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Wir nahmen noch einen großen Hieb aus der Flasche, versteckten sie im Betonpapierkorb, zogen tief an unseren Zigaretten und rauschten mit dem Moped zu Mühlhammers, die im Nachbarhaus meiner Freundin in der Ärztehaussiedlung wohnten. Geschwind parkten wir vor dem Haus und klingelten an der Tür. Nichts passierte. Wir klingelten noch einmal, und dann noch mal, quälten energisch und immer länger die Klingel, bis sich schließlich ein stummer, sehr bleicher unrasierter Typ zeigte, den wir erst nach zweimaligem Hinsehen als unseren Deutschlehrer erkannten.

O-oh, das war kein gutes Zeichen, das war nicht schwer zu erraten. Mit einem gequälten Lächeln und einer ordentlichen Alkohol- und Nikotinstandarte begrüßten wir ihn überschwänglichen und bemühten uns redlich, ihm zu erklären, dass wir beide, Rassel und ich, mit der Kartengeschichte rein gar nichts zu tun hätten. Trotzdem interessiere uns, ob wir vielleicht irgendwie behilflich sein und etwas tun könnten. Wir wüssten zwar nicht, wer sich hinter dieser Angelegenheit verberge, würden aber Augen und Ohren offenhalten. Wir hätten in der Schule davon erfahren, es jedoch nicht für erforderlich gehalten, diesem ungehörigen Vorfall eine Beachtung zu schenken.

Hätten wir mal lieber nichts getrunken und dafür unsere Gehirne eingeschaltet. Dann wäre uns spätestens jetzt klar gewesen, dass es völlig überflüssig und zudem höchst unklug war, ungefragt zu erklären, dass wir an etwas NICHT schuldig wären. Entsprechend reagierte unser Gegenüber. Zu tiefst skeptisch über das Gehörte starrte er uns eine Weile an, bis er uns mit gebrochener Stimme riet, unverzüglich das Grundstück zu verlassen. Doch wir hörten nicht auf, uns als die Guten zu präsentieren, die gar nicht verstehen würden, warum er so kalt reagiere. Da brüllte er los wie ein Irrer, sodass wir Sorge hatten, jeden Moment würden seine Augen aus dem Schädel springen und Satan selber jage heraus und besudle uns von oben bis unten mit stinkendem Erbrochenem.

Da begriffen wir es endlich, hier war nichts mehr zu holen, kein Gespräch möglich, das merkten wir sogar in unserem benebelten Zustand. Der Mann war völlig derangiert. Das zerstörte unseren letzten Hoffnungsschimmer, die Lage war aussichtslos. Plötzlich wurde Mühlhammer ruhig, lächelte idiotisch, bat uns höflich zu gehen und schloss leise die Haustür.

Ach, warum hat er uns nicht wenigstens eine reingehauen, ich hätte mich gern dafür zur Verfügung gestellt. Dann wäre die bedingungslose Kapitulation nicht nötig gewesen und wir hätten uns auf einen Handel einigen können. Aber nein, er tat es nicht und für uns gab es nun kein Entkommen mehr, wir waren eingekesselt. Doch halt, eine Hoffnung gab es noch, Frau Pollmann. Wild gestikulierten wir zum Abschied vor dem Haus, demonstrierten unsere scheinbare Bestürzung in dem sicheren Wissen, der Pauker würde uns von seinem Fenster aus beobachten. Wir wollten in ihm ein schlechtes Gewissen hinterlassen, weil er so mit uns umgegangen war. Insgeheim grinste ich, das alles hatte sich ja schon deshalb gelohnt, weil wir zum ersten Mal gesehen hatten, wie unser Deutschlehrer die Beherrschung verlor.

Doch unsere Show war noch nicht zu Ende. Wir stiegen aufs Moped und preschten zur Pollmann, die uns schon zu erwarten schien. Geduldig und ohne eine Miene zu verziehen hörte sie sich unsere Geschichte an und vernahm, wie ungerecht uns Mühlhammer behandelt hatte. Nachdem wir uns in Rage geredet und alles ausposaunt hatten, versuchten wir – ebenfalls filmreif – wieder zur Ruhe zu kommen und warteten gespannt, wie sie reagieren würde.

Sie meinte sehr ruhig, zu ruhig, wir sollten in unserem Zustand keinesfalls mehr mit dem Moped fahren. Und alles das, was wir ihr erzählt hatten, sollten wir in der Schule mit allen Beteiligten, den Eltern und der Direktorin, besprechen. Dann zog sie sich zurück und schloss ganz leise und behutsam die Tür hinter sich. Ich drehte mich verdutzt zu Rassel um und fragte ihn, was denn mit der los wäre. Wütend quatschte ich auf ihn ein, dass ich mir so ein Verhalten von ihr, und erst recht von ihr als unsere Klassenlehrerin, nicht gefallen lassen würde. Das sagte ich so laut, dass sie es auf jeden Fall hören musste. Rassels Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und er tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn. Damit gab er mir zu verstehen, dass ich endlich das Maul halten sollte. Er hatte die Situation wohl erkannt und die Sinnlosigkeit unseres Vorhabens. Ich herrschte ihn an, ob er jetzt auch verrückt geworden wäre, eine Kapitulation käme ja wohl nach wie vor nicht in Frage.

Langsam dämmerte es, allmählich wurde auch mir klar, wie bescheuert unsere ungefragten Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche waren. Wir glaubten doch nicht tatsächlich, dass Didi unsere Namen verraten hatte? Und selbst wenn? Wir können doch alles abstreiten. Ebenso wie die anderen Jungs. Didi hat es halt erwischt. Dumm gelaufen. Er hätte alles auf sich nehmen und uns herauslassen können. – Aufgrund der väterlichen Verhörmethoden, wie er später berichtete, war ihm das nur bis zu einem bestimmten Punkt gelungen. Na ja, er hat es wenigstens versucht.

Unsere Besuche kamen einer Selbstanzeige gleich. Wir waren vom Zehnmeterturm abgesprungen und hatten zu spät bemerkt, dass das Schwimmbecken leer war. Kein Wasser drin, nicht ein Tropfen. Rettungsfallschirm? Keiner dabei. Der Aufschlag stand kurz bevor. Vielleicht konnte der Aufprall durch familiäre Unterstützung etwas abgefedert werden? Rassel und ich beschlossen, mindestens zu Hause reinen Tisch zu machen und nachher dem zu harren, was auf uns zukommen würde.

Aufgrund des allgemeinen Getuschels im Dorf sorgte unser Geständnis bei den Eltern natürlich nicht für Beifallsstürme, sondern für nüchterne Kritik, und ein Lächeln, das allerdings nur im Schutze unserer vier Wände. Das war es. Ganz anders als die Auswertung in der Schule. Es wollten uns nämlich einige der Genossen von der Schule verweisen und auf eine Schule in der Nachbargemeinde versetzen. Grundsätzlich keine schlechte Idee, mit der wir in Hinsicht auf die dort lernenden Mädels wahrscheinlich einverstanden gewesen wären. Nach leidenschaftlicher Intervention unserer Eltern wurden dann ein Schulverweis daraus und im Halbjahreszeugnis in Betragen eine Vier.

Der Schulverweis wurde öffentlich ausgesprochen, indem die Schüler aller Jahrgangsstufen zum Fahnenappell antreten mussten. Dort brüllte die Freundschaftspionierleiterin und Lehrerin für Staatsbürgerkunde alle anwesenden Schüler an, sie mögen stillstehen. Sie rief uns Delinquenten einzeln vor und verlas den Verweis. Rassel meinte später in der Auswertungsdebatte beim Wirt, dass er mit dem Gedanken gespielt habe, zurückzufragen, ob er nun stillstehen oder nach vorne zur Urteilsverkündung kommen soll. Das hätte ihm auf jeden Fall die Sympathie und das Lachen der gesamten Schülerschaft eingebracht.

Ich grübelte zwischenzeitlich schon darüber nach, warum die Beteiligten eigentlich alle so ein Fass aufgemacht hatten. Hätten sie geschwiegen, wäre alles gut gewesen, nur wir hätten uns geärgert, dass unseren konspirativen Bemühungen nicht die gebührende Beachtung geschenkt wird.

Diese Rechnung ist allerdings ohne die Direktorin Karrnagel und Deutschlehrer Mühlhammer gemacht, der natürlich anfangs am liebsten alles im Verborgenen gelassen hätte. Doch die Genossin Karrnagel wollte unbedingt allen antisozialistischen Machenschaften den Garaus machen und solche Kräfte mit Stumpf und Stiel ausmerzen. Das reizte wiederum, ob nun tatsächlich oder vorgetäuscht, den Herrn Mühlhammer. Obwohl die Karrnagel letztlich sich selber, ihrem Kollegen Mühlhammer und der armen Frau Frohrieb damit ins Knie schoss. Na ja, vielleicht konnte man als Genosse nicht anders als Täter zu ermitteln und öffentliche Urteile zu fällen, schon wegen der Abschreckung von Nachahmern. Der Schulrat wurde vermutlich auch damit zufriedengestellt.

Wahrscheinlich hätten wir aber bei konsequenter Negierung unserer Aktion noch einen draufgesetzt. Womöglich hat sich die Direktorin davon leiten lassen, um dem auf jeden Fall vorzubeugen.

Nun denn, das Schlimmste schien überstanden zu sein, es hat uns wirklich nicht sehr berührt. Doch das Schlimmste kam erst noch. Wir hatten nämlich während des schulinternen Diskurses bezüglich unseres Strafmaßes angeboten, uns selbstverständlich bei Frau Frohrieb zu entschuldigen. Und das war nun tatsächlich viel leichter gesagt als getan.

An einem Sonnabend gegen zwölf Uhr war es so weit. Wir, Rassel, Didi und ich, fuhren zum Haus der gepeinigten Familie und klingelten. Frau Frohrieb ließ uns ein. Sie war gerade dabei, für sich und ihre beiden Kinder das Mittagessen vorzubereiten. Es roch lecker nach gebratenen Klopsen. Ihr Mann war zum Glück nicht da. Sie bot uns etwas zu trinken an, war ganz still und sah uns fast verschämt an. Mir blieb die Luft weg. Ich hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, jeden Moment losheulen zu müssen. Nie zuvor hatte ich mich so mies gefühlt. Mit ersterbender Stimme entschuldigte ich mich für das, was wir angerichtet hatten. Die Jungs murmelten ebenfalls was von Leidtun und Verzeihung. Diese starke Frau entgegnete uns, dass sie es damit belassen wolle. Sie bedankte sich und fragte auch noch, ob wir mitessen wollten. Ich habe mich noch nie und nie wieder so elend gefühlt.

NUN WAREN WIR ALSO IN DIESEM LAGER ZUR BUßE UND ABBITTE. Fünf Tage lagen vor uns, wobei der erste der Anreise- und der fünfte schon wieder der Abreisetag war.

Die Holzbungalows und die Doppelstockbetten aus Stahl schienen soweit in Ordnung zu sein. Jeder Bungalow verfügte über eine Holzterrasse mit Dach. Von unserer aus hatten wir einen ausgezeichneten Blick auf die gegenüberliegenden Terrassen der Mädchen. Die anderen Jungs aus dem Lager waren uns von Anfang an ziemlich egal. Sie waren sicher politgeile Führungshengste mit Funktionen wie Freundschaftsratsvorsitzender oder Stellvertreter des Freundschaftsratsvorsitzenden oder Schriftführer des Freundschaftsrates oder ähnlich Hochbegabte aus diesem Milieu.

 

Rassel und ich steckten uns zunächst einmal eine Zigarette auf der Terrasse an. Unsere Betten hatten wir schon in der unteren Etage und weit hinten im Bungalow ausgesucht und bezogen. An diesem ersten Tag ging es nur um das Ankommen und Beziehen der Bungalows, das erste Kennenlernen, die Grundeinweisungen und das Abendessen. Einer der jungen Funktionäre aus unserem Bungalow eröffnete uns, dass wir einen Gruppenleiter wählen müssten und uns jeden Morgen zum Appell vor unserem Bungalow einzufinden und die aktuell politischen Nachrichten vom Vortag auszuwerten hätten. Der Typ schien das völlig ernst zu meinen. Rassel und ich schauten uns an, machten es uns auf der Brüstung unserer Terrasse bequem, zogen heftig und tief an unseren Zigaretten, schmunzelten, schauten gespannt auf die gegenüberliegenden Terrassen und verfolgten die Show dort drüben, die auf jeden Fall aufregender und interessanter war als die Botschaften dieses armen Idioten. Wir beachteten ihn nicht weiter, nach meiner kurzen Rückbotschaft, dass er das alles einfach vergessen soll. Er erwiderte, das sei dem Anliegen unseres Aufenthaltes in diesem Lager und dem damit verbunden Auftrag nur angemessen und wir sollten uns nicht verweigern. Ich glaube mich dunkel zu erinnern, dass Rassel tierisch rülpste, woraufhin wir heftig kichern mussten. Die Mädels in den fünf Bungalows schickten sich eben an, sich in Position zu bringen und die männlichen Nachbarn auf unserer Seite anzumachen, natürlich scheinbar ohne sie zu beachten.

Ich stieß Rassel an und bemerkte, dass es wohl mit dem Lustig-im-Kreis-Umhertanzen und Luftballons-Aufblasen nichts werden würde. Er sah mich stumm an, grinste und schaute sofort wieder auf das gegenüberliegende Programm. Die Mädels sahen aus, als wollten sie geradewegs zur Party gehen, so hatten sie sich rausgeputzt und geschminkt. Alle möglichen Typen waren darunter: dicke, auch ranke und schlanke, anscheinend etwas blödere, doch auch pfiffige, Mädels mit Dackelbeinen und welche mit scheinbar kilometerlangen Extremitäten, mit großen auch mit kleinen aber immer feinen Oberweiten, die Haarpracht von brav frisiert über auffällig gefärbt bis hin zu wild zusammengebürstet. Kurzum, es war herrlich anzuschauen für Rassel und für mich, die wir aufmerksam die Weiblichkeit bestaunten. Unsere Mitbewohner schickten sich an, ihrerseits die Mädels auf sich aufmerksam zu machen. Sie überschritten sogar die imaginäre Grenzlinie zwischen den Bungalows auf der einen und denen auf der anderen Seite der Lagerstraße, bolzten mit einem alten Lederfußball, der wohl hier vergessen worden war, und schubsten sich gegenseitig, ohne den Mädels Beachtung zu schenken. Sie taten, als wären sie seit Jahren beste Kumpel. Dabei waren sie sich heute zum ersten Mal begegnet. Richtig schön bescheuert, wie ich fand.

Wir blieben von diesem Gehabe unbeeindruckt und gingen demonstrativ lässig und gelangweilt drein schauend an den Bungalows der Mädels vorbei die Lagerstraße entlang. Durch die Jungenbande hindurch, die sich intensiv bemühte, Eindruck zu schinden. Das war für uns beide genau die Bühne, die wir brauchten. Wir waren auch ganz gut beieinander: kein Gramm Fett zu viel, lange Haare, Westjeans und Jeansjacke, weiße Turnschuhe und T-Shirt; wir waren DIE Hingucker. So kamen wir uns zumindest vor.

Die Mädels der letzten beiden Bungalows wollten sich diese Chance nicht entgehen lassen und verfolgten uns mit ihren Blicken besonders auffällig, als wir, die forschesten Burschen hier, für die wir uns hielten, an ihrer Bude vorbeikamen. Das ärgerte die Mädels des gegenüberliegenden Bungalows, die uns vielleicht schon als sichere Beute gewähnt hatten. Alles war genauso, wie wir es uns vorstellten und wünschten.

Während des Abendessens in dem riesigen Zelt, saßen wir absichtlich nicht bei unseren nächsten Nachbarinnen, sondern gingen zu den Damen, die uns auf der Lagerstraße fast überfallen hatten, da sie nicht ahnen konnten, dass dies nur eine Taktik von uns gewesen war. Wir hatten nämlich längst mit geübtem Blick festgestellt, wo die heißesten Bräute wohnten, und das waren nun wirklich nicht die, bei denen wir jetzt am Tisch saßen, und die derart herumalberten, dass wir nicht viel tun mussten, um auf uns aufmerksam zu machen und das Interesse auf uns zu lenken. Selbstverständlich alberten wir nicht in dem Maße, sondern lächelten nur hier und da mit vorgetäuschter Höflichkeit. Dabei verdrehten wir die Augen heimlich, aber so, dass dieses Mienenspiel von den Mädels, die wir wirklich im Visier hatten, wahrgenommen werden konnte. Mann, waren wir gut drauf!

Als einige Buben anfingen, sich mit Schmierwurst zu bewerfen und versuchten, sich die Wurst gegenseitig in die Haare zu reiben, dachte ich mir meinen Teil. Mensch, wir waren doch alle im gleichen Alter. Aber wie die sich hier aufführten, ne, das hatten Rassel und ich vielleicht vor einigen Jahren mal zum Besten gegeben. Obwohl … ne, so albern waren wir eigentlich nie. Na ja, vielleicht waren die zu Hause, in der Schule und im öffentlichen Leben so eingespannt, dass sie jetzt einfach mal richtig die Sau rauslassen wollten. Wir, in unserem Dorf, konnten ja jeden Tag die Säue fliegen lassen, wenn wir es wollten.

Dann sah ich plötzlich diese Jungen mit ganz anderen Augen. Jetzt reizte es mich beinahe, ebenso ein Stück Wurst oder Schmierkäse rüberzuschmeißen oder Rassel, der dann wohl recht verdutzt dreinschauen würde, mit voller Wucht etwas in seine Tasse Tee zu werfen. Halt, mahnte ich mich, und muss wohl für ein paar Sekunden ein Funkeln in den Augen gehabt haben, ob der Gefühle, die mich überkamen. Ich konzentrierte mich wieder und wünschte denen da drüben wirklich und von ganzem Herzen viel Spaß im Lager. Wie auch immer, jeder auf seine Art und Weise, Hauptsache mit Respekt vor dem anderen. Vielleicht werfe ich nachher doch mal ein Stück Schmierkäse rüber und tue so, als wäre es Rassel gewesen?

Den Rückweg gingen wir gemeinsam, die Mädels unter lautem Gekicher und sich abwechselnd in den Arm nehmend. Und das bereits am ersten Tag. Schnell legten wir uns jeder auf ein Mädchen fest und gingen abends mit ihnen runter an den See. Ein erstes vorsichtiges und zurückhaltendes Knutschen und Fummeln begann.

Wir waren richtig gut dabei und fühlten uns blendend. Als wir mit dicken Lippen, Arm in Arm vom See zurückkehrten, begann es zu dämmern. Wir kamen an dem uns gegenüberliegenden Bungalow vorbei. Gekicher drang zu uns, jemand föhnte sich die Haare, einige hatten mit den Burschen aus unserem Haus ein Gesprächsthema gefunden. Wir passierten beinahe und noch knutschend die Schwatzenden auf der Terrasse des Bungalows, als mir ein Mädchen auffiel, das ich bisher überhaupt noch nicht bemerkt hatte. Sie war wohl später angereist oder hatte nachmittags keine Lust gehabt, sich mit den anderen Mädchen zu zeigen. Halt mal, langsam, dachte ich mir, beim Abendessen war sie doch auch noch nicht dagewesen.

Jetzt stand sie auf der Terrasse und blickte auf die Lagerstraße, scheinbar ohne etwas neben sich oder auf der gegenüberliegenden Terrasse wahrzunehmen oder auch nur ansatzweise an dem ganzen Getue interessiert zu sein. Sie guckte geradeaus, zog lange an ihrer Zigarette, sog den Rauch tief ein und stieß ihn nach längerer Zeit, als ich das machte, wieder aus.

Die Kleine in meinem Arm lief links von mir, auf der dem Bungalow zugewandten Seite, wo dieses mir unbekannte, aber mich plötzlich äußerst interessierende Mädchen stand. Ich wendete mich meiner Kleinen zu und linste dabei in Richtung Terrasse, an der wir soeben vorübergingen. Doch sie nahm keinerlei Notiz von uns, als wir nun in ihr Sichtfeld traten. Tatsächlich hatten wir kurz Blickkontakt, ich allerdings nur mit einem Auge, da das andere von der Haarpracht meiner Begleiterin verdeckt war. Sie fixierte mein Auge und ich starrte in ihre, ich konnte gar nicht anders, ich musste. Das hatte ich noch nie erlebt. Ich versuchte so langsam wie nur irgend möglich, an diesem Geschöpf vorrüberzugehen, um so viel wie möglich wahrnehmen zu können. Warum? Die stand doch bloß da und rauchte und guckte. – Aber wie sie es tat, das brachte mich völlig um den Verstand. Mann, die steht nur da und pafft wie jede andere auch, versuchte ich mir einzureden. Ich wollte nicht zu schnell aus ihrem Sichtfeld verschwinden, wollte den Blickkontakt nicht verlieren. Doch stehenzubleiben wäre wahrscheinlich blöder gewesen.

Doch dann … auf einmal wollte ich so schnell wie möglich weg. Raus aus ihrer Blickrichtung, mich rasch hinter dem nächsten Bungalow verdrücken und alleine wieder hervorkommen und so tun, als wäre ich das eben gar nicht gewesen. Ich würde auf meiner Rücktour Rassel mit seiner Schnecke unmittelbar vor dem besagten Bungalow mit diesem plötzlich so wahnsinnig interessant gewordenen Mädchen antreffen, und er müsste herhalten. Ich würde mich aufbauen und in etwa so etwas äußern wie: Wie man nur am ersten Abend schon so rummachen kann, schämst du dich nicht wegen deines miesen Verhaltens gegenüber deiner Freundin? – oder irgend so ein Scheiß. Ich würde auf jeden Fall vor diesem Mädchen etwas loslassen, was bei ihr Eindruck wecken, mich von den anderen abheben würde. Was auch immer ich getan hätte, es wäre bestimmt äußerst peinlich geworden. Denn Rassel hätte mich angeguckt, müde abgewinkt und gefragt, ob meine Tablettenbox schon leer wäre. – Aber was spinne ich hier nur zusammen?

Es war geschehen, wir waren aus ihrem Sichtfeld und ich hatte die Zeit mit dummen Gedanken verbracht, anstatt den Hauch ihres Anblicks zu genießen. Oh nein! Wie konnte sie mich denn innerhalb eines Augenblicks so in ihren Bann ziehen? Das war doch alles Quatsch! Ich hatte in meinem Arm das netteste Mädchen des ganzen Lagers, welches ich in kürzester Zeit hatte klarmachen können, und es waren noch viel mehr klasse Fräuleins hier. Und da werde ich plötzlich von so blödsinnigen Gedanken und Gefühlen überrannt?

Sie zog erneut lange an ihrer Zigarette und hatte mich schon mindestens seit drei Sekunden nicht angeblickt. Etwa im Abstand von fünf Metern defilierte der nächste geile Affe fummelnd und knutschend vor ihr und ich glaubte zu erkennen, dass sie diesmal richtig lange auf die beiden stierte. Aha, na klar, Rassel war ja auch mindestens zwei Köpfe größer als ich. Hatte ein Kreutz wie ein V, das seine Jeansjacke viel stärker ausfüllte als ich die meine. Er wirkte auf Frauen tatsächlich wie ein Adonis, wofür ich ihn oft beneidete. Aber jetzt und in dieser Sekunde hasste ich ihn dafür! Aber Rassel nahm das Mädchen auf der Terrasse gar nicht wahr, das war zumindest mein Eindruck.

Dann geschah das Unglaubliche. Noch bevor die beiden auf ihrer Höhe waren, schnippte sie ihre Zigarette gekonnt in den Mülleimer, der zwischen Bungalowterrasse und Lagerstraße aufgestellt war, stieß den soeben tief eingesogenen Rauch aus und ging in den hellerleuchteten Bungalow. – Ich war gerettet. Ha-ha, Rassel, nichts da von wegen, dass das die nächste auf deiner Liste ist, du alter Sack, du!

Während wir zu den letzten Bungalows unterwegs waren, fiel mir wieder ein, dass Rassel sie ja gar nicht bemerkt hatte. Dazu war er auch viel zu verflochten mit seiner Bekanntschaft. Und außerdem, wie konnte ich nach so einer kurzen Begegnung, eigentlich nur einem Vorübergehen, so starke Eifersucht verspüren? Es gab dafür keinen Grund. Zudem hatte ich zu Hause eine Freundin – und hier ein Mädel im Arm. Es gab wirklich keinen Grund, mir wegen eines Mädchens, das ich nicht einmal eine halbe Minute gesehen hatte, die verrücktesten Gedanken zu machen. Das war Schwachsinn! Aber wieso schämte ich mich plötzlich, mit diesem Mädel an meiner Seite wie ein verliebter Gockel auf dieser blöden Lagerstraße Parade zu laufen? Wenn die unbekannte Blonde mitgekriegt hat, dass wir vom See gekommen sind, was denkt die dann wohl, was wir dort gemacht haben? Vielleicht waren meine Chancen sowieso schon dahin? – Was denn für Chancen? Alter, hör auf, dir so einen Müll einzureden, hör auf, dir etwas zu konstruieren, was ÜBERHAUPT nicht gegeben ist! Außerdem hast du sie ja gar nicht richtig erkennen können. Die stand bloß da, rauchte und schaute auf die Lagerstraße. Mehr nicht. Nein, mehr hat sie wirklich nicht getan.

Ihr Haar war auf jeden Fall naturblond. Ne, nicht dieses Klischee vom semmelblonden Haar. Sondern einfach frisierte naturblonde Haare, die ihr in sanften Strähnen auf die Schultern fielen. Dazwischen hatte ich ihren blassen Hals wahrgenommen, um den ein in Leder eingebundenes Feuerzeug als Kette hing. Der viel zu lang frisierte Pony hatte immer nur einen Teil ihres Gesichtes freigegeben. Je nachdem, wie er gerade fiel, hatte sie ihn leicht weggepustet. Einmal hatte sie ihn sich mit den Fingern aus dem Gesicht gestrichen. Ganz besonders weich mussten sich ihre Wangen anfühlen, davon ging ich aus. Auch glaubte ich, kleine Grübchen erkannt zu haben. Die ausgewaschene Jeansweste hatte prima zum Haar gepasst und zum Gesicht, ein Ensemble, das ich nicht wieder aus dem Sinn bekam. All das hatte ich wahrgenommen, nachdem ich sie mit nur einem Auge flüchtig im Vorbeigehen angesehen hatte.

 

Aus den Ärmeln ihrer Bluse war die helle Haut ihrer Arme zu sehen gewesen. Die Bluse schien etwas zu eng, mindestens drei Knöpfe standen offen, und wo sie geschlossen war, spreizte sich leicht die Knopfleiste. Ich fragte mich, meine Bekanntschaft noch immer im Arm haltend, wie ich das alles so detailliert hatte wahrnehmen können? – Wahrnehmen? Nein, einsaugen, aufsaugen, verschlingen. – Wie war das? Einsaugen, aufsaugen, verschlingen? Alter, du spinnst, rief ich meine Gedanken zur Räson.

Was ging denn in mir vor? Es schien mir, als spielte mein Gehirn zwei Spiele mit mir. Das eine hieß „Tussi belustigen“. Und das andere hatte keinen Namen, doch es brachte mich völlig durcheinander. Es war auch kein Spiel. Es war auf keinen Fall so etwas wie ein Spiel. – Ich hatte jemanden gesehen und nun käut mein krankes Hirn einfach das Gesehene wieder, mehr nicht, versuchte ich mich zu beruhigen.

Nachdem wir die Mädels zum Bungalow zurückgebracht und ich mich kurz und knapp verabschiedet hatte, ging ich rasch zu unserer Behausung. Während unsere Mitbewohner sich auf die Nachtruhe vorbereiteten, verweilte ich auf der Terrasse und rauchte. Vom Duschen kamen einige Mädels zurück, die im Bungalow gegenüber verschwanden. Die Gardinen waren zugezogen, sodass ich das Geschehen nur schemenhaft verfolgen konnte. Vielleicht kam sie ja noch einmal zum Rauchen heraus?

Nach einer Stunde und fünf weiteren Zigaretten gab ich das Warten auf. Inzwischen war Rassel angekommen und wir machten uns für die Nacht fertig. Ich konnte nicht einschlafen. Mit Rassel über das Erlebte zu sprechen, war nicht möglich, da er längst vor sich hin schnarchte. Außerdem wollte ich nicht, dass jemand mitlauschte und mein Gefühlschaos mitbekam. Die Knaben in unserem Bungalow empfand ich in ihrer Hörigkeit als Spießer. Wir beide, Rassel und ich, hatten auf jeden Fall hier schon heftig ausgeteilt und Flagge gezeigt. Das war für uns nicht anstrengend, sondern einfach unsere Art zu leben, um mit dem, was auf uns zukam, zurechtzukommen. Zudem waren wir ja auch freiwillig hier. Vielleicht nicht unbegründet freiwillig, aber immerhin.

DER MORGEN BEGANN – FÜR UNS NICHT MIT DEM MORGENAPPELL, und wer sonst dort angetreten wäre, joggte lieber und machte Entspannungsübungen zwischen unserem und dem Bungalow der Mädels. Bestimmt waren sie uns insgeheim dankbar, statt des Morgenappells lieber durch die Botanik laufen zu können.

Die Mädels machten sich zurecht, einige kamen vom Laufen, andere vom Duschen. Rassel und ich waren schon fertig und rauchten unsere Morgenzigarette. Ich allerdings, um nicht den Anschein zu erwecken, tatenlos auf der Terrasse rumzustehen und auf die gegenüberliegende Tür zu starren. Für mich waren die Zigarette und das Geplauder mit Rassel das beste Alibi.

Und dann geschah es. Die Tür öffnete sich und SIE, mit drei Mädels im Schlepptau, verließ die Unterkunft und ging zum Zelt, um Frühstück zu essen. Mir drehte es den Magen um. Jetzt konnte ich sie noch viel besser sehen als am vergangenen Abend, der dämmrig gewesen war, und mit nur einem Auge. Jetzt erkannte ich noch einmal genau, was ich als bemerkenswert an ihrem Aussehen erfasst hatte, es potenzierte sich sofort mehrfach.

„Da vorne, das ist sie!“, zischte ich Rassel zu, der überhaupt keine Ahnung hatte, wovon ich sprach. Seiner Meinung nach hatten wir unsere Begleiterinnen bereits rekrutiert. Ich fauchte ihn an, dass er überhaupt nichts kapieren würde, und starrte in ihre Richtung. Die Mädels wippten beschwingt die Terrassentreppe herunter. IHR feines Haar schwang in ihrem Rhythmus mit. Sie hatte ihre ausgewaschene Jeanshose, ein T-Shirt und die helle Jeansweste an. Auch trug sie wieder das Lederband mit dem Feuerzeug um den Hals. Aus ihrer linken Westentasche sah eine Schachtel Zigaretten hervor. Jetzt war sie fast an mir vorbeigelaufen, sie blickte nach vorn, schien mit den Mädels ein heiteres Thema zu besprechen. Kurz schenkte sie mir einen ernsten Blick. Sekundenlang glaubte ich zu erkennen, dass sie ihr ohnehin dezentes Lächeln einstellte. Dann war die Truppe auch schon an uns vorüber, ich blickte IHR hinterher.

Rassel erkundigte sich, wen ich meinte. Völlig ungläubig schaute ich ihn an und verstand nicht, was er mich da fragte. Hatte er keine Augen im Kopf? Es konnte von den Mädchen doch nun wirklich nur EINE EINZIGE sein. Und zwar DIE eine. Er tippte, und zwar daneben. „Die mit dem kurzen Rock und der weißen Bluse?“ – „Ne“, knurrte ich ihm grantig entgegen und gab vor, sauer zu werden, würde er mich weiterhin auf meine bisherige Mädchenauswahl reduzieren.

Auf dem Weg zum Frühstück versuchte ich ihm zu erklären, dass ich seit gestern Abend und über Nacht einen wahnsinnigen Reifeprozess durchgemacht hätte. Ich wäre plötzlich zur Erkenntnis gelangt, oder, wie ich es fatalerweise nannte, wäre erleuchtet worden, und wisse nun, auf was es wirklich ankomme. Nämlich auf das gesamte Erscheinungsbild. Auf ein Verhalten und Auftreten, das durch Souveränität und Charisma geprägt sei, und zudem auf absolute Ästhetik, also auf all das, was ich am Abend und heute früh wahrgenommen hatte. Diese Kombination würde man nur einmal im Leben finden, ergänzte ich. Auf den Bungalow am Ende der Straße weisend versuchte ich, ihn zu bekehren, dass die, die ich hier zum ersten Mal gesehen, mit der ich kein einziges Wort bislang gesprochen, die mich aber schon so gefesselt hätte, dass die absolut das gesamte Gegenteil von dem darstelle, was mir im Lager und auch sonst je begegnet und untergekommen sei.

„Ja, ja“, meinte er, „wie damals in der Bushaltestelle“, und zielte damit auf meinen Gefühlsausbruch ab, dem ich erlegen war, als ich das erste Mal meine derzeitige Freundin gesehen hatte. Er traf mich empfindlich. Sofort begann ich, an mir zu zweifeln. Mein gestern gewonnener Glückstaumel relativierte sich abrupt. War es wirklich nur wieder so ein Hirngespinst meines Kopfes? Innerhalb kürzester Zeit verlor ich den Glauben daran, jemanden getroffen zu haben, der alles bisher Gekannte in den Schatten stellte. Ich ärgerte mich, ihm überhaupt von ihr erzählt zu haben.

Eben noch himmelhochjauchzend und nun derart zu Tode betrübt … Ich fühlte mich auf einmal völlig leer. Mein Gesichtsausdruck musste sich schlagartig verändert haben, denn Rassel klopfte mir kumpelhaft auf die Schultern, schubste mich und riet mir, es nicht so dramatisch zu nehmen. Das Leben wäre doch so schön, und meinte den gestrigen und den gerade angebrochenen Tag. Erst dachte ich: Der hat doch wirklich nichts kapiert. Doch dann begann ich – und das sollte ich mein Leben lang immer besser können – auf den Boden der Realität zurückzukehren und ganz rational einzuschätzen, in welcher Lage ich mich tatsächlich befand.

Über diesen hilfreichen Tipp noch nachdenkend, erreichten wir das Zelt fürs Frühstück. Seltsam, ich war auf einmal viel ruhiger, wurde immer lockerer. Diese unübertroffene Schönheit war bestimmt ohnehin vergeben, und so, wie sie sich gab, würde ich sicher niemals ihr Niveau erreichen können. Also was blieb? Locker bleiben und zusehen, was sich ergibt.

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