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ÜBER DEN AUTOR

Alexander Matyja, geboren 1965 in Mecklenburg Vorpommern, ist der jüngste Sohn einer Lehrerin und eines Werftarbeiters. Sein Bruder ist 7 Jahre älter als er und beide Brüder erleben ihre Kindheit und Jugendzeit getrennt voneinander. Vom Elternhaus kontrolliert behütet beginnt Matyja schon frühzeitig, sich seine eigene Welt zu konstruieren, um so Begebenheiten im wirklichen Leben besser begegnen zu können und Erläuterungen zum Erlebten zu bekommen. Diese selbst konstruierte Welt gaukelt ihm aber letztlich im Alltag immer wieder Situationen vor, die oft nichts oder nur sehr wenig mit der Realität zu tun haben. Er ist kein Tagträumer. Nicht jemand, der sich seine Welt rosa-rot malt und dann enttäuscht ist, wenn die Wirklichkeit eine andere Sprache spricht. Nein! Vom Elternhaus ohne Selbstvertrauen ausgestattet und anscheinend nie wirklich geliebt entflieht er in seine Wirklichkeit, die er versucht für sich und andere, zu seiner Welt umzugestalten. Die Unbedarftheit in seinem täglichen Handeln mutet amüsant an, ist aber letztlich nur ein Schutzmechanismus, um auf dem Weg zu richtigen und tiefen Gefühlen nicht kaputt zu gehen. Matyja durchläuft die Schulzeit, die Berufsausbildung, die Armeezeit und ein erstes Studium in der ehemaligen DDR. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gehörte er zu denen, die im Zusammenhang mit Kariere und Beruf vieles so gestalten konnten, um die neuen Herausforderungen gut bestehen zu können. Komplett auf der Strecke bleiben seine Emotionen, die verkümmert scheinen, und Bindungen, die er eingeht. Materielle Grundlagen ermöglichten es ihm zwar, durch die Zeit hindurch ein gutes Leben zu führen, aber letztlich verzichtet er in einem sehr emotionsgeladenen Abschnitt seines Lebens auf das Geschaffene, da er meint, jetzt die entscheidenden Hinweise bekommen zu haben, wie sein Leben fortan zu gestalten wäre. Matyja ging alle Verzweigungen seines Lebens aufrichtig, ehrlich, kompromisslos und oftmals sehr risikovoll, aber auch sehr blauäugig. In dem, was er in seinem Leben machen oder verändern wollte, war er ständig auf der Suche, um anzukommen und um tiefe und ehrliche Zuneigung zu erfahren. Matyja lebt nach einem weiteren großen Bruch in seinem Leben in der westlichen Provinz Polens und hat sich hauptberuflich im mittleren Management in Deutschland etabliert. Sein Ziel ist, so bald als möglich noch einmal alles hinzuwerfen und sich irgendwo, fernab des Stresses und der Verantwortung, am Wasser, und sei es das Beringmeer, niederzulassen.

Alexander Matyja

NACHRICHT VON IHR

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Mit diesen Zeilen möchte ich Mut machen,

dann und wann einmal über

das Eine oder Andere nachzudenken.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.

IMPRESSUM

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

SEIN ATEM STOCKT, DAS HERZ SCHLÄGT SCHNELL UND SCHWER. Seine Augen sind nur einen Spalt geöffnet, doch die Pupillen sind weit und wollen gierig aufsaugen, was um ihn herum geschieht. Durch die Außenjalousien dringt Mondlicht in den Raum und verleiht den Konturen einen zauberhaften Anstrich. Noch im Traum – oder schon erwacht? – nimmt er einen wehenden Schleier wahr, der einer Schönheit Kopf und Leib umhüllt. Es muss wohl doch ein Traum sein …

Sie schwebt auf ihn zu und umhüllt ihn mit Wärme. Ihr Lächeln ist ihm so vertraut, lässt ihn plötzlich Geborgenheit und nie erloschene Gefühle der Liebe und Zärtlichkeit ganz nah und tief spüren. Die blonden Haare, goldenen Engelshaaren gleich, die durch das Mondlicht zauberhaft glänzen, streichen sanft über sein Gesicht. Das kann nicht real sein. Er muss den Traum weiterträumen! Er darf auf keinen Fall erwachen! Die Angst, sie wieder zu verlieren, ist viel zu groß. – Bitte, träum weiter!

Er will diesen Traum weiterleben! Er darf nicht enden! Er will nicht, dass es ein Traum ist. Aber wenn es kein Traum ist, wo befindet er sich dann? Ist alles wieder auf Anfang gestellt? – Nein, das Zimmer existiert im Jetzt und Hier. Er ist in seinem Leben, er ist hier zu Hause.

Nur … was geschieht mit ihm in diesem Augenblick? Erlebt er doch einen Traum? Dann will er für alle Zeiten in ihm mit ihr gefangen sein. Alle Gefühle sind wieder da. Seine Sehnsucht nach ihr, und seine Schwäche, die dazu führte, dass er sie verlor. Die Angst, erneut zu schwach zu sein und sie wieder zu verlieren, ist gegenwärtig. Aber alle Last, sie verloren zu haben und die Trauer darüber, sind weggefegt durch diesen einen Hauch, der durch das Zimmer zu ihm schwebte. Trauer und Angst weichen hoffnungsvoller Zuversicht. Sie gibt ihm durch ihr Lächeln zu verstehen, dass alles gut wird, und dass sie alle Zeit der Welt und alle Zeit darüber hinaus haben, um den gemeinsamen Traum jetzt zu beginnen und zu leben. In ihm brennt ein unbeschreibliches Gefühl der Liebe, Hoffnung, Zärtlichkeit und der vollkommenen Erfüllung. Er hat keine Angst mehr, etwas verloren zu haben oder zu verlieren. Seine Gedanken überschlagen sich. Er liegt wie erstarrt, stiert erwartungsvoll und voller Verlangen auf das, was doch nicht sein kann. Ihre Lippen berühren mit sanftem Lächeln beinahe seinen Mund. Warum kann er ihren Hauch nur ahnen? Warum kann er sie nicht spüren und ihren Duft trinken, sich an ihm betrinken? Warum hat er nicht wenigstens eine Erinnerung daran, wie sie sich angefasst hat, wie sie duftete und auf seine Berührungen antwortete?

Das weit aufgeschlagene Tor der gemeinsamen Unendlichkeit scheint sich in diesem Moment zu schließen. – Das darf nicht passieren! Jetzt ist sie hier, sie ist zu ihm gekommen und das darf keine Illusion, keine Fantasterei, keine Traumbild sein, sondern soll sich im Leben, in welcher Form auch immer, für ewig wiederfinden. Dieses Gefühl wird nicht noch einmal schwächer werden! Der Abstand zu ihr wird geringer! Die Chance, dieses Glück zu fühlen, ist nicht zu beschreiben, nicht zu erklären.

Wiederum lässt ihn die Sorge nicht los, dass alles zerplatzt wie eine Seifenblase, nichts von den Gefühlen echt war und von Bestand ist. Immer größer wird der Abgrund, der sich vor ihm zu öffnen scheint. Aber … sie ist doch da. Sie scheint sich anschmiegen zu wollen, scheint ihn streicheln und ihm etwas zuflüstern zu wollen – und berührt ihn doch nur mit ihrem sanftmütigen Lächeln. Warum spürt er sie nur nicht? Warum kann er ihren Duft nicht einmal erahnen? Er fleht sich selber an, unverzüglich etwas wahrzunehmen! Er ringt um den Glauben an diesen tatsächlichen Moment und fürchtet zugleich, eine Tür zum Zwischenreich geöffnet zu haben, die sich jederzeit und unwiderruflich schließen könnte.

Seine Augen sind jetzt weit geöffnet. Er kann nicht sprechen, will schreien. Damit sie erkennt, wie es ihm geht. Das muss sie doch sehen. Sie muss doch wissen, dass er sie spüren möchte, und dass er ALLES von ihr will, und dass er ihr ALLES geben will, was so tief versunken und ausgelöscht scheint.

Sie strahlt ein Lächeln. Das ins Zimmer dringende Mondlicht spielt mit ihrem Schleier und gibt zurückhaltend preis, womit sie einst liebevoll kokettierte und was er sanft und zurückhaltend berühren durfte. Sind das tatsächlich ihre zarten, feinen und festen Kurven, über die sich ihr blondes Haar ergießt und dennoch freigibt, was zu schauen und zu begreifen so wunderbar in seiner Erinnerung brennt und nun so greifbar nah, nur einen Hauch von ihm entfernt ist?

Sag endlich etwas! Sag es jetzt, sag, dass uns nichts mehr trennen kann und wir für immer zusammenbleiben! Sag es jetzt! – Über ihre Lippen kommt keine Silbe. Er starrt sie an – und versteht immer weniger. Jetzt kommt die Angst. Versprich es!, will er schreien.

Sie ist so nahe. Sie soll ihn nicht mehr loslassen. Seine Angst wird stärker. Doch ihr Lächeln ist da. Er muss vertrauen. Sie lässt ihn nicht zurück. Sie bleibt. Er will sich gehenlassen, will sich nicht weiter anstrengen. Will den Moment als unendliche Zeit des gemeinsamen Miteinanders erleben. Will sie sicher und für immer bei ihm wissen. Er will sich keine Mühe mehr geben müssen. Er will beständige Sicherheit. Und die zeigt sie ihm auch deutlich, wie er glaubt. Klarer geht es nicht, nicht ernsthafter, nicht treuer, nicht liebevoller, nicht zuversichtlicher.

Er will auf keinen Fall aufwachen! Aber es ist doch gar kein Traum! – Sie soll etwas sagen, soll ihn fassen. Sie darf ihn nicht wieder zurücklassen, ohne ihr Lächeln, das sich so tief in ihm einbrannte, und ohne diesen Hauch, mit dem sie zu ihm kam. Oder erschienen ist? Also doch nur eine Erscheinung?

Gibt es das Zwischenreich? Wird sie ihm jetzt immer erscheinen, wenn er es will? Kann er ihr folgen? Muss er ihr folgen, um den unendlichen Traum zu leben? Damit sie beide sich fortan lieben können, sich stündlich, täglich und für immer ihrer großen Liebe hingeben? –

Wovon redet er? Sie ist lächelnd und anmutig schön zu ihm gekommen. Woher nimmt er die Zuversicht, dass sie auch will, wonach er sich so sehr sehnt? Er fleht sie an, etwas zu sagen. Soll er ihr folgen? Nimmt sie ihn mit sich und zeigt ihm den gemeinsamen Weg?

EIN KLEINES DORF IN DEN SIEBZIGER JAHREN IN MECKLENBURG VORPOMMERN. Im 19. Jahrhundert lebten hier, so hat es das Kirchenbuch festgehalten, fast 600 Einwohner. Als ich 14 Jahre alt war, waren es etwa eineinhalb tausend. Zu der Zeit gab es drei Dorfkneipen, drei Bäcker, einen Tanzsaal, eine Kaufhalle, zwei Konsumverkaufsstellen, eine Kirche, eine Schule, ein Landambulatorium, eine LPG der Tier- und Pflanzenproduktion sowie jede Menge Landwirtschaft in und um die Bauernhöfe und Wohnhäuser. Am Rande der Ortschaft führte die sogenannte „Hamburg–Berliner“ oder auch als F5 bekannte Fernverkehrsstraße vorbei, die heute Bundesstraße 5 heißt.

 

Die als Wendensiedlung gegründete Gemeinde ist als typisches Runddorf angeordnet. In der Mitte des Ortes stand eine riesige Eiche auf dem Marktplatz, der seinerseits ebenfalls von Eichen und Erlen umgeben war. Hier fand regelmäßig einmal im Jahr ein Rummel statt, mit Fahrgeschäften für Kinder und Jugendliche.

Im Abstand von zwei bis fünf Kilometern lagen die nächsten Ortschaften. In jede Richtung führten gut ausgebaute Straßen durch Wälder in die jeweilige Nachbargemeinde, wo wir Jugendlichen die angebotenen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung nutzten wie zum Beispiel den Besuch der Disco. Oder wir trafen uns mit Kumpel und Mädels.

Als Kinder fuhren wir im Sommer oft mit dem Fahrrad zwei Kilometer durch den Wald an einen Teich, um dort zu baden. In unserer Gegend, in den Wäldern und in den Ortschaften, kannten wir uns bestens aus. Die Leute in den Dörfern, besonders in unserer Gemeinde, kannten uns allerdings auch sehr gut. So mancher Unfug wurde deshalb auch gleich den tatsächlichen Verursachern zugeordnet, was wirklich sehr schnell gelang.

Wir liebten unser Dorf, wenn das auch niemand jemals so konkret ausgesprochen hat. Als Jugendliche fuhren wir mit unseren Mopeds durch die Gegend, kurvten auf der Motocross-Bahn herum und suchten regelmäßig „unsere“ Bushaltestelle auf. Dort quatschten wir, rauchten oder dachten uns Blödsinn aus.

Die Schule war für uns Jungs Nebensache. Ich kann mich nicht erinnern, irgendwann einmal konsequent und regelmäßig Hausaufgaben gemacht oder ernsthaft gelernt zu haben. So ging es den meisten Jungs aus der Clique. Trotzdem hatten wir alle immer einen recht guten Notendurchschnitt und verließen letztlich die Schule mit ansehnlichen Leistungen.

Unsere Clique, also die Jungs, das waren Rassel, Didi, Brenner, noch fünf Schulkameraden und ich. Seit der ersten Klasse waren wir mit anderen Mitschülern neben Schul- und Freizeitvergnügen noch in einer richtig guten Handballmannschaft vereint, die von einem engagierten handballerfahrenen Sportler aus unserem Ort trainiert wurde. Alle, mit Ausnahme unseres Freunds Brenner, den wir für sportliche Aktivitäten nicht begeistern konnten. Doch begleitete er uns gern zu den Spielen, hockte am Spielfeldrand und gab meist sinnlose Spielanweisungen. Mit abfälligen Bemerkungen über unsere Spielweise zog er sich dann meist zurück und rauchte eine Zigarette.

Bei Spielen auf unserem Sportplatz, umringt von Dorfbewohnern, die nun auch mal unsere positive Seite zu sehen bekamen, und bestaunt von immer reiferen Mädels, avancierten wir schon zu kleinen Stars.

Später vergnügten wir uns nach den Spielen, die immer im Zusammenhang mit dem Dorffest oder zentralen Sportveranstaltungen standen, mehr an dem, was der Wirt auf seinem fahrbaren Tresen auf dem Sportplatz anbot. Mit 15 wollten wir nur noch möglichst rasch und unbeobachtet mit dem Moped vom Sportplatz wegkommen, um schnell im Dorf zu sein, wo uns der Wirt in seinem Dorfkrug schon erwartete.

Mehrere Jahre hintereinander gewannen wir jedes Handballturnier und besiegten die Jugendlichen sämtlicher Nachbargemeinden. Wir trugen die Goldmedaillen stolz nach Hause, auch wenn es, zumindest bei mir, von den Eltern unbeachtet blieb. Ich hängte sie in meinem Kinderzimmer an der Wand auf.

Im letzten Jahr unserer sportlichen Wettstreite wurde jedoch alles anders. Auf dem Spielfeld langweilte sich nun eine müde Showgruppe, die sich, von zeitweisem Aktionismus gepackt, die Bälle zuwarf und hier und dort doch noch zu einigen Torerfolgen kam. Handball war uns egal geworden. Wir hatten schon längst unsere Interessen anderweitig ausgerichtet und uns dem weiblichen Geschlecht und sonstigen Gelüsten zugewandt.

In der Dorfturnhalle, zu der ich einen Schlüssel besaß, trafen wir uns abends regelmäßig, um rumzumachen und um Bier und Wein zu trinken. Die Direktorin unserer Schule, Frau Karrnagel, hing bis zuletzt dem Glauben an, wir würden bis spät in den Abend Federball spielen. Dabei starteten wir von hier aus lieber unsere Ausflüge in die Nachbargemeinden oder blieben auch da und machten es uns auf den Sportmatratzen bequem, laberten oder knutschten rum.

DURCH MEHRERE NACHBARDÖRFER FÜHRTE EINE STARK BEFAHRENE BAHNSTRECKE. Den größten Schrecken bereitete uns die Vorstellung, die wir uns eigentlich völlig grundlos ausmalten und mit Gänsehaut gequält belachten, mit unseren Mopeds in einem der Nachbarorte vor einer geschlossenen Bahnschranke stehen bleiben zu müssen. Die Angst, plötzlich herbei stürmenden Burschen aus der jeweiligen Gemeinde ausgeliefert zu sein, die sich genüsslich für die letzten Pöbeleien und Beleidigungen während einer der zurückliegenden Discotheken rächen würden, war uns immer gegenwärtig. Doch es wäre wahrscheinlich keiner der Burschen auf die Idee gekommen, so etwas durchzuführen. Doch fanden wir es sehr gruselig, immer mal wieder solch ein Szenarium durchzuspielen. Unser Verhältnis zu den Jungen aus den Nachbarorten, das ja nie so richtig problematisch war, änderte sich auch mit der Zeit und wir gewannen an Nähe zueinander, was wohl damit zusammenhing, dass sich Partnerschaften zwischen den schärfsten Mädels und Jungs aus den verschiedenen Gemeinden schlossen. Plötzlich waren wir eine lockere Gemeinschaft, die besonders außenwirksam auf den diversen Tanzveranstaltungen auf dicke Kumpel machte, was bei der geneigten Damenwelt außerordentlich gut ankam. Es war so auch einfach stressfreier, was wir uns natürlich öffentlich nicht eingestanden. So tranken wir mit den Typen, mit denen wir seit Jahren völlig grundlos verfeindet waren, plötzlich literweise Bier zusammen.

Wir unternahmen gerne im Sommer nach Tanzveranstaltungen gemeinsame Ausflüge in die zwischen zwei Gemeinden liegende Badeanstalt. Dort versteckten wir unsere Mopeds im Wald, stiegen über den Zaun, gingen schwimmen und taten so, als ob das Schwimmbecken unser privater Swimmingpool wäre. Das fanden wir alle wirklich lustig. Völlig fertig und immer noch heftig angetrunken verabschiedeten wir uns schließlich und fuhren auf unseren Mopeds in die jeweiligen Heimatgemeinden nach Hause.

Einmal endete nach so einer durchzechten Nacht mit anschließendem Badespaß die Heimfahrt von zwei meiner Kumpel und mir abrupt durch das Winken einer rot leuchtenden Haltekelle der Volkspolizei an der Hamburg– Berliner, die wir überqueren wollten. Schöne Scheiße. Also Licht aus, umgedreht und mit Vollgas zurück zur Badeanstalt. Wir fuhren lange Zeit quer durch die Wälder, bis wir endlich eine Möglichkeit fanden, ungesehen die Fernverkehrsstraße zu überwinden und in unser Dorf zu gelangen. Das hatte prima geklappt und war Gesprächsstoff in den nächsten „Tagungsdebatten“, wie wir scherzhaft unsere alkoholhaltigen Wortgefechte in den Zusammenkünften nannten.

Auf einer dieser Tagungen entstand die Idee, einen „Alkoholdienst“ zu gründen. Das sollte eine Art von Dachverband sein, unter dem wir Jungs uns zusammenfanden und über den wir versuchten, uns zu definieren. Auf diesen Alkoholdienst stießen wir nun stets an und schworen uns ewige Treue und Verbundenheit, wen oder was auch immer wir damit meinten.

Es war so viel los, das Leben bestand für uns ausschließlich aus Spaß und guter Laune, wie wir meinten. Für Außenstehende war das sicher nicht zu verstehen. Aber egal, wir wollten niemanden bekehren. – Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie wir neben den Unternehmungen und Debatten auch noch zu Freundinnen kommen konnten. Doch meine erste Liebe hielt immerhin von der Schule über die Ausbildung bis zur Armeezeit bei der Marine und endete jedoch dann knallhart. Zum Scheitern verurteilt war diese Beziehung schon von Anfang an, was ich aber damals nicht wusste und auch nie geglaubt hätte.

Die Schulzeit selber war unspektakulär. Wir versuchten Stunde um Stunde einigermaßen gut rumzukriegen. Dabei beschossen wir uns mit durchgekauten Papierkügelchen oder malten Karikaturen, die wir uns heimlich zuschoben. Dann zerriss es den Absender beinahe, wenn der Empfänger sich vor Lachen fast in die Hose machte und damit natürlich dem jeweiligen Lehrer negativ auffiel. Das war der eigentliche Spaß daran, den anderen so zum Lachen zu bringen, dass er aus der Reihe der brav Lernenden herausfiel und plötzlich wie ein Idiot losschrie und sich kaum noch halten konnte. Das Ganze wurde noch dadurch gekrönt, wenn der Absender des Textes oder der Karikatur sich empört beim Lehrer beschwerte und diesen anhielt, dem Lachen und Toben des Empfängers doch bitte ein Ende zu setzen. So könne man schließlich nicht lernen. Oft reagierten Lehrer darauf mit dem Angebot, dass die beiden Störer gern den Unterricht verlassen und die Zeit nach Schulschluss nachholen könnten. Den Unterricht zu verlassen war ja in Ordnung, aber sich den Nachmittag verderben? Lieber nicht.

Spätestens ab der siebten Klasse hatte jeder von uns Jungs, der etwas auf sich hielt, eine Thermoskanne voll mit Tee oder Bohnenkaffee in den Unterrichtsstunden dabei. Neben dem Frühstücksbrot, welches uns die Muttis immer noch konsequent mitgaben, genossen wir unsere Heißgetränke. Besonders in der kalten Jahreszeit, wenn wir nach der Pause vom eisigen Schulhof kamen oder vom Rauchen auf der außerhalb des Schulhauses liegenden nach Urin stinkenden Toilette.

AN EINEM TAG, ES WAR WOHL DIE DRITTE ODER VIERTE STUNDE, entglitt im Geschichtsunterricht unser bis dahin so standhafter Tagungskollege und Mitbegründer des Alkoholdienstes, unser Freund Brenner. Diesen Namen hatte er nach einem Fernsehabend von uns erhalten, als wir einen amerikanischen Film sahen, in dem während der Prohibition ein völlig durchgeknallter Typ Whiskey brannte, irgendwo in der Wildnis, und ihn an Farmer verkaufte und Kneipen in der umliegenden Gegend, wobei er sich selbst immer ordentlich mit einfüllte.

Brenner, der immer alleine und in der ersten Bankreihe saß, fing plötzlich an, die von unserer Geschichtslehrerin geschilderten historischen Abläufe in Frage zu stellen. So relativierte er Ursachen und Ausgangspunkte barbarischer Kriege und deren Verläufe und Ausgänge und stellte sie in einem sehr schrägen Kontext neu dar. Er bezog sich dabei auf geheime Schriften und versuchte sich in waghalsigen Erklärungen. Er schilderte die verrücktesten Eingebungen, die er erfahren hätte und die man nicht einfach so abtun könne, sondern, darauf bestand er, die man hier ausdiskutieren müsse.

Da wurden wir aus den hinteren Reihen ebenfalls aktiv, unterstützten seine Überlegungen und Theorien, indem wir interessiert taten, nachfragten und uns dämlich und unwissend stellten. Ähnlich Wissenschaftlern, die neue Erkenntnissen erhalten und nun nicht umhin können, diese irgendwie einzuordnen und ihnen letztlich auch etwas abzugewinnen.

Normalerweise hörten wir von unserem Brenner in den Unterrichtstunden nicht viel mehr als die eine oder andere Äußerung, wenn er denn vom Lehrer dazu aufgefordert wurde. Ansonsten döste er meist vor sich hin und trat auch nicht mit uns in irgendeinen albernen Diskurs, um die Mitschüler zum Lachen zu bringen. Nach lang anhaltenden Lachsalven, in die sogar manche Lehrer einstimmten, drehte er sich meistens mit einem müden Lächeln zu uns um und bescheinigte uns mit der Geste des Vogelzeigens, was er von unserem kindlichen Rumgemache hielt.

Jedoch in dieser – später in vielen Tagungen hundertfach debattierten – Unterrichtsstunde war alles anders als sonst. Es schien, als ob der Vater aller wissenschaftlichen Erkenntnisse zu uns gekommen sei, um uns die Augen zu öffnen. Als müsste er uns wissenschaftlich und philosophisch erläuternd klarmachen, dass wir alle erkenntnislos seien und nicht sehen würden, was doch so unzweifelhaft wäre. Wir staunten, dass er seine Ausführungen so flüssig, so nachhaltig und energisch und nicht enden wollend hervorbrachte. Er erhob sich sogar, schob Stuhl und Bank zur Seite, wandte sich von der ungläubig dreinschauenden und abwiegelnden Geschichtslehrerin ab und drehte sich uns aufmerksam zuhörenden Schülern zu. Wie ein Verkünder, so schien es, wandte er sich dem ungläubigen Volk zu. Mit einer weitausladenden Handbewegung über unsere Köpfe hinweg gab er uns – ohne dazu eine Silbe zu verlieren – zu verstehen, dass wir seine Jünger wären.

Gebannt sahen wir zu unserem Meister auf. Das Gejohle verstummte und nach einer weiteren Stellungnahme zu aktuellen politischen Vorgängen, interpretiert durch seine offenbar gestörte Wahrnehmung, erstarb auch das letzte alberne Kichern. Wir sahen uns schulterzuckend an und grinsten blöde. Und erneut hob er an, trug die Zusammenhänge zwischen heutigen gesellschaftspolitischen und den urzeitlichen Formen des zwischenmenschlichen Miteinanders vor.

 

Anfangs konnten wir ihm noch folgen, ich kaufte ihm auf jeden Fall einige seiner Schilderungen und Erklärungen ab. Aber letztlich blieb die Frage, was hier eigentlich geschah, mit Brenner, mit der Geschichtslehrerin, mit uns? Dann schienen die Statements, seine Weissagungen und Argumente, aber insbesondere seine Aussprache und seine Standfestigkeit im wahren Sinne des Wortes ins Wanken zu geraten.

Brenner wurde rot im Gesicht und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Wir dachten zunächst, er hätte sich heiß geredet. Aber da lagen wir völlig falsch, oder vielleicht nicht ganz, denn das war es wohl auch. Doch unser Brenner verlor plötzlich den Halt, er stürzte kopfüber zwischen Schulbank und Stuhl und verrenkte sich an der hinter ihm stehenden Schulbank den Arm, den er bis zum Absturz wohlwollend der staunenden Masse entgegengestreckt hatte. Er schlug hart mit seinem Kopf auf den mit Gummiauslegeware überzogenen Betonfußboden und zog sich eine Platzwunde zu. Sein Blut ergoss sich über sein Gesicht und floss auf den Fußboden.

Die Mädels, die ihrem Meister eben noch voller Ehrfurcht und völlig überrascht gefolgt waren, sprangen nun von ihren Plätzen auf und zur Seite, um der Blutlache und etwaigen Spritzern zu entgehen. Unsere Geschichtslehrerin schrie fassungslos immer wieder seinen Namen, sprang zu ihm und machte Anstalten, ihn zum Liegenbleiben zu bewegen. Für uns Jungs ging nun absolut die Post ab. Unser Alkoholdienstpräsident – zu dem er aufgrund dieses Ereignisses in einer unserer folgenden Tagungen gekrönt wurde – war abgestürzt, während er seine hochgelobten Botschaften unter das unwürdige Volk gebracht hatte. Nur wir, vom Tagungsteam des Alkoholdienstes, waren auserkoren, dem Meister die erforderliche Unterstützung und den notwendigen Beistand zu geben. Außerdem rechneten wir uns sofort aus, dass wenigstens für zwei von uns der heutige Schultag beendet sein würde. Denn eine Eskorte zum Arzt und anschließend zu Brenner nach Hause musste unbedingt herausspringen.

Wir preschten also nach vorne. Einer griff sich den mit Tafelkreide vollgestaubten Tafellappen und versuchte damit, die immer noch stark blutende Wunde abzudrücken. Ein Gemisch aus Blut und Kreidestaub strömte über sein Gesicht und mündete in einer kalkartigen roten Brühe auf dem Fußboden. Brenner nörgelte uns an, wir sollten von ihm ablassen, er hätte alles unter Kontrolle. Er versuchte sich aufzustützen und richtete sich dann langsam auf. Nun stand er wieder, stand schwankend vor den entsetzt dreinschauenden Mitschülern. Der blutige Kalkbrei lief ihm über das Gesicht und weiter bis in und über seine Klamotten. Er stand da und sah aus wie ein taumelndes Urzeittier, das eben seinen Kopf aus dem Körper seines Opfers gezogen hatte, um sich kurz zu strecken, zu rülpsen und dann weiter zu fressen. Wären uns Zombies damals schon ein Begriff gewesen, wir hätten jetzt ein Bild von ihnen gehabt.

Endlich gelang es uns, unsere Lehrerin zu beruhigen, wir nutzten ihren Schockzustand aus, worauf sie gleich vier Jungs von uns gestattete, Brenner zum Arzt zu begleiten, der die Wunde versorgen sollte.

Stunden später, bei Brenner zuhause, riefen wir eine Tagung ein. Wir tranken, rauchten, machten unsere Späße, bis Brenner schließlich meinte, er empfinde nur noch Schmerz, wenn er lachen müsse. Nun klärte er uns auf und erzählte uns, dass er den Kaffee in seiner Thermoskanne mit Rum gemischt und dazu auf nüchternen Magen getrunken habe. Da er sich dabei gründlich überschätzt hatte, schwor er sich, zukünftig nicht ohne ein ordentliches Frühstück das Haus zu verlassen. Dieser Überlegung stimmten die Experten in der nun recht fröhlich gewordenen Runde absolut zu, denn keiner wollte sich vorstellen, was noch Schlimmeres hätte passieren können. Mit dieser Aktion hatte sich Brenner bis in alle Ewigkeit den Ehrentitel „Präsident des Alkoholdienstes“ nach übereinstimmender Meinung aller Tagungsteilnehmer unbedingt verdient.

Seine fachmännisch behandelte Wunde veränderte sich zu einer verkrusteten Geschwulst, welche allmählich ringsherum verschiedene blaue, gelbe und grüne Farbtöne annahm. Noch Wochen danach profitierte Brenner davon, denn nun hatte er endlich einen Grund, durchgehend eine seiner Sonnenbrillen tragen zu dürfen, die durchweg so aussahen, als hätte er sie seiner Oma geklaut. Er fand sich mit diesen Dingern äußerst lässig, wirkte aber eher total bekloppt.

ALS ER MONATE VOR DIESEM ABSTURZ EINES MORGENS, natürlich mal wieder viel zu spät, mit einem dieser Nasenvehikel in den Unterricht kam, forderte der Lehrer ihn auf, das alberne Ding von der Nase zu nehmen. Brenner winkte jedoch müde ab und erklärte, er hätte sich am Vorabend bei Schweißarbeiten die Augen verblitzt und müsse nun ein paar Tage eine Sonnenbrille tragen.

Wahrscheinlicher ist, dass er am Vorabend, natürlich im Westfernsehen, einen Typen mit so einer Brille gesehen hatte, der damit cool wirken sollte. Dem schien das sicher auch gelungen zu sein, Brenner leider nicht.

BRENNER MACHTE SICH NACH SEINEM AUSFALL GROßE SORGEN UM SEINE THERMOSKANNE. Die hatte jedoch einer von unseren Jungs sichergestellt, sodass sein erheblicher Alkoholkonsum in der Schule, während des Geschichtsunterrichts, auch nach intensiven Recherchen der Lehrerzunft und der Direktorin Karrnagel nie aufgedeckt wurde, bis die Ermittlung schließlich im Sande verlief.

Brenner äußerte nach seiner Rekonvaleszenz in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber der Karrnagel etwas von spätpubertären Auffälligkeiten mit kurzzeitigem Gedächtnisverlust, Unwohlsein, Hitzewellen und temporären Ohnmachtsanfall.

AUF UNSEREN TAGUNGEN GAB ES IMMER WIEDER HITZIGE DEBATTEN über ehemalige und aktuelle Beziehungen und Erlebnisse. Dabei neigten wir allerdings nicht zur Übertreibung, dazu kannten wir uns einfach zu gut. Niemand hätte dem anderen eine zu übertriebene Episode abgekauft oder eine Begebenheit, die über die Vorstellung und dem selber Erlebten ging.

Es wurde kurz, minuziös und mit einem verschmitzten Kräuseln um die Lippen berichtet. Mit den Mädels desselben Jahrgangs reichte es zumeist nicht über eine kurze Affäre hinaus, was vielleicht gar nicht so schlecht war. Sicher gab es auch längere Beziehungen zwischen einigen Klassenkameraden und richtige Pärchen, aber diese Beziehungstäter gehörten nicht zu unserer Clique.

Nachdem die meisten von uns die Fahrerlaubnis bestanden und manche sogar von ihren Eltern mit Mopeds ausgestattet worden waren oder sie sich von den Eltern, Großeltern oder älteren Geschwistern ausleihen durften, veränderte sich schlagartig unser Wirkungskreis. Von unserem kleinen Nest an der Fernverkehrsstraße lagen die Kleinstädte nach Westen und Norden jeweils etwa zwanzig Kilometer entfernt und waren mit Mopeds gut zu erreichen. Das eine Städtchen lag direkt an der Elbe, das andere zwischen Kuhblöken in der Idylle der typisch mecklenburgischen Landschaft. Zu dem Ort an der Elbe hatten wir eine besondere Affinität. Denn dort gab es viele nette Mädels. Die Burschen kamen uns wie Weicheier vor, die mit uns Dorfjungen nur dicke Kumpel sein wollten. Na gut, wir ließen uns darauf ein, womit wir uns voll und ganz den bereitwilligen Mädchen widmen konnten. Richtige und feste Beziehungen erwuchsen daraus nicht, doch das war wohl allen Beteiligten von Vornherein klar.