Drachenreiter und Magier: 4 Fantasy Abenteuer

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Kryll stand wortlos an der Reling und hielt sich krampfhaft fest, um nicht über Bord gespült zu werden.

Seine Züge waren düster, aber nicht verzweifelt.

Er hielt nach dem dem Locori Ausschau. Aber das Ungeheuer war nicht mehr zu sehen.

Er ist untergetaucht und folgt uns, dachte der König bei sich. Ein Gefühl des Grauens ergriff ihn. Wenn dieses echsenartige Monstrum nun genau unter dem Bauch der GEEDRA wieder emportauchte...

Kryll wagte kaum daran zu denken.

Wenn der Locori das Schiff anhob und wieder niederstürzen ließ, war die GEEDRA verloren.

Der Sturm wütete immer heftiger, aber die Schiffe der Praganier waren für solche Verhältnisse ausgelegt.

Lathor, dieser Narr, dachte Kryll. Der drakanische Kapitän kannte zwar inzwischen die Eigenheiten der nördlichen Meere, aber er würde nie die Meerverbundenheit der Praganier nachempfinden können.

In den südlichen Ländern war die Seefahrt nur Mittel zum Zweck. In Pragan war bedeutete sie sehr viel mehr. Das Wasser war die zweite Heimat der Praganier. Dem Meer rangen sie ihre Nahrung ab, nicht ihrem kargen Land, dessen Boden für den größten Teil des Jahres gefroren war.

Dennoch - Lathor war ein ausgezeichneter Schiffsführer, der es mit den meisten Kapitänen des Nordens aufnehmen konnte.

*


Das Schiff schwankte.

Kryll hörte einen Schrei, aber er konnte nicht sagen, wer ihn ausgestoßen hatte.

Dann spürte der König, wie die GEEDRA von der unruhigen Wasseroberfläche abgehoben wurde.

Der Locori, durchfuhr es ihn.

Es war also doch so gekommen, wie zu befürchten gewesen war. Das Monstrum war ihnen unter Wasser gefolgt und jetzt wieder aufgetaucht.

Ein plötzlicher Ruck ging durch die GEEDRA und Kryll rutschte auf den nassen Planken aus. Furcht breitete sich unter den Männern aus. Sie wurden hin- und hergewirbelt und schrien laut durcheinander. Holz splitterte und der mächtige Mast ächzte.

Im Hintergrund war das Brüllen des Locori zu hören.

Dann donnerte die GEEDRA wieder auf die Wasseroberfläche. Wieder war das Splittern von Holz zu hören.

Kryll rappelte sich rasch wieder auf und sah, wie neben der GEEDRA die riesige Gestalt des Locori aufragte. Der König blickte sich hastig um. Olkyr hatte eine klaffende Wunde am Arm. Vermutlich hatte einen Schlag mit dem Mastbaum abbekommen. Kraynar lag reglos am Boden.

"Unsere restlichen Harpunen sind über Bord gegangen!", rief Norjan Kryll zu.

"Dann müssen wir eben mit einfachen Speeren und Pfeilen gegen den Locori vorzugehen versuchen!", erwiderte Kryll grimmig.

Er warf einen nachdenklichen Blick zu der Echsengestalt ihres furchtbaren Feindes. Die Schäfte der Harpunen ragten noch immer aus seinem Leib.

Sie schienen das Monstrum jedoch nicht ernsthaft zu behindern. Wild funkelten die Facettenaugen.

In diesem Moment sah Kryll, wie der Namenlose die Kapuze seiner Kutte zurücklegte.

Der dunkle, metallisch glänzende Kugelkopf des Schattenmannes kam zum Vorschein.

Dann öffnete er seine Kutte. Kryll erblickte ein graues Gewand, das von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde, hinter dem eine Axt steckte. Es war eine geradezu monströse, schwere Streitaxt.

Der Namenlose machte auf Kryll nicht gerade den Eindruck, als ob er stark genug gewesen wäre, eine solche Waffe sicher zu führen. Selbst ein Hüne hätte sicher seine Mühe gehabt, mit dem schweren Gerät umzugehen.

Mit einer behänden, blitzschnellen Bewegung zog der Namenlose seine Axt heraus.

Der Locori kam unterdessen näher und näher.

Er schien den Männern der GEEDRA nun endgültig den Garaus machen zu wollen.

Seine sechsfingerigen, bekrallten Pranken streckte das Monstrum begierig nach dem Schiff aus.

Dann packte der Locori die GEEDRA schließlich am Heck, während fast gleichzeitig eine geradezu mörderische Welle über ihn hereinbrach. Doch diese Wassergewalten konnten dem Echsenwesen offenbar nichts anhaben.

Der Locori öffnete für einen Moment sein Maul und gab fast mannshohe Zähne frei. Die schwertgroßen Krallen seiner Pranken hakten sich im Holz der GEEDRA fest, während die Besatzung den Atem anhielt.

Nun kam der Namenlose mit weit ausholenden Schritten zum Heck. Aus seinem dunklen Metallkopf drang ein barbarischer Ruf, während er mit den Händen die furchtbare Axt schwang.

Mit dieser monströsen Waffe, die der Namenlose mit geradezu gespenstischer Leichtigkeit zu führen in der Lage war, hieb er auf das Monstrum ein.

Die Axt drang tief in die Pranke des Locori. Aus der klaffenden Wunde kam Blut.

Der Namenlose zog seine Waffe wieder zurück. Die Pranke bewegte sich und ließ die GEEDRA frei.

Wahnsinn und Schmerz leuchteten in den den Facettenaugen des Locori. Er warf sich verzweifelt herum und wirbelte dabei das Wasser noch mehr auf, so dass die Männer der GEEDRA alle Mühe hatten, sich zu halten. Dann versank das Wesen im Meer.

Fassungslos blickte Kryll auf die Axt des Namenlose, die dieser jetzt triumphierend emporreckte.

Es ist keine gewöhnliche Axt, durchfuhr es den jungen König. Es ist eine Waffe der Schattenwelt! Und obwohl er froh war, dass die Gefahr durch den Locori beseitigt war, fühlte er ein eisiges Frösteln, das seinen ganzen Körper erfasste.




3. DIE ZITADELLE DES RINGES


Kraynar war aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Er stand nun wieder am Ruder und lenkte die GEEDRA sicher durch den tobenden Sturm. Er hatte so etwas schon hundertfach gemacht. Wahrscheinlich wahr er einer der besten Steuermänner Pragans.

Die GEEDRA hatte nur verhältnismäßig geringe Schäden von dem Kampf mit dem Locori davongetragen. Ein paar Planken waren gesplittert und im Segel klaffte ein gut sichtbares Loch.

Lathor hatte einige Männer da zu abgestellt, die entstandenen Schäden so gut es ging zu beheben.

"Wir können froh sein, dass wir diesen Kampf überlebt haben", meinte Kraynar.

Kryll deutete in Richtung des Namenlosen, der stumm am Bug stand.

"Ihm haben wir unser Überleben zu verdanken", murmelte der König dann an den Steuermann gewandt. Kryll bemerkte das düstere Gesicht, dass Lathor, der Kapitän, dabei machte.

Es passt nicht in das Bild, dass er sich von unserem namenlosen Freund gemacht hat, dass gerade er es war, der uns rettete, überlegte Kryll.

"Merkwürdig...", raunte jetzt Kraynar. "Der Locori wurde plötzlich von einer Art Wahnsinn befallen und starb an einer eigentlich harmlosen Verletzung an der Pranke!" Er schüttelte verwundert den Kopf. "Ich habe schon mit vielen Locori gekämpft, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt!"

"Er hat eine Streitaxt des Schattenlandes benutzt", gab Kryll zu bedenken.

Kapitän Lathor nickte.

"Diese Waffe scheint mächtig zu sein! Geheime Kräfte müssen in dieser Axt verborgen zu liegen..." sagte er gedehnt. Er atmete tief durch. "Aber wer sagt uns, dass er diese Macht nicht auch zu unseren Ungunsten einsetzen kann?"

Krylls Gesicht bekam jetzt etwas Finsteres.

Wut stieg in ihm auf, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen.

"Lathor!", brachte er schließlich heraus. "Ich verspreche, dass wir alle die Augen aufhalten werden. Wir werden den Namenlosen in allem was er tut beobachten. Aber wir sollten ihm gegenüber kein Misstrauen schüren, solange er uns dazu keinen Grund gibt! Er hat uns allen das Leben gerettet. Wir stehen in seiner Schuld, dass solltet Ihr bedenken, Kapitän! Tarak, der Schattenkönig, verfügt über eine ungeheure Machtfülle, die er in unseren Dienst stellen wird, wenn wir ihm helfen, ein Tor zwischen dem Schattenland und unserer eigenen Welt zu errichten. Pragan wird nicht länger ein Armenhaus bleiben, sonder das Zentrum der Welt werden! Aber das müssen wir uns erst erkämpfen. Man bekommt auf dieser Welt nichts geschenkt, wir ach nicht. Aber wir werden es schaffen!"

Lathor zuckte mit den Schultern.

"Ich hoffe, ihr seid nicht zu optimistisch, mein König", meinte der Kapitän.

Der König bedachte seinen Kapitän mit einem entschlossenen Blick.

"Ich irre mich nicht!", sagte er knapp.

Lathor lachte rau.

"Bei allem Respekt! Aber Ihr seid auch nur ein gewöhnlicher Mensch, mein König! Und als solcher seid Ihr dem Irrtum ebenso unterworfen, wie es jeder Bettler in Alark ist."

Krylls Augen wurden zu schmalen Schlitzen, sein Gesicht zu einer bewegungslosen Maske.

Dann sagte er nach einer kurzen Pause: "Wenn ich erst den Ring von Kuldan und den Spiegel von Uz besitze, bin ich wahrhaftig mehr, als nur ein gewöhnlicher Mensch!" Kryll sprach diese Worte erschreckender Kälte und mit einer fast unmenschlich wirkenden Sicherheit.

 

Der Hunger nach Macht hat ihn gepackt!, durchfuhr es Norjan, als er diese Worte mitanhörte. Und dieser furchtbare Hunger wird den König nicht mehr loslassen, dachte der alte Ritter. Kryll würde nie gesättigt werden.

*


Der Sturm ließ allmählich nach und das Meer glättete sich wieder. In der Ferne war die Küste von Thark jetzt gut sichtbar.

Ein eiskalter Wind blies jetzt und blähte das Segel auf. Die GEEDRA begann förmlich über die Wellen zu fliegen.

Die Tage gingen dahin und der Wind wurde immer kälter, je weiter sie nach Norden kamen.

Dann sahen sie am Horizont endlich die Zinnen von Kuldan, der Hauptstadt des Landes Thark.

"Eine mächtige Stadt!", rief Norjan fast ehrfurchtsvoll.

"Arkull wird einst eine ebenso große Stadt werden, Norjan!", erwiderte Kryll hart.

Als sie hinüber zum Hafen der tharkischen Hauptstadt blickten, sahen sie, dass es wahrscheinlich Hunderte von Schiffen aller Herren Länder waren, die sich dort tummelten. Praganische Langschiffe waren ebenso zu finden wie Galeeren aus Kroz oder Lukkare oder Schiffe von den Handelsstädten auf Naru, der großen Insel im Südwesten.

Die GEEDRA legte an einem der vielen Stege an und Kryll wandte sich an den Namenlosen.

"Was jetzt? Wie finden wir den Ring?"

"Der Ring befindet sich in einer Zitadelle am Rande von Kuldan Diese Zitadelle ist wesentlich älter, als die Stadt selbst und stammt noch aus der Zeit, als die Horden des Schattenlandes Zugang zu dieser Welt hatten."

Der König hob die Augenbrauen.

"Wird die Zitadelle bewacht?"

"Ja, von den sogenannten Ringwächtern."

"Wie groß ist ihre Zahl?"

"Genau weiß ich es nicht. Suche dir einen Mann der Besatzung aus, dann brechen wir auf."

"Zu dritt?"

"Ja."

"Aber sind wir dann nicht viel zu wenige, um den Ring erobern zu können?"

"Nein."

"Aber..."

"Du vergisst, dass ich aus dem Schattenland komme..."

Ja, dachte Kryll. Und er hat diese furchtbare Axt... Vielleicht war es wirklich überflüssig, mit mehr Männern anzurücken. Kryll zuckte mit den Schultern.

"Wie du meinst, Namenloser!"

Kryll erwählte unter seinen Männern Norjan. Ihm vertraute er am meisten.

"Welchen Grund hat es, nur mit drei Männern aufzubrechen?", fragte Lathor, der Kapitän, mit einem Unterton, der deutliche Skepsis verriet.

Der Namenlose ließ sich aber kaum beeindrucken. Seine Stimme klang ruhig und kalt.

"Es geschieht der Tarnung wegen", erklärte er. "Wir können hier nicht mit einer kleinen Armee durch die Stadt ziehen. Das würde viel Aufsehen erregen und das müssen wir unter allen Umständen vermeiden."

Lathor schien nervös zu werden.

"Von wie vielen Wächtern wird die Zitadelle bewacht?", fragte er dann an den Namenlosen gewandt.

"Vielleicht zwanzig oder dreißig."

Lathor lachte heiser.

"Und zu dritt wollt ihr gegen eine zehnfache Überzahl ziehen?", fragte er dann ironisch.

"Ich habe meine Axt."

"Deine Axt? Gegen so viele Gegner hat auch die beste Axt keine Chance!"

"Es ist ist eine Zauberaxt..."

"Und wenn schon!"

"Hast du vergessen, was meine Axt mit dem Locori getan hat?", fragte nun der Namenlose ruhig und gelassen. Aber Lathor gab sich damit keineswegs zufrieden.

"Ich wittere eine Falle", murmelte er.

"Niemand wird gegen meine Axt bestehen können", erklärte der Namenlose, der sich seiner Sache absolut sicher zu sein schien.

Lathor nickte.

"So ist es, Namenloser! Vielleicht wirst du es sein der unseren König in eine Falle lockt! Es passt alles genau zusammen: Irgendwo in einer dunklen Gasse von Kuldan wirst du den König umbringen. Mit deiner Zauberaxt wird es die auch nicht viel Mühe bereiten, mit zwei Gegnern fertigzuwerden!"

"Genug!", zischte nun der Namenlose wütend.

"Nein, Namenloser! Das ist noch lange nicht alles! Es sieht danach aus, als arbeitetest du für die Remurier! Seit einiger Zeit gehen Gerüchte um, dass es einer Gruppe von Magiern in Kenun gelungen ist, Menschen aus Metall herzustellen!"

Lathor kam ein paar Schritte auf den Namenlosen zu und stellte sich genau vor ihm auf. Dann griff er nach der Kapuze des Namenlosen und legte sie zurück. Der dunkle Metallkopf des Schattenmannes wurde sichtbar. Er glänzte gespenstisch im Sonnenlicht.

Der Kapitän atmete tief durch.

"Der Namenlose könnte ohne weiteres einer der remurischen Metallmänner sein!" Lathors Augen blitzten, als er den Namenlosen mit seinem Blick fixierte. Er verzog den Mund zu einem dünnen, gequälten Lächeln. "Was hast du dazu zu sagen, Namenloser?"

Der Namenlose antwortete nicht.

Der gesichtslose Metallkopf des Mannes aus dem Schattenland hatte nicht den geringsten Ausdruck. Dann packte der Namenlose packte Lathor an der Schulter. Seine dünnen, langfingrige Hand schien seltsam blutleer.

Lathor wurde bleich und sackte mit starren Augen auf die Schiffsplanken wo er reglos liegenblieb.

Olkyr beugte sich über den leblos wirkenden Kapitän.

"Er ist tot", stellte er kurz danach fest. In den Gesichtern der Männer war Entsetzen zu lesen. Er stand auf und wandte sich an den Namenlosen.

"Warum hast du das getan?"

Der Namenlose hatte indessen seinen Metallkopf wieder unter der Kapuze verborgen.

"Bevor Kryll der Herr dieser Welt sein wird, werden noch so manche Köpfe rollen", murmelte er schließlich.

*


Kryll ging zusammen mit Norjan und dem Namenlosen durch die Straßen des geschäftigen Kuldan. Es war schwierig, sich durch die wogenden Menschenmassen zu drängeln. Das Gebiet um den Hafen herum war von Händlern geradezu belagert. Sie kamen aus aller Welt und verkauften die Waren von den eingelaufenen Schiffen.

Bald kamen Kryll und seine beiden Begleiter in weniger überfüllte Stadtviertel. Die breiten Boulevards am Hafen endeten in engen Gassen, in denen sie nur vereinzelt jemandem begegneten.

Während sie durch die Gassen eilten, dachte der König über Lathors Tod nach.

Was wird mir am Ende blühen, wenn ich mich eines Tages gegen Tarak stellen sollte?, fragte er sich.

Vielleicht konnte er dem Namenlosen zuvorkommen...

Jedenfalls stand fest, dass Kryll nicht die Absicht hatte, als willenloser Sklave Taraks zu enden. Er war sein eigener Herr und wollte es bleiben!

Und bald auch Herr einer ganzen Welt, ergänzte er in Gedanken.

Aber Kryll hatte wenig Neigung dazu, letztlich nichts weiter zu sein, als eine Art Statthalter für Tarak, den Herrn des Schattenlandes.

Vorausgesetzt er nimmt dir nicht auch diese bescheidene Rolle, wenn er erst einmal bekommen hat, was er will, durchzuckte es Kryll eisig.

Aber Kryll war sich sicher, dass er irgendeine Möglichkeit finden würde, um Tarak zu gegebener Zeit entgegenzutreten - und dasselbe galt für den Namenlosen.

Doch zuvor musste er sich im Besitz des Ringes und des Spiegels befinden und alles über diese beiden magischen Werkzeuge in Erfahrung bringen, was es über sie zu wissen gab.

Dann erst konnte er seine Pläne verwirklichen.

Für einen Moment begann Zweifel in seinem Inneren zu nagen.

Er spürte den Hunger nach Macht, der ihn von innen heraus schier zu zerfressen drohte und ihn mehr und mehr zu beherrschen begann.

Es ist ein Spiel mit hohem Einsatz, dachte er. Die Mächte, die er er heraufbeschwor, konnten sich als zweischneidiges Schwert entpuppen. Sie waren gefährlich - und zwar gleichermaßen für Freund und Feind gleichermaßen.

*


Kryll, Norjan und der Namenlose kamen nun in die Außenbezirke von Kuldan. Die tharkische Hauptstadt war eine wild in die Umgebung wuchernde Stadt. Zahllose Bauern, deren Erträge zurückgingen, und deren Boden nicht mehr das Lebensnotwendige abgab, wurden von der großen Stadt wie magisch angezogen. Dort versuchten sie, ihr Glück zu machen, aber nur den wenigsten gelang das auch.

An die dicht besiedelte Stadt schloss sich das ausgedehnte Bergland von Thark an. Auf einer Anhöhe war eine verwitterte Ruine zu sehen. Aber trotz ihres offenbar fortgeschrittenen Alters machte das steinerne Gebäude einen massiven und stabilen Eindruck. Etwas Zeitloses schien über diesem Ort zu liegen.

Der Namenlose deutete mit der Rechten in Richtung der Ruine.

"Dort ist die Zitadelle des Ringes", erklärte er mit einem merkwürdigen Unterton.

"Sie scheint verlassen", meldete sich Norjan zu Wort.

"Aber der Schein trügt", warnte der Namenlose.

Weder Kryll noch Norjan bezweifelten, dass der Namenloser recht behalten würde, obwohl es mehr ein bestimmtes Gefühl war, dass ihnen das sagte, als irgendwelche äußerlich sichtbaren Anzeichen...

Als sie die Ruine erreichten, holte der Namenlose seine monströse Axt hervor und trat mit einem einzigen, wohlplatzierten Tritt eine morsch gewordene Holztür auf. Mit einem hässlichen Krachen brach sie aus ihren verrosteten Scharnieren heraus. Einige kleinere Steine rutschten aus der Wand heraus, Staub wurde aufgewirbelt.

"Wir werden uns durch diesen Krach verraten", vermutete Kryll.

Aber den Namenlosen ließ das ungerührt.

"Die Wesen, die in diesem Gemäuer hausen, haben uns schon längst entdeckt - und zwar spätestens zu dem Zeitpunkt, da wir diesen Hügel erstiegen", war seine im Brustton der Überzeugung gesprochene Entgegnung.

Vor ihnen eröffnete sich ein düsterer Gang.

Er sah nicht sehr einladend aus. Und aus diesem Gang drang so etwas wie ein Summen.

"Was ist das?", erkundigte sich Kryll.

"Der Gesang der Ringwächter. Er hat nichts zu sagen", war die Antwort des Namenlosen.

Er hob die Axt und hielt sie hoch über dem Kopf.

Das Summen - der Gesang der Ringwächter - war für die Ohren von Kryll und Norjan ein grauenhaftes, quälendes Geräusch, das bereits nach wenigen Augenblicken zermürbend wirkte.

"Bleibt dicht hinter mir!", befahl der Mann aus dem Schattenland jetzt. Kryll und Norjan nickten einhellig. Mit vorsichtigen Schritten stapfte der Namenlose tiefer und tiefer in den düsteren Gang hinein.

Die beiden anderen folgten ihm.

Hoch erhoben hielt er dabei die Axt - und die Axt des Namenlosen begann seltsam zu leuchten! Es war ein starkes, rötliches Licht, das von der monströsen Waffe ausging und den Gang ein wenig erhellte.

Unterdessen schwoll der Gesang der Ringwächter zu einem ohrenbetäubenden Lärm an, der einen Menschen über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben musste.

"Lasst euch von dem Gesang nicht irre machen!", rief der Namenlose seinen Begleitern zu, die ihn kaum verstehen konnten.




4. DIE RINGWÄCHTER


Nachdem sie dem Gang eine Weile lang gefolgt waren, kamen sie schließlich an eine Tür. Sie war zwar ebenso wie die erste Tür, die sie überwunden hatten, aus Holz, aber nicht so alt und morsch.

 

Mit zwei mächtigen Hieben seiner Axt trennte der Namenlose die Scharniere und Halterungen heraus. Die brach heraus und stürzte hart auf den Steinboden.

"Ich habe euch erwartet", sagte eine dünne Stimme. Grüne Facettenaugen starrten leer und scheinbar tot auf den Namenlosen und seine beiden Begleiter.

In der Tür stand ein mannshohes Insekt.

"Du weißt, dass du gegen meine Axt nichts auszurichten vermagst, Ringwächter! Also gib den Weg frei!", krächzte der Namenlose.

Das erste Paar von insgesamt acht Gliedmaßen bestand aus furchterregenden Zangen, mit denen der Ringwächter drohend hin und her fuchtelte.

Der Namenlose schien zu allem entschlossen.

"Das Schattenland wird sich zurückholen, was ihm gehört!", rief er.

Dann holte er zu einem furchtbaren Schlag mit seiner Axt aus und lies die Waffe auf den Kopf seines Gegenübers niedersausen. Das rötliche Leuchten der furchtbaren Axt wirkte gespenstisch.

Das Insekt wollte zurückweichen und den Schlag mit seinen Scheren abwehren. Aber die schreckliche Waffe drang durch den harten Panzer des Ringwächters, als wäre dort nichts. Ein letztes Summen ging von dem Ringwächter aus. Dann folgte ein zweiter Schlag, der den Insektenkörper von oben bis unten durchtrennte und in zwei Hälften spaltete, die jede für sich zu Boden stürzten. Ein Fühler regte sich noch schwach, aber das hatte nichts zu bedeuten.

Es war ein Bild des Grauens!

"Der Weg ist frei", sagte der Namenlose jetzt und bedeutete Kryll und Norjan, ihm zu folgen.

In dem Saal, den sie nun betraten, schien sich nichts besonderes zu befinden. An den Wänden leuchteten Fackeln.

"Ist der Ring hier?", fragte Kryll.

Doch noch ehe er eine Antwort auf seine Frage bekam, vernahm er Schritte. Mehrere Türen öffneten sich und Dutzende von insektenhaften Ringwächtern strömten in den Saal.

Ihre Facettenaugen glänzten, ihre mörderischen Scheren schwangen sie hin und her.

Kryll zog mit einer raschen Bewegung sein Schwert.

Und dann war auch schon das erste Insekt mit seinen mehr als armlangen Zangen heran. Die Fühler am Kopf vibrierten leicht. Geschickt stieß der Ringwächter mit den Scheren vor und Kryll musste sein ganzes Geschick aufbieten, um diesem Angriff auszuweichen.

Stahl klirrte gegen die ebenso harten Hornscheren. Ein schier unerträgliches Summen erfüllte den Raum.

Mit wütenden Schlägen drang Kryll auf den Ringwächter vor ihm ein. Doch schon wenig später wurde er von mehreren Seiten angegriffen. Für einen kurzen Moment suchten Krylls Augen nach Norjan. Aber er sah den alten Ritter nirgends in dem Getümmel.

Die Hornpanzer, mit denen diese Wesen ausgestattet waren, waren mindestens so hart wie ein Harnisch.

Kryll war eingekreist.

Von hinten legte sich ein harter Insektenarm um seinen Hals und riss ihn zurück. Er schrie, aber sein Schrei ging im Summen der Ringwächter unter. Das Schwert wurde ihm entrissen und hornige Insektenhände griffen nach ihm.

Das Letzte, was er spürte, war etwas Hartes, das er gegen seinen Kopf bekam. Dann wurde es dunkel vor seinen Augen. Namenlose Finsternis hüllte ihn ein.

*


Kryll erwachte.

Es war still um ihn herum.

Kein Summen war zu hören.

Kryll blickte sich um und bemerkte, dass er in einem kahlen, kaum erleuchteten Raum lag.

Der König erhob sich. Seine Gedanken waren bei Norjan und dem Namenlosen. Was mochte mit ihnen geschehen sein?

Die Tür stand weit offen. Ein Ringwächter stand dort und musterte den König mit seinen kalten Facettenaugen.

Instinktiv glitt die Hand des Königs zur Seite, um zum Schwert zu greifen. Aber die Waffe war natürlich nicht mehr an ihrem Ort.

"Wo sind meine Begleiter?", fragte Kryll dann den Wächter.

Das Insekt trat näher und schwieg.

Vielleicht können nicht alle Ringwächter sprechen, dachte Kryll. Die Scheren des Wächters klapperten drohend und Kryll lief es kalt über den Rücken.

Wo waren Norjan und der Namenlose? Waren sie getötet worden? Er musste damit rechnen.

Es wunderte ihn ohnehin, dass er selbst noch am Leben war.

Der König wandte sich wieder um und setzte sich auf den Boden.Es wäre Wahnsinn gewesen, den Versuch zu unternehmen, den Wächter mit seinen mörderischen Scheren zu überrumpeln. Es blieb ihm also vorerst nichts anderes, als hier auszuharren.

Warum hat man mich am Leben gelassen?, ging es erneut durch Krylls Gedanken. Er bedachte den Wächter mit einem misstrauischen Blick. Was konnten die Beweggründe dieser seltsamen Wesen sein?

Die Ringwächter gehörten einem vielleicht schon uralten, nichtmenschlichen Volk an. Wer konnte schon ihre Motive kennen und einschätzen?

Stumm und starr stand der Wächter noch immer in der Tür. Er wirkte fast wie ein Standbild. Nur fast unmerkliche Bewegungen der Fühler erinnerten daran, dass es sich um ein lebendes Wesen handelte.

"Wo bin ich hier?", fragte Kryll jetzt den Wächter. Das Insekt wandte ein wenig den Kopf.

Aber es blieb stumm.

"Verflucht, kannst du nicht reden!", stieß Kryll wütend hervor. Er erhob sich wieder und trat auf den Wächter zu.

"Ich werde dir keine Auskünfte erteilen", sagte der Wächter nun mit seiner zirpenden Stimme.

"Warum nicht?"

Der Wächter schwieg.

In Krylls Augen blitzte es grimmig.

"Was habt ihr mit mir vor?"

"Was hattest du mit uns vor? Weshalb bist du hier eingedrungen?", kam die Gegenfrage. Kryll war gleichermaßen überrascht und ärgerlich, aber auch froh, sein Gegenüber in ein Gespräch verwickeln zu können.

"Weißt du wirklich nicht, weshalb wir hier her kamen?", fragte der König verwundert.

Der Wächter wedelte etwas mit seinen Fühlern und sagte dann: "Nein. Aber es würde mich interessieren, was ihr für Motive hattet."

Kryll ließ das unbeantwortet und überlegte kurz.

"Von mir aus kannst du alles erfahren. Aber ich knüpfe eine Bedingung daran."

"Die Bedingungen stellen wir!" Die zirpende Stimme schien jetzt sogar einen drohenden Unterton zu bekommen.

*


Der Namenlose war dem Schlachtgetümmel entgangen. Seine Axt hatte ihn gerettet. Noch während die Ringwächter Kryll und Norjan davongeschafft hatten, floh der Mann mit dem Metallkopf durch eine der vielen Türen. Er kannte seinen Weg durch das uralte Gemäuer sehr genau.

Der Namenlose schnellte durch dunkle Gänge und über steile und brüchige Steintreppen. Mehr als einmal musste er mit seiner Axt Türen aufbrechen.

Noch immer erfüllte ein unangenehmes Summen die Luft.

Dann hörte er hinter sich plötzlich das unheilvolle Klappern von Hornscheren. Blitzschnell drehte er sich herum, die leuchtend rote Axt in der Rechten.

Einer Ringwächter kam die Steintreppe empor, die der Namenlose gerade erklommen hatte.

Mit einem mächtigen Hieb tötete der Namenlose das Insekt, das auf ihn zugestürmt kam. Mit einem Krachen und einem letzten, heftigen Summen stürzte es die Stufen hinunter.

Der Namenlose empfand Abscheu, als er dem stürzenden Körper nachblickte. Dann setzte er seinen Weg fort.

Der Ring!

Der Ring war jetzt das Wichtigste!

Wieder brach er eine Tür aus ihren Halterungen und drang weiter in die Zitadelle vor.

Er kam nun in einen relativ kleinen Raum, von dem der Namenlose aber instinktiv wusste, dass hier der Ring sein musste. Er folgte einer unsichtbaren Spur, als ob eine nicht fassbare Macht ihn in die Nähe des Ringes führte. Er konnte es nicht erklären. Und er hatte auch gar nicht das Bedürfnis danach.

Vorsichtig setzte der Namenlose einen Schritt vor den anderen, während seine monströse Streitaxt heller als je zuvor leuchtete.

Einst war ihm gesagt worden, dass ein überhelles Leuchten der Axt ein Zeichen für die Anwesenheit des Ringes sein konnte.

Unwillkürlich überkam ihn ein Gefühl des Triumphes. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen.

Er war auf dem richtigen Weg und musste ganz nah am Ziel sein!

Aber da war unterschwellig auch so etwas wie Bitterkeit.

Nicht er würde es sein, der den Ring letztlich tragen und über seine Macht gebieten würde, sondern Kryll, von Arkull!

Nur ein gewöhnlicher Sterblicher wie Kryll würde den Ring tragen können, nur an seinen Fingern würde er seine Macht entfalten und diese seinem Träger zur Verfügung stellen - so hatte Tarak es dem Namenlosen einst gesagt.

Einen Grund dafür hatte der Herr der Schatten nicht erwähnt, aber das war nicht ungewöhnlich. Tarak pflegte selten etwas zu erklären.

Der Namenlose drang weiter in den Raum vor. Eine Säule aus Licht erschien dann an der der gegenüberliegenden Wand. Und inmitten dieser Lichtsäule leuchtete gespenstisch der Ring von Kuldan.

Der Namenlose hielt einen Moment lang inne.

Er war fasziniert und wie gebannt von diesem Anblick.

"Was willst du, Mann aus dem Schattenland, du Sklave Taraks?", fragte eine tiefe, melancholisch wirkende Stimme.

"Wer spricht da?", wollte der Namenlose wissen.

"Ich."

"Wer bist du?"

"Ich bin der Ring."

Die Lichtsäule mit dem darin eingeschlossenen Ring bewegte sich langsam auf den Namenlosen zu.

"Warum bist du gekommen, Namenloser?"

"Ich will den Ring nach Pragan holen!"

"Gibt es dort einen, der es vermag, mich zu tragen?"

"Ja."

"Wer ist es?"

"Es ist Kryll von Arkull!"

Die letzte Antwort des Namenlosen war erst nach einigem Zögern gekommen, aber das Wesen, das den Ring von Kuldan darstellte, schien dies nicht weiter zu registrieren.

"Du wirst mit mir kommen, Ring!", rief der Namenlose jetzt, die Axt drohend erhoben.

"Und wenn ich mich weigere?", kam es zurück.

"Du weißt, dass ich dich zwingen kann. Und ich habe keinerlei Hemmungen, dies auch zu tun!"