsste.“

„Angenommen, es stimmt, was Sie sagen...“

„In seiner Brieftasche trug er ein Foto von mir mit sich herum. Thorben war eben ein Romantiker.“

„Das können wir leider nicht mehr überprüfen“, bedauerte Jürgen. „Thorben Rademachers Brieftasche befindet sich nämlich sehr wahrscheinlich zusammen mit seinem Handy auf dem Grund des Hohenzollernkanals, falls sie ihm nicht von seinem Mörder entwendet wurde.“

„Ihre Beziehung erklärt aber noch nicht, weshalb Sie das Siegel der Polizei ignoriert haben“, mischte sich Olli ein. „Was wollten Sie in der Wohnung?“

„Also, ich will ehrlich sein.“

„Darum möchte ich doch gebeten haben“, erwiderte Jürgen.

Sie nickte und blickte zur Seite. Den direkten Augenkontakt mit einem der beiden Kommissaren mied sie.

Sie sagte: „Wir hatten uns gestritten. Ziemlich heftig sogar. Also habe ich mich zunächst auch nicht gewundert, dass Thorben nicht bei mir anrief. In dieser Hinsicht war er ohnehin ziemlich unzuverlässig. Aber dann habe ich die Meldung im Radio gehört.“

„Unseres Wissens haben Sie sich aber nicht bei der Polizei gemeldet“, hielt Olli ihr entgegen.

„Ich wollte zuerst ein paar Privatsachen aus der Wohnung holen. Das ist der Grund dafür, dass ich hier bin.“

„Um ein Polizeisiegel zu brechen, ist das trotzdem eine ziemlich dünne Erklärung“, meinte Jürgen.

„Ach wirklich?“

„Sie sehen ja, was jetzt passiert ist.“

„Ich sitze in Handschellen hier.“

„Sie haben uns mit einer Waffe bedroht.“

„Eigentlich wollte ich in diese Sache nicht hineingezogen werden.“

„Nach der großen Liebe hört sich das mit Ihnen und Rademacher ja nicht an“, sagte Olli.

„Ach – und Sie können das beurteilen?“, fauchte sie.

Olli sah sie an. „Es scheint Ihnen ziemlich gleichgültig zu sein, wer Ihren Freund umgebracht hat.“

„Stattdessen war es Ihnen nur wichtig, ein paar persönliche Dinge aus Herrn Rademachers Wohnung verschwinden zu lassen“, ergänzte Jürgen.

 

Olli sagte: „Ich muss sagen, bei diesem hohen Grad an gegenseitiger Verbundenheit kommen mir schon fast die Tränen. Scheint ein richtiger Glückspilz gewesen zu sein, der Herr Rademacher. Ich meine, dass er Sie kennengelernt hat...“

„Manche Frauen sollen ja emotional sehr stark klammern“, meinte Jürgen. „Wie gut, dass Herr Rademacher bei Ihnen dieses Problem nicht gehabt haben dürfte. Jemand, der so eiskalt ist, wie Sie, hat als Partnerin für einen Polizisten doch auch ein paar Vorteile... Er konnte sich dadurch sicherlich auch voll in seine Einsätze stürzen, da er genau wusste, dass der keine trauernde Witwe hinterließ...“

„...sondern eine Frau, die nach seinem Tod auch noch die Wohnung aufräumt“, ergänzte Olli sarkastisch.

„Wollen Sie mich jetzt verarschen?“, fragte Christine Wistanow.

„Sinn für Ironie hat sie jedenfalls nicht“, sagte Jürgen.

„Nee, hat sie nicht“, bestätigte Olli.

„Sonst würde sie so eine Frage nicht stellen, Olli.“

„Würde sie nicht“, meinte Jürgen Carnavaro.







11



Wenig später trafen Annemarie O'Hara und Fred LaRocca ein. Etwa zeitgleich war auch das Team der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst am Tatort.

Annemarie führte eine gründliche Durchsuchung bei Christine Wistanow durch.

Außerdem wurden Fingerabdrücke genommen.

Christine Wistanow protestierte dagegen zwar ziemlich lautstark, aber das war zwecklos. Als Kommissarin Annemarie O’Hara Christine gegenüber klarmachte, dass die erkennungsdienstliche Behandlung auch im Präsidium durchgeführt werden könnte, ließ diese ihren Protest verstummen.

„Juristisch gesehen war das, was Sie getan haben, ein Einbruch und ein bewaffneter Angriff auf zwei BKA-Kommissare. Hinzu kommt noch ein Verstoß gegen das Waffengesetz“, erklärte Annemarie.

„Ich habe den .22er, um mich verteidigen zu können!“

„Die Gesetze sind für alle gleich und verbieten den Besitz von Schusswaffen, es sei denn Sie haben dafür eine Erlaubnis. Und von der haben wir bislang nichts gesehen. Ich fürchte, wir werden da auch wohl nichts mehr zu sehen bekommen...!“

„Sie können mich mal!“

„Sie werden sich auf einigen Ärger einstellen müssen und kümmern sich am besten schon mal um einen Anwalt. Aber vielleicht unterstützen Sie uns ja auch noch ein bisschen bei der Suche nach dem Mörder des Mannes, den Sie als Freund bezeichnet haben.“

„Vielleicht werden Sie und Ihre Kollegen für diese unrechtmäßige Festnahme sich auch noch vor einem Richter verantworten müssen!“, fauchte sie.

„Es steht Ihnen jederzeit frei, sich zu beschweren oder rechtliche Schritte einzuleiten. Aber ich empfehle Ihnen dringend, sich vorher juristisch beraten zu lassen“, lautete Annemaries ausgesprochen kühle Erwiderung.

Fred LaRocca führte in einem Nebenraum mit seinem Laptop eine Online-Abfrage durch.

Jürgen Carnavaro sah ihm dabei über die Schulter.

Annemarie kam herein, ging zu den beiden Kommissaren hin und fragte: „Was machen wir jetzt mit ihr?“

„Irgendetwas stimmt nicht mit ihr“, meinte Jürgen. „Unser System zeigt uns mehrere Verurteilungen wegen Beischlafdiebstahl an. Einmal hat sie einen Freier ausgeraubt und dafür auch eine Weile gesessen... Eine Prostituierte, die sich den Akten nach auch schon als Erpresserin zu betätigen versucht hat...“

„Es könnte sein, dass Habgier bei diesem Einbruch das Motiv war“, glaubte Fred LaRocca.

„Aber ich habe nichts bei ihr gefunden, das darauf hindeutet“, wandte Annemarie ein. „Also ich meine: Diebesgut. Die Beute eben.“

„Dann sind wir ihr eben zuvor gekommen“, entgegnete Jürgen. „Sie kommt mit auf das Präsidium. Die Waffe wird beschlagnahmt und ballistisch überprüft. Durch das, was wir bei ihr an Vorstrafen haben, ist ihre Version, wonach sie Rademachers liebende Gefährtin war, wohl ziemlich zweifelhaft.“

„Spätestens morgen ist sie gegen Kaution wieder draußen“, gab Annemarie zu bedenken.

„Ja, aber bis dahin haben wir vielleicht ein paar Punkte geklärt.“







12



Die Maschinenpistole ratterte. Ede Gerighauser hob die Hände. Die Schüsse zischten über ihn hinweg und stanzten Löcher in die Wand. Ein Muster, das Ähnlichkeit mit einer Sinuskurve hatte.

Der MPi-Schütze riss das Magazin aus der zierlichen Waffe vom israelischen Typ Uzi heraus, warf es zur Seite und steckte ein neues hinein.

Ede Gerighauser zitterte vor Angst. Er musste die Kiefer fest aufeinander pressen, um nicht mit den Zähnen zu klappern, so schlimm war es.

Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Kalter Angstschweiß perlte ihm über die Stirn.

Der MPi-Schütze stellte sich breitbeinig auf.

Er trug eine Military-Hose und eine Lederjacke. Darunter ein T-Shirt mit V-förmigen Ausschnitt.

Unterhalb des Halsansatzes war eine Tätowierung zu sehen. Drei ineinander greifende Ringe.

Der Kerl trat näher. Die kurze Mündung der Uzi war auf Ede Gerighauser’ Kopf gerichtet.

„Schrei ruhig. Hier wird dich niemand hören, Ede! Die Polizei traut sich in dieses Viertel ohnehin nur in Mannschaftsstärke – und hier hat sie schon gar nichts zu suchen.“

Der MPi-Schütze lachte rau.

Ede Gerighauser war nur zu gut bewusst, wie Recht sein Gegenüber hatte.

Man hatte ihn auf eine abgelegene Industriebrache gebracht. Dieses Lagerhaus rottete seit Jahren vor sich hin. Der Untergrund war mit Giftmüll verseucht, die Firma war Bankrott gegangen und jetzt stritt man sich vor Gerichten darüber, wer für die Schäden aufzukommen hatte. Ein Ort, an dem man wahrscheinlich sogar seine Leiche erst nach Wochen finden würde.

Wenn überhaupt.

Der MPi-Schütze beugte sich zu Gerighauser herab.

„Wie nennt man mich, Ede?“

„Den King.“

„Den King, richtig. – und seinen König verrät man doch nicht oder?“

„Ich habe es nicht freiwillig getan!“

„Du hast es getan! Und das ist das Einzige, was zählt.“

„Erschieß mich nicht!“

„Deinetwegen sitzt mein Bruder im Knast!“

„Bitte! Ich tu alles, was du willst, King!“

Der Mann, der sich >King< nennen ließ, lachte zynisch. „Keine Sorge, Ede. Ich werde dich noch nicht erschießen. So einen Wurm wie dich, der sich vor Angst in die Hosen macht und innerlich ohnehin schon tot ist, weil er sich dauernd an seinem eigenen Stoff vergreift! Du bist ein Stück Dreck, Ede! Aber das ist dir nicht klar. Keine Sorge, ich werde dir das schon richtig beibringen.“ >King< wandte sich um und brüllte: „Wo ist die Schlampe?“

Schritte waren zu hören.

Zwei maskierte Männer brachten eine junge Frau in den Raum. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt, die Augen verbunden.

„Maria!“, stieß Ede hervor. „Was habt ihr mit meiner Schwester vor?“

Der King stieß sie vorwärts. Sie taumelte Ede entgegen. Die Uzi knatterte los. Der King hielt die Waffe hoch, sodass Schultern und Kopf der jungen Frau getroffen wurden. Ihr Körper zuckte unter den Treffern. Sie fiel Ede Gerighauser entgegen und landete direkt auf ihm. Sie lebte schon nicht mehr. Überall war Blut. Ede Gerighauser war vollkommen damit besudelt. Völlig fassungslos nahm er Maria in die Arme.

Ein dicker Kloß saß ihm im Hals.

Ede Gerighauser konnte noch nicht einmal schreien.

„Warum sie?“, flüsterte Ede.

„Jetzt bist du dran, Ede!“

Der King warf einem seiner Leute die Uzi zu. Der Maskierte fing sie sicher auf. Dann griff der King unter seine Jacke und holte eine Automatik vom Kaliber .45 hervor und setzte sie Ede Gerighauser an den Kopf. „Weißt du, was mit dem Gehirn geschieht, wenn ich den Stecher durchziehe?“, fragte er mit breitem Grinsen. Gerighauser schloss die Augen.

Der King drückte ab.

Es machte nur klick.

„Gar nichts geschieht!“, lachte der King. „Ich werde dich nicht töten, Ede. Noch nicht. Erst sollst du noch leiden. Deine Strafe ist es, vorerst weiter zu leben. Weiter zu leben in dem Bewusstsein, dass du an all dem Schuld bist. Maria hätte nicht sterben müssen, wenn du uns nicht verraten hättest. Und wenn du zufällig in nächster Zeit mal wieder deine Eltern besuchen solltest... Na ja, vielleicht hat man sie auch schon gefunden!“

„Nein!“, brüllte Ede.

„Du bist schuld daran, Ede! Nur du ganz allein – so wie du auch schuld daran bist, dass mein Bruder und fast alle Führungskräfte der ‚Killer Bandoleros’ verhaftet wurden!“

„Nein!“, schrie Ede Gerighauser noch einmal.

„Aber irgendwann werde ich zuschlagen und auch dein Leben ausknipsen. Aber vorher wird dich die Schuld innerlich aufgefressen haben. Wenn ich dich töte, wirst du innerlich längst tot sein.“

„Hey, was ist mit Ihnen los?“, drang eine Stimme wie aus weiter Ferne in Ede Gerighauser’ Bewusstsein. Hände fassten ihn bei den Schultern. „Soll ich einen Arzt holen?“

Erst jetzt begriff Ede Gerighauser, dass es nur eine Erinnerung gewesen war, die ihn so sehr in Beschlag genommen hatte, dass er sie für real hielt.

Ein Flashback.

 

Er blickte auf seine Hände und starrte sie ungläubig an. Von Marias Blut war nirgends etwas zu sehen. Stattdessen sah er auf dem Grab, das sich vor ihm befand, Marias Namen. Ihren Namen und die Namen seiner Eltern. Die Erinnerungen drohten ihn wieder zu übermannen. Er sah sich erneut die Wohnung seiner Eltern betreten. Sah das Blut an den Wänden. Den Geruch...

„Hören Sie, Sie sehen wirklich so aus, als wäre Ihnen nicht gut. Soll ich nicht doch besser den Notarzt rufen?“, fragte der stämmige, grauhaarige Mann mit den wachen, dunkelbraunen Augen. Auf seiner hohen Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet.

Ede Gerighauser wandte den Kopf.

In dieser Sekunde nahm er den Grauhaarigen zum ersten Mal bewusst wahr.

„Es geht schon“, behauptete Gerighauser.

„Wirklich?“

„Wirklich.“

Der Grauhaarige zuckte mit den Schultern. „Wie Sie meinen.“ Irritiert ging er davon und drehte sich nach ein paar Dutzend Metern noch einmal um.

Ede Gerighauser stand in sich versunken da und beachtete den Mann schon gar nicht mehr.

Die rechte Hand steckte in der tiefen Tasche seines Mantels und umfasste den Griff einer Pistole.

Sie hätten mir helfen können, Kommissar Rademacher!, dachte er. Aber Sie haben es nicht getan.







13



Am nächsten Tag fanden wir uns im Büro unseres Chefs zur Besprechung ein. Außer Rudi und mir waren auch unsere Kollegen Jürgen Carnavaro und Oliver Medina sowie eine ganze Reihe weiterer Ermittler unserer Abteilung anwesend. Darunter auch Max Herter, ein Innendienstler aus unserer Fahndungsabteilung und Hans-Peter Haselmann, der Chefballistiker.

„Guten Morgen“, begrüßte uns Kriminaldirektor Bock, nachdem alle anwesend waren. Seine Sekretärin Mandy hatte uns Kaffee serviert, und ich nippte an dem heißen, aber unvergleichlich guten Gebräu. „Wer von Ihnen Lokalnachrichten gehört hat oder schon dazu gekommen ist, eine Zeitung zu lesen, wird bemerkt haben, dass der Fall Rademacher hohe Welle geschlagen hat. Einige Medien scheinen die Sache für ihre Zwecke ausnutzen zu wollen. Das Ganze geht etwa in die Richtung, dass man sich in der Stadt wohl nicht mehr sicher fühlen kann, wenn schon Polizisten umgebracht werden. Das ist natürlich Unsinn. Jeder weiß, dass die Verbrechensraten in Berlin seit Jahren konstant rückläufig sind. Ich fürchte nur, dass von dieser Wahrheit in der Öffentlichkeit kaum etwas durchdringen wird!“

„Andererseits hat uns der Gang an die Öffentlichkeit den Hinweis auf Udo’s Imbiss beschert“, hielt Max Herter dem entgegen.

Kriminaldirektor Bock nickte. „Ja, das ist richtig, Max“, räumte er ein. „Aber ich denke, auch Sie sind erschrocken darüber, welche Folgen dieser Gang an die Öffentlichkeit darüber hinaus hatte. Ich bin weit davon entfernt, die Maßnahme für falsch zu halten. Schließlich habe ich sie selbst nach reiflicher Überlegung angeordnet. Ich will nur, dass jedem von Ihnen klar ist, was für ein zweischneidiges Schwert es sein kann, die Öffentlichkeit in die Fahndungsarbeit mit einzubeziehen. Die Sache gleitet einem schneller aus der Hand, als einem lieb ist.“ Kriminaldirektor Bocks Gesichtsausdruck wirkte sehr ernst, während er das sagte. Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille im Büro. Dann wandte er sich an Max. „Es liegen tatsächlich ein paar neue Erkenntnisse vor. Vielleicht fassen Sie den Kollegen kurz die Lage zusammen.“

„Ja, Herr Bock. Auf jeden Fall ist die Westhafenstraße in Moabit tatsächlich der Tatort. Erstens besteht kein Zweifel mehr daran, dass der Fleck auf dem Asphalt eine Blutlache war, zweitens, dass es so gut wie unmöglich wäre, allein diesen Blutverlust zu verkraften und dass drittens der Tote zum Wasser geschleift worden ist.“

„Außerdem konnte ein Projektil in der Uferböschung sichergestellt werden“, ergänzte unser Ballistiker Hans-Peter Haselmann. „Den Untersuchungsergebnissen nach stammt es aus derselben Waffe, mit der Rademacher getötet wurde, sodass wir das Ergebnis der DNA-Analyse wohl nicht abwarten brauchen, um davon ausgehen zu können, dass wir tatsächlich den Tatort gefunden haben.“

„Was ist mit den Zeugenaussagen von Udo Jakobi und seinen Angestellten?“, hakte Kriminaldirektor Bock nach.

„Daraus sind Phantombilder hervorgegangen“, erläuterte Max Herter und präsentierte uns das erste dieser Bilder mit Hilfe eines Beamers in überdimensionaler Größe an der Wand. Es zeigte einen Mann mit gelocktem Haar. „Die haben wir mit Personen abgeglichen, die in irgendeinem Zusammenhang mit Rademacher standen und sind fündig geworden. Wir haben eine mindestens 85-prozentige Übereinstimmung zwischen dem Mann, mit dem sich Rademacher einmal in dem Imbiss getroffen hat, und einem gewissen Ede Gerighauser. Gerighauser war ein kleiner Dealer und Mitglied einer Rocker- und Drogengang mit der Bezeichnung ‚Killer-Bandoleros’. Mit seiner Hilfe wurde Manuel Bentz, der Anführer der Gang zusammen mit dem Großteil seines Führungspersonals verhaftet.“

„Lass mich raten: Thorben Rademacher war maßgeblich an der Verhaftung beteiligt!“, glaubte Jürgen.

Max bestätigte dies. „So ist es. Angeblich versucht Bentz’ Bruder Lionel Bentz – genannt ‚Der King’ – die Gang wieder aufzubauen. Tatsache ist, dass Ede Gerighausers Eltern und seine Schwester kurz nach Manuel Bentz’ Verhaftung ermordet wurden.“

„Der Schluss liegt nahe, dass es sich da um einen Rachefeldzug handelt“, meinte Kriminaldirektor Bock. „Genießt Ede Gerighauser Zeugenschutz? Hat er eine neue Identität?“

„Nein. Jedenfalls nicht, dass wir davon wüssten oder dass er dafür behördliche Hilfe in Anspruch genommen hätte. Es ist zumindest nichts darüber in den Akten verzeichnet. Den Grund dafür müssen wir noch herausfinden.“

„Auf jeden Fall gehörte Gerighauser nicht zu den Fällen, in denen Rademacher wegen des Unterschiebens von Beweismaterial und Erpressung von Spitzeldiensten ins juristische Kreuzfeuer kam“, stellte Kriminaldirektor Bock mit Blick auf seine Unterlagen fest.

„Die Tatsache, dass Gerighauser Rademacher nicht angezeigt hat, heißt nicht, dass es in seinem Fall nicht auch so gewesen sein könnte“, gab Rudi zu bedenken. „Vielleicht hatte Gerighauser einfach nur kein Vertrauen in die Polizei.“

„In dem Fall hätte Gerighauser ein erstklassiges Motiv, um Rademacher umzubringen“, glaubte Olli. „Er könnte Rademacher für den Tod seiner Eltern und Schwester verantwortlich gemacht haben.“

„Allerdings ist ja wohl noch nicht erwiesen, dass Gerighauser tatsächlich die Person war, mit der Rademacher an dem Abend telefonierte“, gab ich zu bedenken. „Sein Handy wurde ja leider nie aufgefunden.“

„Wir gehen der Spur auf jeden Fall weiter nach“, entschied Kriminaldirektor Bock. „Ist Gerighauser Aufenthaltsort bekannt?“

„Leider nicht“, sagte Max. „Er scheint untergetaucht zu sein.“

„Er wird zur Fahndung ausgeschrieben, aber wir gehen nicht an die Öffentlichkeit damit“, bestimmte unser Chef. „Was ist mit der Frau?“

Max Herter projizierte ihr Phantombild an die Wand und überblendete es anschließend mit dem Foto, das anlässlich einer Festnahme gemacht worden war.

„Hier ergibt sich eine hohe Übereinstimmung mit Christine Wistanow, einer mehrfach wegen verschiedenen Delikten vorbestraften Prostituierten.“

„Unter Rademachers Kollegen glaubte man, Christine sei seine Freundin“, ergänzte ich.

Jürgen Carnavaro zuckte mit den Schultern und warf ein: „Wer weiß, vielleicht glaubte Rademacher das sogar selbst.“ In knappen Worten informierte er uns darüber, wie und unter welchen Umständen Christine Wistanow in Rademachers Haus aufgegriffen worden war.

„Unsere Verhörspezialisten Meinert Schneider und Pascal Horster haben sich die halbe Nacht mit ihr befasst und versucht, etwas aus ihr herauszubekommen, das über ihre Standard-Aussage hinausging, mit der sie bereits uns abgespeist hatte. Heute Morgen ist ihr Haftprüfungstermin. Ihr Anwalt ist ein gewisser Karlheinz Bandella, der zuvor häufiger mal für Benny Farkas tätig war.“

„Das ist ein interessantes Detail“, murmelte ich.

„Es kommt noch besser“, mischte sich nun Hans-Peter Haselmann ein. „Die konfiszierte Waffe vom Kaliber .22 wurde bei derselben Schießerei in Benny Farkas’ Club ‚El Abraxas’ benutzt, wie die .45er mit der Rademacher ermordet wurde.“

„Dann wird es Zeit, dass wir Farkas mal näher auf den Zahn fühlen!“, meinte Rudi.

Max zeigte uns ein Foto von ihm. Ein geckenhafter Mann mit dunklem Teint, feinem Oberlippenbart in schneeweißem Anzug. Am Revers trug er eine Rose. „Das ist Farkas! Ein Dutzend Clubs dürfte unter seiner Kontrolle stehen. Außerdem gilt er als einer der Großverteiler von Drogen in Berlin“, erläuterte Max. „Die ‚Killer Bandoleros’ sollen zu seinem Verteilernetz gehört haben, nur konnte man das im Prozess leider nicht nachweisen. Die Kollegen von der Drogenfahndung vermuteten, dass es damals zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Benny Farkas und den ‚Bandoleros’ kam. Vermutlich konnte man sich über Gewinnmargen nicht einig werden, woraufhin einige Mitglieder der ,Killer Bandoleros’ mehrfach in Farkas Club ziemlich rustikal aufgetreten sind und die Gäste verscheucht haben. Es ist zu vermuten, dass dies der Hintergrund der Schießerei ist, die dann stattfand und bei der mindestens ein Mitglied der ‚Killer Bandoleros’ ums Leben kam.“

„Ich schlage vor, Farkas’ Club heute Abend mal einen kleinen Besuch abzustatten“, meinte Jürgen.