Atemlose Spannung für den Urlaub: Vier Krimis: Krimi Quartett

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5

Doch der Security-Mann hatte keine Chance. Er war zu langsam. Und die Sekunde, die er gezögert hatte, ehe er seine Waffe zog, kostete ihn jetzt das Leben.

Der Killer zögerte nicht.

Er feuerte. Der Schuss war so gut wie gar nicht zu hören. Die Waffe war schließlich eine Spezialanfertigung, die darauf ausgelegt war, bei maximaler Treffersicherheit und dem höchstmöglichen Zielkomfort auch noch möglichst geräuschlos zu sein.

Der Schuss traf den Wachmann genau in die Herzgegend. Sein hellblaues Hemd verfärbte sich dunkelrot. Die rechte Hand krallte sich noch um den Pistolengriff. Mit einem dumpfen Geräusch fiel er zu Boden.

Unten im Festsaal hatte man davon nichts bemerkt, zumal jetzt erneut Beifall aufbrandete. MdB Johannes E. Moldenburg, direkt gewählter Abgeordneter des deutschen Bundestages, sprach bereits wieder in den noch anhaltenden Applaus hinein. “Die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger ist das höchste Gut”, klang Moldenburgs Stimme durch den Saal. “Und um dieses Gut zu schützen, muss die Regierung dieses Landes entschlossener vorgehen, als sie es bisher getan hat. Wo immer auf der Welt sich Feinde unserer Werteordnung aufhalten und damit beschäftigt sind, terroristische Pläne zu schmieden, sollten wir sie bekämpfen - und nicht erst, wenn sie hier bei uns zuschlagen. Deswegen ist es notwendig, Gesetze zu ändern!”

Der Killer nahm seine Zielperson ins Visier. Den Laserpointer durfte er erst im letzten Moment aktivieren, sonst wurde er bemerkt. Ein Schuss!, dachte er. Maximal zwei. Mehr wird mir nicht bleiben!

Danach brach vermutlich das Chaos aus, und es war nicht mehr daran zu denken, in dem entstehenden Durcheinander eine Person gezielt zu töten.

6

So ein verdammter Labersack!, dachte Dr. Gerold M. Wildenbacher. Mit diesem inhaltsleeren Politiker-Gequatsche könnte man bei ins Bayern ja das gutmütigste Rind verrückt machen!

Der Gerichtsmediziner aus dem Ermittlungsteam Erkennungsdienst der BKA-Akademie von Quardenburg unterdrückte ein Gähnen und zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck, der nicht erkennen ließ, was er von der ganzen Veranstaltung hielt.

Anlässe wie dieses noble Charity-Essen von MdB Johannes E. Moldenburg waren Wildenbacher ein Gräuel. Große Reden, wenig dahinter, so lautete Wildenbachers knappes Resümee. Aber seit der Pathologe für das BKA arbeitete, hatten man ihm stets eingeschärft, immer freundlich zu Politikern zu sein. “Das sind die Männer und Frauen, deren Abstimmungsverhalten darüber entscheidet, wie viel Geld in Zukunft für unsere Arbeit zur Verfügung steht. Also tun wir besser nichts, um ihren Zorn zu erregen!”, hatte einer seiner Vorgesetzten mal zu Wildenbacher gesagt, nachdem der hemdsärmelige Bayer einer Kongressabgeordneten bei einem Besuch von Quardenburg ziemlich unverblümt seine Meinung hatte wissen lassen.

Was diese Charity-Veranstaltung von MdB Moldenburg anging, fiel Wildenbacher dabei sogar eine herausgehobene Rolle zu. Er sollte für besondere Verdienste um das öffentliche Wohl ausgezeichnet werden. Eine wohltätige Stiftung, der der MdB vorstand, hatte Wildenbacher für diese Auszeichnung vorgesehen.

Wildenbacher stand der ganze Sache ambivalent gegenüber. So sehr er einerseits von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt war, so war ihm andererseits jegliche Lobhudelei zuwider. Und er mochte es auch auch nicht, für den Auftritt eines MdBs die Kulisse bieten zu müssen.

Andererseits hatte er sich entschieden, eine gute Miene zu der ganzen Veranstaltung zu machen. Auch wenn es ihm persönlich am liebsten gewesen wäre, man hätte ihm seine Auszeichnung einfach per Post nach Hause geschickt, so fühlte er sich doch auch seiner Aufgabe und seinem Team in Quardenburg verpflichtet.

Warum nur, fragte er sich in diesem Moment, hatte man nicht seinen Kollegen Förnheim für eine solche Auszeichnung vorgesehen? Der hamburgisch-stämmige Forensiker hätte vermutlich Spaß an diesen gedrechselten Politiker-Reden gehabt, dachte Wildenbacher. Aber vielleicht wäre dieses Gewäsch selbst ihm zu verschwurbelt gewesen…

Während Wildenbacher die einschläfernde Wirkung von MdB Moldenburgs sonorer Stimme mehr und mehr zu spüren bekam und immer stärker dagegen ankämpfen musste, einfach die Augen zu schließen, sorgte ein rotes Flimmern innerhalb eines Sekundenbruchteils dafür, dass er wieder hellwach war.

Der Laserpointer eines Zielerfassungsgerätes!, durchzuckte ihn die Erkenntnis. Ein hauchdünner Strahl brach sich in einem Schwarm von aufgewirbelten, in der Luft schwebenden Staubpartikeln und war dadurch für einen kurzen Moment als eine Art hauchdünner, roter Lichtfaden sichtbar.

“Vorsicht!”, dröhnte eine Stimme.

Wildenbacher spürte, wie er förmlich fortgerissen wurde. Irgendetwas riss ihn zu Boden, während gleichzeitig etwas mit hoher Geschwindigkeit nahe genug an seinem Kopf vorbeizischte, das er den Luftzug spüren konnte.

Ein Projektil!

Ungefähr in demselben Moment, als Wildenbacher den Lichtstrahl bemerkte, hatte sich ein massiger Leibwächter in Bewegung gesetzt, Wildenbacher zur Seite gerissen und sich auf den MdB gestürzt, sodass beide zu Boden gingen. Ein anderer Leibwächter riss seine Waffe unter dem Jackett hervor. Sein Blick suchte die Balustrade ab.

Projektile schossen durch die Luft. Eins davon bekam der Leibwächter mit der Waffe in der Hand in die Brust. Er taumelte zurück. Die Kugel hatte das Jackett und das weiße Hemd darunter aufgerissen und war in in einer Kevlar-Weste steckengeblieben.

Unterdessen brach jetzt im Publikum Panik aus. Gäste erhoben sich von ihren Plätzen. Andere duckten sich unter die Tische und wieder andere versuchten den Saal zu verlassen, was angesichts der Enge völlig aussichtslos war. Die Angehörigen des privaten Sicherheitsdienstes gerieten in Bewegung.

Wildenbacher rappelte sich unterdessen auf. Der Leibwächter, der ihn grob zur Seite gerissen hatte, beugte sich über den MdB. Sein massiger Körper hatte den eher schmächtigen Moldenburg wohl noch im entscheidenden Moment etwas abgeschirmt und dabei selbst mindestens zwei Treffer abbekommen, wie die zerfetzte Jacke des Leibwächters dokumentierte.

Allerdings trug dieser Kevlar unter seiner Kleidung.

Der MdB jedoch nicht. Er blutete aus einer Wunde am Oberkörper und aus einer weiteren am Kopf.

“Ich bin Arzt!”, rief Wildenbacher. “Zur Seite! Lassen Sie mich ran, wenn Ihnen das Leben des MdBs was bedeutet!”

7

Als wir an diesem Morgen das Hauptpräsidium in Berlin erreichten, hatten wir von dem Anschlag auf MdB Johannes E. Moldenburg bereits aus den Nachrichten erfahren. Danach hatte sich am Vorabend eine Festhalle in Wismar in einen Ort des Schreckens verwandelt, als ein Unbekannter damit begann, den MdB unter Feuer zu nehmen.

Die Informationen, die in die Öffentlichkeit gelangt waren, blieben ziemlich dürftig, was mit Sicherheit auch fahndungstaktische Gründe hatte.

Aber ein terroristischer Hintergrund galt als sicher. Zumindest wenn man davon ausging, was in den Medien verbreitet wurde.

Als mein Kollege Rudi Meier und ich das Hauptquartier des BKA betraten, wussten wir noch nicht, dass man wenige Augenblicke später uns den Fall übertragen würde.

“Guten Morgen”, grüßte uns Dorothea Schneidermann, die Sekretärin unseres Vorgesetzten. Sie deutete auf die Tür zum Büro unseres Chefs. “Gehen Sie gleich weiter. Fahren Sie nachher mit dem eigenen Wagen nach Wismar oder soll ich Ihnen irgendwas buchen. Der nächste Flugplatz…”

“Sie scheinen schon mehr zu wissen als wir”, stellte Rudi fest.

Dorothea Schneidermann lächelte. “Jedenfalls habe ich Ihnen sicherheitshalber ein Hotelzimmer für die Nacht gebucht, da Sie vermutlich dort zu lange zu tun haben werden, um noch nach Berlin zurückzufahren.”

“Mit dem Wagen müssten das etwa zweieinhalb Stunden sein”, meinte ich.

“Planen Sie besser drei ein”, sagte Dorothea. “Und da seit dem Attentat auf MdB Moldenburg überall Kontrollen durchgeführt werden, dauert es vielleicht sogar noch länger.”

“Na, dann wissen wir ja immerhin schonmal so ungefähr, was auf uns zukommt”, sagte Rudi.

Wir betraten das Büro von Kriminaldirektor Hoch an seinem Schreibtisch und beendete gerade ein Telefonat.

“Guten Morgen”, sagte er knapp und deutete mit einer Geste an, dass wir uns schonmal setzen sollten. “Sie sehen, dass hier der Teufel los ist”, sagte Kriminaldirektor Hoch, während das Telefon erneut klingelte. Während wir uns setzten, nahm unser Chef ab. “Ich rufe gleich zurück”, versprach er und legte wieder auf. “Das war das Ministerium. Sie können sich denken, worum es geht.”

“Den Fall Moldenburg”, sagte ich.

“Exakt.”

“Die Medien berichten seit gestern Abend über nichts anderes als über das Attentat auf den MdB”, meinte Rudi.

Kriminaldirektor Hoch erhob sich von seinem Platz. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt. Die Krawatte hing ihm bereits zu dieser frühen Tageszeit wie ein Strick um den Hals und der erste Knopf war offen. Er ließ die Hände in den weiten Taschen seiner Flanellhose verschwinden und atmete dann einmal sehr tief durch. “Kurz gesagt, Sie beide werden damit beauftragt, diesen Fall zu lösen. Ihnen steht die gesamte Bandbreite unserer Möglichkeiten zur Verfügung - und Sie wissen ja, dass unsere Behörde da ein breites Repertoire hat. Das Attentat geschah in Wismar, und da ist das BKA hier in Berlin für die operative Umsetzung zuständig. Ich habe bereits mit dem zuständigen Dienstellenleiter telefoniert, genauso wie mit dem Chef der Landespolizei. Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie brauchen. Und da der Terrorismus-Verdacht quasi auf der Hand liegt, wird es auch kaum irgendwelche juristischen Widerstände geben, wenn es um die Genehmigungen von Durchsuchungen und Abhörmaßnahmen und dergleichen geht.”

 

“Wenigstens ein Problem, das wir also in diesem Fall nicht haben werden”, seufzte ich.

Kriminaldirektor Hoch nickte. “Ich weiß, was Sie meinen, Harry. Der Druck der Öffentlichkeit und insbesondere aus der Politik wird in diesem Fall immens groß sein. Die ersten Statements von Abgeordneten wurden bereits verbreitet.”

“Lassen Sie mich raten: Die fordern vermutlich reihenweise schärfere Gesetze und versuchen die Geschichte dazu zu nutzen, dass sie mal wieder eine Fernsehkamera in den Fokus nimmt und sie sich vor ihren Wählern als tatkräftige, entschlossener Macher präsentieren können”, sagte ich.

“So läuft das Spiel”, nickte Kriminaldirektor Hoch. “Und wenn es dann um die Abstimmungen für den nächsten Haushalt geht, und man den Wählern erklären müsste, weshalb wir ein paar Euro mehr für unsere Arbeit benötigen, dann sind dieselben Leute plötzlich abgetaucht. Aber das ist ein anderes Thema. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Sie vor dem Druck abzuschirmen, der aus dieser Richtung auf Sie ausgeübt werden sollte. Machen Sie einfach einen guten Job, wie ich es von Ihnen gewohnt bin.”

“Sie können sich auf uns verlassen”, erklärte Rudi.

“MdB Moldenburg ist bekannt dafür, sich immer wieder nachdrücklich für eine härtere Gangart gegen Terroristen im Ausland eingesetzt zu haben”, erklärte Kriminaldirektor Hoch. “Von daher ist es nicht aus der Luft gegriffen, dass das Attentat einen Zusammenhang mit diesem Themenkomplex hat.”

“Aber sicher ist das keineswegs?”, hakte ich nach.

Kriminaldirektor Hoch hob die Schultern. “Wir ermitteln in alle Richtungen, Harry. Ergebnisoffen. Natürlich liegt ein Zusammenhang zum internationalen Terrorismus nahe, aber bisher gibt es keine Bekenner-Nachricht. Also keine vorschnellen Festlegungen, auch wenn man den Medien zu folge annehmen könnte, dass das alles längst erwiesen ist.”

“Mal eine ganz andere Frage”, sagte ich. “Wie geht es dem MdB eigentlich?”

Kriminaldirektor Hochs Gesicht wurde sehr ernst. “MdB Moldenburg ist inzwischen in einer Klinik hier in Berlin untergebracht worden. Er liegt im Koma und es steht nicht fest, ob er daraus je wieder erwachen wird.”

“Darüber war in den Medien bislang noch nichts zu hören gewesen”, stellte ich fest.

“Der Gesundheitszustand von MdB Moldenburg ist top secret”, erklärte Kriminaldirektor Hoch. “Im Übrigen ist es wohl einzig und allein dem gleichermaßen beherzten wie fachgerechten Eingreifen unseres geschätzten Kollegen Dr. Wildenbacher zu verdanken, dass Moldenburg überhaupt noch lebt.”

“Wildenbacher war anwesend?”, fragte ich.

Kriminaldirektor Hoch nickte. “Er sollte eigentlich im Laufe des Abends eine Auszeichnung für seine Verdienste um das öffentliche Wohl aus der Hand des Ministers annehmen. Aber dazu ist es dann aus den bekannten Gründen nicht mehr gekommen.”

8

Eine Stunde später saßen Rudi und ich in meinem Dienst-Porsche. Wir waren auf dem Weg nach Wismar, wo sich die Tat ereignet hatte.

Wir nutzten die Fahrt, um uns auf den Stand der bisherigen Ermittlungen zu bringen, mochte der auch noch so gering sein. Wir telefonierten mit Lin-Tai Gansenbrink, der Mathematikerin und IT-Spezialistin unseres Ermittlungsteams Erkennungsdienst in Quardenburg.

Sie war genau wie wir bereits von Kriminaldirektor Hoch über die wesentlichen Fakten des Falles informiert worden. Viel war das bislang ja auch noch nicht.

“Ich führe gerade eine Algorithmusunterstützte Analyse sozialer Netzwerke diesen Fall betreffend durch”, erklärte uns Lin-Tai. Ihre Stimme klang über die Freisprechanlage im Dienst-Porsche etwas scheppernd. Offenbar war unser Netzempfang im Augenblick nicht ganz optimal. “Falls es sich bei dem Anschlag tatsächlich um eine Tat von islamistischen Terroristen oder anderen Extremisten handeln sollte, die irgendwie mit MdB Moldenburgs politischen Zielen über Kreuz liegen, dann sollte es in den Netzwerken ein entsprechendes Echo geben.”

“Die Täter werden uns kaum den Gefallen tun und sich dort näher dazu äußern”, glaubte Rudi.

“Sagen Sie das nicht!”, widersprach Lin-Tai. “Das kommt immer wieder vor. Allerdings besteht die Schwierigkeit meistens darin, relevante Äußerungen herauszufiltern und dafür auch die richtigen Suchparameter anzulegen, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

“Wir sind im Augenblick auf jede Informationsquelle angewiesen”, stellte ich fest. “Und selbstverständlich erfahren Sie sofort alles an Neuigkeiten, was in irgendeiner Weise in Ihre Untersuchung einfließen könnte.”

“Für mich könnte alles relevant sein, Harry.”

“Natürlich.”

“Es gibt nichts, was man nicht in einem Algorithmus erfassen und beschreiben könnte, Harry.“

“So?”

“Ich nehme im Übrigen an, dass Sie eine Genehmigung haben, die Datenbestände sämtlicher Hotels von Wismar anzuzapfen und auszuwerten.”

“Nein, eine solche Genehmigung liegt noch nicht vor”, erklärte ich und wechselte einen kurzen Blick mit Rudi. Die Tatsache, dass Lin-Tai diese Frage stellte, konnte eigentlich nur heißen, dass sie bereits fleißig damit beschäftigt war, in den Buchungsdaten der zahlreichen ortsansässigen Hotels zu wildern.

“Ich nehme an, es ist das Beste, wir fragen jetzt nicht weiter nach”, mischte sich Rudi ein.

“Es geht höchstwahrscheinlich um einen Fall von Terrorismus, der unsere innere Sicherheit berührt”, gab Lin-Tai zurück. “Ich denke also nicht, dass es irgendwelche Schwierigkeiten machen wird, eine entsprechende richterliche Genehmigung zu erwirken. Und zwar zeitnah.”

“Davon gehe ich auch aus”, murmelte ich.

“Schön, dass wir diesen Punkt noch geklärt haben”, meinte Lin-Tai. “Im Übrigen muss ich mich jetzt darauf konzentrieren, dass hier bei mir alles den richtigen Gang geht.”

“Bis nachher, Lin-Tai”, sagte ich.

“Bis nachher”, wiederholte die IT-Spezialistin. Vor meinem inneren Auge entstand ein Bild ihres Arbeitszimmers, in dem Lin-Tai gleich mehrere Rechner zur gleichen Zeit für sich arbeiten ließ.

“Die Tat war gut vorbereitet”, meinte ich. “Es wäre nicht unwahrscheinlich, wenn der Täter sich dort vorher einquartiert hätte.”

“Was auch ein gewisses Risiko beinhaltet”, gab Rudi zu bedenken.

“Ja. Aber wenn jemand wie Moldenburg ein Charity-Dinner geplant hat, zu dem Dutzende von tatsächlich oder vermeintlich wichtigen Persönlichkeiten kommen, dann kann man davon ausgehen, dass die Sicherheitsvorkehrungen rund um das Ereignis extrem hoch sein werden.”

“Und du meinst, wenn der Kerl einfach früher da war, konnte er das umgehen.”

“Das wäre zumindest eine ziemlich simple Methode, um die ganze Sicherheitsmaschinerie auszutricksen.”

“Apropos Security…”

“Ja?”

“Einer der Wachleute ist von dem Killer erschossen worden.”

“Ja, so steht es in den Unterlagen, die uns bisher vorliegen.”

“Es könnte sein, dass der Täter beim Security Service beschäftigt war, um sich ohne Probleme in die Veranstaltung einschleichen zu können.”

“Und du meinst, dann hat er einen Kollegen erschossen, der auf ihn aufmerksam wurde, weil…”

“...weil der irgendetwas getan hat, was dem toten Kollegen seltsam vorkam, ja.”

Rudi zuckte mit den Schultern. “Das wäre aber ziemlich aufwändig für den Täter gewesen.”

“Einen MdB zu ermorden ist auch nicht so ganz einfach. Schon gar nicht jemanden wie Moldenburg, der sich immer politisch in einer derartigen Weise exponiert hat, die es nicht ganz unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass gewisse Leute ihn als willkommene Zielscheibe sehen.”

“Trotzdem Harry. Meistens sind Profi-Killer doch etwas anders veranlagt. Die wollen so wenig Zeit wie möglich am Tatort verbringen.”

“Nach der Tat, Rudi. Vor der Tat ist das etwas anderes. Da kann es ein unschätzbarer Vorteil sein, sich gut auszukennen.”

“Okay, es spricht ja nichts dagegen, das Personal dieses Security Service zu checken.”

9

Auf die Insel Fellworn gelangte man über einen Damm. Und auf diesem Damm verlief der Autobahn. Es wurden Kontrollen durch die Landespolizei durchgeführt. Auch wir gerieten in eine solche Kontrolle. Wir zeigten unsrer Dienstausweise und durften daraufhin sofort weiterfahren.

Die Werner Bretzler Halle war die größte Festhalle in Wismar. Als wir dort eintrafen, verstopften zahlreiche Einsatzfahrzeuge die Zufahrt zum Parkplatz. Es war das übliche Theater. Fahrzeuge der Polizei standen neben verschiedenen anderen Fahrzeugen.

“Die Kollegen aus Quardenburg sind offenbar auch schon hier”, meinte Rudi.

“Wildenbacher dürfte noch gar nicht wieder zurückgefahren sein”, warf ich ein.

Rudi zuckte mit den Schultern. “Wie auch immer.”

Wir zeigten einer uniformierten Beamtin unsere ID-Cards vor. “Gehen Sie ruhig weiter”, sagte sie. “Ich habe schon gehört, dass die Ermittlungen vom BKA aus geleitet werden.”

“So etwas scheint sich ja schnell herumzusprechen”, sagte ich.

An der Uniform stand ihr Name. Teresa Lautenbach lautete der. Sie trug ihre Haare zu einem Knoten, der dafür sorgte, dass ihr die Dienstmütze ziemlich tief im Gesicht saß. Sie hob das Kinn. “Ich schätze, der Täter war schon kurz nach dem Attentat auf und davon.”

“Wie kommen Sie darauf?”, fragte ich.

“Es gibt drei direkte Zufahrtswege nach Fellworn”, erklärte sie. “Sie sind wahrscheinlich von Norden her gekommen.”

“Richtig.”

“Es gibt die Autobahn, die in Richtung Sölzen führt und die Bundesautobahn im Süden, die direkt nach Wismar führt. Andere Wege kann man nicht nehmen, dazwischen ist Wasser. Und diese drei Verkehrswege wurden schon kurz nach dem Attentat abgesperrt.”

“Durch Kräfte der Polizei?”

“Genau. Jedes Fahrzeug ist kontrolliert und durchsucht worden. Es wurde nichts Verdächtiges festgestellt.”

“Der Täter könnte seine Waffe zurückgelassen haben.”

“Ich nehme sogar an, dass er das getan hat”, nickte Teresa Lautenbach. “Und was glauben Sie, wonach unsere Leute in den letzten Stunden wie verrückt gesucht haben! Aber Näheres dazu kann Ihnen sicher Hauptkommissar Krähenfelder sagen. Er hat unseren Einsatz hier geleitet. Sie finden ihn wahrscheinlich in der Halle.”

“Danke.”

“Ach ja, noch ein Tipp.”

“Und der wäre?”

“Gehen Sie den Kamerateams aus dem Weg, die hier im Augenblick herumschwirren. Die können ziemlich aufdringlich sein.”

“Wir werden uns Mühe geben”, versprach Rudi.

“Im Augenblick fragen die hier jeden Bewohner und jeden Angestellten in den Hotels, ob sie irgendetwas gesehen oder bemerkt haben und blasen das dann zu irgendeiner halbgaren Story auf, weil sie nichts haben, was auf Fakten beruht.”

Wir begaben uns ins Innere der Festhalle.

Ein paar Kollegen des Erkennungsdienstes waren hier noch zu finden. Im Wesentlichen war der Tatort vermutlich bereits abgespurt worden. Wie angekündigt trafen wir auch Hauptkommissar Krähenfelder dort.

Er unterhielt sich gerade mit einem Kommissar des BKA namens Sven Schmidt. Ich kannte Schmidt flüchtig. Er grüßte uns.

“Es läuft zurzeit eine großangelegte Befragung von Zeugen”, sagte Schmidt. “Wir werden von den Polizeikräften vor Ort dabei unterstützt. Jeder Angestellte, jeder Gast des Charity Diners und auch sonst wer, der möglicherweise irgendwelche Angaben machen könnte, wird eingehend vernommen. Aber das dauert natürlich seine Zeit.”

“Vergessen Sie nicht die Hotels”, sagte ich.

“Keine Sorge. Auch da sind bereits Kollegen im Einsatz.”

“Es könnte sein, dass sich der Täter schon längere Zeit vor der Veranstaltung hier irgendwie eingemietet hat.”

“Wir dachten uns, dass wir ein besonderes Augenmerk auf den Sicherheitsdienst legen sollten, der hier im Einsatz war”, meinte Kommissar Sven Schmidt.

Ich nickte. “Das wäre der nächste Punkt gewesen, den ich angesprochen hätte.”

“Wir haben bereits die Personaldaten der Mitarbeiter. Die Firma war sehr kooperativ.”

 

“Gut.”

“Sie bekommen natürlich die Daten zugeschickt.”

“Vor allen braucht unser Ermittlungsteam Erkennungsdienst in Quardenburg diese Daten, um sie nach statistischen Auffälligkeiten auszuwerten.”

“Kein Problem.”

“Ich kenne die Firma und ihren Inhaber seit langem”, mischte sich jetzt Hauptkommissar Krähenfelder ein. “Um ehrlich zu sein, empfehle ich sie jedem weiter, der einen entsprechenden Bedarf hat.”

“Dann halten Sie das Unternehmen für zuverlässig?”, fragte ich.

Krähenfelder nickte. “Der Besitzer heißt Calanoglu und ist ein Ex-Kollege. Wir haben etwa zur selben Zeit bei der Polizei angefangen.” Hauptkommissar Krähenfelder zuckte die breiten Schultern. “Calanoglu ist früh ausgestiegen und ich habe es bis zum Hauptkommissar gebracht. In den ersten Jahren dachte ich immer, er hätte einen Fehler gemacht. Inzwischen habe ich manchmal den Eindruck, dass es umgekehrt sein könnte.”

In diesem Augenblick zuckte ein Laserstrahl durch den Raum. Es war dieselbe Art von Laserpointer, wie sie auch bei Zielerfassungsgeräten benutzt wurde. Der Strahl kam von der Balustrade und traf Rudi genau in Brusthöhe.

“Wenn ich die Herrschaften da unten mal bitten dürfte, etwas zur Seite zu treten”, rief unterdessen eine Stimme von der Balustrade herab.

Ich konnte den Sprecher nicht sehen.

Da war nur eine Bewegung hinter dem schweren Vorhang, der die Sicht versperrte. Der Laserpointer strahlte durch einen Spalt dazwischen. “Also bitte! Ich weiß, dass man mein gepflegtes Deutsch in diesem Land, das durch die gemeinsame Sprache von meinem getrennt zu sein scheint, nicht immer so versteht, wie es wünschenswert wäre! Aber die geneigten Herrschaften würden mir wirklich sehr helfen, wenn Sie zur Seite träten!”

“Förnheim”, murmelte Rudi. “Ich dachte schon, Sie wollten mich erschießen!”, fügte mein Kollege noch laut genug hinzu, dass der hamburgisch-stämmige Forensiker aus unserem Ermittlungsteam Erkennungsdienst es eigentlich verstehen musste. Zumindest akustisch.

“Wenn Sie nicht sofort zur Seite treten, überlege ich mir das noch!”, rief Förnheim. “Irgendein Kollege hier im Raum wird sicher so freundlich sein, mir dafür seine Dienstwaffe zu leihen. Schließlich geht es um den zügigen Fortgang der Ermittlungen!”

Rudi trat augenblicklich zur Seite. Alle anderen aus der Gruppe folgten seinem Beispiel.

“Und wenn Sie sich jetzt noch bitte auf die Bühne hinter Ihnen an Tisch Nummer vier von rechts setzen könnten, Rudi!”, rief Förnheim. “Sie würden damit meinen Ermittlungen sehr helfen.”

“Wenn es der Verbrechensaufklärung dient…”, meinte Rudi, schwang sich auf die ungefähr einen Meter erhöhte Bühne und setzte sich an den Platz, den Förnheim ihm zugewiesen hatte. Markierungen zeigten an, wo der MdB zu Boden gegangen war. Dunkle Flecken von getrocknetem Blut waren deutlich sichtbar.

“Keine Sorge, dass ist alles abgespurt”, versicherte Hauptkommissar Krähenfelder. “Und davon abgesehen können wir ja wohl davon ausgehen, dass Ihr Forensiker aus Quardenburg genau weiß, was er tut.”

“Ich habe volles Vertrauen in ihn”, meinte ich.

Inzwischen war ein roter Laserpunkt exakt in der Mitte von Rudis Stirn zu sehen. “Vermeiden Sie es im eigenen Interesse, direkt in den Laser hineinzusehen”, rief Förnheim.

“Ich nehme an, ich sitze jetzt genau dort, wo sich MdB Johannes Moldenburg aufhielt, als das Attentat geschah”, meinte Rudi.”

“So ist es!”, bestätigte Förnheim. “Harren Sie bitte ein paar Augenblicke genau so aus und bewegen Sie sich möglichst wenig. Ich bin mit meinen Messungen gleich soweit.”

In diesem Augenblick betrat Dr. Gerold M. Wildenbacher den Raum. Ich hatte erwartet, dass er früher oder später hier auftauchte. Dass er Wismar seit dem Attentat gar nicht erst verlassen hatte, war mir ja schließlich bekannt.

“Soll ich mich vielleicht dazusetzen?”, rief er dröhnend.

“Tun Sie das, Gerold. Dann machen Sie sich hier jedenfalls etwas nützlich und stehen unseren Kollegen nicht unnötig im Weg.”

Wildenbacher nickte Krähenfelder und mir kurz zu. “Dann gibt es ja tatsächlich mal etwas, womit ich unserem Kollegen aus dem Heimatland der Teebeutel und des spitzen Steins eine Freude machen kann”, meinte Wildenbacher und setzte sich an den Platz, auf dem er auch an dem Abend des Attentats gesessen hatte.

Der Laserstrahl bewegte sich etwas. Er schwenkte seitwärts und traf jetzt Wildenbacher in Brusthöhe.

“Ich hoffe, Sie warten jetzt nicht, dass Rudi sich auf den Boden wirft, und ich mich um ihn kümmern muss!”, meinte Wildenbacher.

“Keine Sorge, davon gibt es eine ganze Menge aufgezeichnetes Video-Material!”, rief Förnheim. “Die Veranstaltung war ja bestens dokumentiert.”

Wildenbacher wandte sich unterdessen an Rudi. “Ich habe kurz dieses Flimmern gesehen, dann ist es passiert”, berichtete er. “Einer der Leibwächter hat sich auf den MdB gestürzt und selbst noch etwas abgekriegt. Ich habe mit ihm gesprochen.”

“Das werden wir auch noch müssen”, sagte Rudi.

“Das ging alles so schnell”, sagte Wildenbacher. “Und so sehr ich mich auch bemüht habe, das Leben des MdBs zu retten, weiß ich nicht, ob mir das am Ende gelungen sein wird. Er liegt im Koma und sein Zustand ist alles andere als gut. Der behandelnde Arzt ist ein Studienkollege von mir. Ich habe mit ihm von Arzt zu Arzt geredet, wenn Sie verstehen, was ich meine, Rudi.”

“Ich denke schon.”

Auf Wildenbachers Stirn bildete sich eine tiefe Furche. Seine Bedenken, was den Gesundheitszustand des MdBs anging, standen ihm ins Gesicht geschrieben. “Sein Zustand ist wirklich sehr ernst und ich fürchte, die Chancen stehen achtzig zu zwanzig gegen den MdB.” Wildenbacher atmete tief durch und fuhr dann fort: “Ich wusste schon immer, dass mein Talent mehr bei der Behandlung von Toten als von Lebenden liegt!”

“Okay, ich bin fertig!”, rief jetzt Förnheim. Der Laser wurde abgeschaltet. Er zog den Vorhang zur Seite, sodass man ihn auf der Balustrade sehen konnte. Förnheim ließ den Blick schweifen. “Gute Akustik hier.”

“Ja, man versteht Sie ohne Mikro!”, rief Wildenbacher.

“Das ist immer in erster Linie eine Frage der deutlichen Aussprache, verehrter Kollege!”, erwiderte Förnheim. “Aber davon weiß man in Bayern sicherlich nichts.”

“Das habe ich jetzt nicht verstanden! Muss an Ihrer Aussprache liegen!”, gab Wildenbacher zurück.

Wenig später hatte Förnheim die Balustrade verlassen und kam durch den Saal. Über seiner Schulter hing eine Tasche, in der sich vermutlich ein paar Utensilien befanden, die er für seine Untersuchungen brauchte. Rudi war inzwischen wieder vom Platz des MdBs aufgestanden, während Wildenbacher sitzen blieb und sehr nachdenklich wirkte. Mich wunderte das nicht. Wildenbacher galt zwar als jemand, unter dessen knochenharter Schale sich das Gemüt eines Schlachters verbarg, aber das war vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Die Tatsache, dass direkt neben ihm jemand Ziel eines Attentats geworden war, konnte wohl auch an ihm nicht spurlos vorbei gegangen sein, auch wenn er vielleicht nach außen hin den Eindruck zu erwecken versuchte.

“Gibt es irgendwelche neuen Erkenntnisse, die Sie uns mitteilen können?”, fragte Wildenbacher.

“Ich wusste gar nicht, dass Sie als Gerichtsmediziner in diesem Fall zurzeit überhaupt involviert sind”, gab Förnheim zurück. “Soweit mir bekannt, gibt es bis jetzt nur mehr oder weniger schwer Verletzte, aber keinen Toten, den Sie sezieren könnten, abgesehen von dem Wachmann. Und wir wollen doch beide hoffen, dass das auch so bleibt, oder?”

“Wenn Sie mir auf Ihre gedrechselte Art sagen wollen, dass Sie nichts herausgefunden haben, ist das auch in Ordnung”, gab Wildenbacher zurück.

Förnheim runzelte die Stirn und wandte sich an mich. “Es ist noch ein bisschen zu früh, um darüber zu reden, und über ungelegte Eier…”

“Tun Sie es trotzdem”, unterbrach ich ihn.