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Wir trafen uns, erfreuten uns unserer „Spielchen“ und fuhren wieder nach Hause. Gerne spielten wir im Stadtpark das lustige Flaschendrehen, das folgendermaßen verlief: Wir saßen im Kreis und in der Mitte wurde eine leere Bierflasche gedreht. Auf wen der Flaschenhals zeigte, wenn die Flasche austrudelte, der durfte sich jemanden auswählen, mit dem er für einige Zeit im Dickicht verschwand. Dabei war aber eins für alle glasklar, dass bestimmte Mädels für bestimmte Jungen reserviert waren, egal wohin die Flasche zeigte. So wurde zwar gedreht, aber die Richtung gegebenenfalls korrigiert, wodurch diese Art von Vorspiel eigentlich sinnlos war, von uns allen aber genauso beabsichtigt.

Stundenlang brachten wir damit zu, leerten dabei so manche Flasche Wein und Bier und hatten amüsante Nachmittage. Den Buben aus der Stadt fiel die Statistenrolle zu, sie wurden zum Drehen der Flasche und zum Einkaufen von Spirituosen eingeteilt. Am frühen Abend ging es dann mit wilden und riskanten Fahrmanövern auf der Fernverkehrsstraße zurück, bis wir nach kurzer Zeit wieder heimisches Territorium erreichten.

Nun hatte es sich herumgesprochen, dass eine Arztfamilie aus dem noch tieferen Mecklenburg in unser beschauliches Kleinod umgezogen war und dass das mitgeführte Töchterchen in die siebte Klasse ging und wohl sehr niedlich aussehen würde. Das veranlasste uns, sie zunächst einmal auf uns aufmerksam zu machen. Wir landeten also mit unseren Karren vor der Einfamilienhaus-Siedlung, die für Ärzte, die in unserem Landambulatorium praktizierten, aus dem Boden gestampft worden war. Es waren vier Häuser, von denen eine Familie jeweils eine Haushälfte bewohnte. Genau vor dem Haus, in das die neue Arztfamilie eingezogen sein musste, platzierten wir uns und benahmen uns wie dummgeile Blödis. Leider ließ sich niemand blicken, bis auf einmal ein uns bekanntes blondes Mädchen, ebenfalls aus der siebten Klasse, mit ihrem Fahrrad vor dem Hauses anhielt, abstieg und mit geradem Oberkörper, die Ansätze ihrer Brüste stark betonend, ohne uns eines Blickes zu würdigen an uns vorbei und vor die Haustür stolzierte. Sie klingelte und einen winzigen Hauch später war sie auch schon im Haus verschwunden.

Das schien uns ein eindeutiges Zeichen zu sein, dass wir die ganze Zeit von drinnen beobachtet worden waren. Der Besuch der Klassenkameradin war dem Mädel im Haus anscheinend zupass gekommen. Das spornte uns an. Wir beobachteten, wie Schatten am Fenster eines Raumes vorbeihuschten. Es war das Kinderzimmer, was ich später kennenlernen sollte. Dem Hin- und Herlaufen folgten Sequenzen, in denen sich die Mädels am Fenster umarmten, sich zu uns umdrehten, lachten und winkten. Und da sah ich sie das erste Mal etwas genauer. – Prompt fuhr es mir durch Mark und Bein. Ich war völlig ergriffen von ihrem Lächeln. Mir war sofort und absolut klar, dass wir füreinander bestimmt waren.

Wie sich später herausstellte, hatte sie mich in der Schule bereits gesehen und sogar regelrecht beobachtet, studiert, während ich sie zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht wahrnahm. – Eben bis zu dieser Sekunde. Plötzlich wurde aus dem lässigen Halbwüchsigen, der ich war, ein hilfloser Hampelmann, der ohne Sinn zu handeln schien und nur noch Stuss labern konnte. Es hatte mich derart getroffen, dass ich unbedingt den Verwegenen raushängen lassen wollte, wahrscheinlich deshalb, weil ich sonst Salto springend durch ihren Vorgarten hin und her geturnt wäre.

Ich also rauf aufs Moped, die anderen folgten verständnislos aber brav meinem Beispiel, den Motor angeschmissen, Sonnenbrille auf, ersten Gang rein, eine leichte Handbewegung in Richtung des Fensters, und dröhnend und mit Vollgas abgerauscht. Das sollte ihr den Eindruck vermitteln, dass sie soeben die Chance ihres Lebens verpasst hatte. Sie sollte sich Vorwürfe machen. Warum war sie auch nicht im leichten Pulli und zu kurzem Rock aus dem Haus und durch den Vorgarten zu mir gelaufen? Warum hatte sie mich nicht umarmt, geküsst und festgestellt, dass sie diejenige war, auf die ich gewartet hatte? Jetzt sollte SIE schmoren, sich Gedanken machen. Auf keinen Fall würde ICH einfach so nachgeben und den Verliebten mimen. Eine wirklich grandiose Idee, wie ich meinte.

Fünf Minuten später rauschten wir vor unsere Bushaltestelle, unser beliebter Treffpunkt. Die Kneipe war gleich nebenan und wir hatten bei jedem Wetter ein Dach über dem Kopf. Manchmal fuhren wir nacheinander oder zu zweit und zu dritt mit den Mopeds in die Haltestelle, bemalten die Wände und verkohlten die Betondecke mit Streichhölzern. Dieses Mal war alles anders. Die Jungs kamen nach und nach angerollt und glotzten mich an, als hätte ich eine Faschingskappe auf dem Kopf und eine Clownsnase auf. So kam ich mir jedenfalls vor.

Wir boten uns gegenseitig Zigaretten an und rauchten sie hastig. Plötzlich platzte es aus mir heraus. Es spielte sich etwas ab, was die Jungs schon mindestens hundert Mal meinten, erlebt zu haben. Ich nahm den Kopf von Rassel, ein über zwei Meter großer Hüne, drückte ihn an meine Brust und wimmerte im aufgesetzten weinerlichen Ton, dass ich mich verliebt hätte. Die Jungs atmeten erleichtert auf, dann redeten sie beruhigend auf mich ein:

„Klar, Alter, komm wieder runter“, und sie lachten ohne Verstand und Respekt gegenüber meiner augenblicklichen emotionalen Achterbahnfahrt.

Ich beschwichtigte die verrückt gewordene Bande mit einer völlig übertriebenen Geste, sah nacheinander jedem von ihnen fest in die Augen und sprach ruhig. Es war mir sehr wichtig, dass sie kapierten, dass ab heute und nun alles anders sein würde. Aber so sehr ich mich auch mühte, keiner wollte mir das so recht abkaufen. Tief in meinem Inneren aber sagte mir eine Stimme, dass das Gefühl zu diesem Mädchen tatsächlich sehr, sehr tief ging.

In diesem Augenblick wurden wir mit hellen Glockenschlägen von der Kirchenturmuhr daran erinnert, dass es 17 Uhr war und der Wirt seine Kneipe aufmachte. Rasch kehrten wir auf ein paar Gläser Fassbier ein, nahmen noch einige Flaschen Bier und Wein mit und ließen es in der Bushaltestelle anschließend bis in den späten Abend ordentlich krachen. Mit dem Anstieg des Alkoholpegels kamen mir meine Jungs nach und nach wieder näher, näher jedenfalls als diese Kleine aus der siebten Klasse.

Am nächsten Morgen fiel mir der Gang zur Schule schwerer als sonst. Ich ging zu Fuß, wollte mich vorher mit Rassel auf eine Zigarette treffen. Ich schlenderte so vor mich hin, als ich auf halbem Wege jemanden sah, der dort zu warten schien. Ich versuchte mich zu erinnern und meinte, die Umrisse des Menschen zu erkennen, den ich gestern am Fenster so umwerfend gefunden hatte. Ich kam näher und – tatsächlich, sie war es!

Ich wollte so tun, als hätte ich etwas vergessen. Doch dafür war es jetzt zu spät. Umkehren konnte ich nicht mehr. – Oh nein, das war wirklich viel zu viel für mich! Mein Herz knallte los und während ich leise und unauffällig vor mich hin laberte, hoffte ich, dass das Unausweichliche nicht eintrat. Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt irgendetwas Anständiges über die Lippen bringen würde. Und schon war ich in ihrer Gefühlsnähe, eine Entfernung, in der ich irgendeine Miene hätte draufhaben sollen, die mich nicht als ausgesprochenen Idioten auswies. Etwa so eine Top-Strategie wie gestern: Kurz die Hand heben, einen guten Morgen nicken und lässig vorübergehen. Ich wusste doch gar nicht, auf wen die hier wartete.

Es lagen noch ungefähr fünfzehn Meter zwischen uns. Mann, war ich heute schnell unterwegs. Der Abstand wurde immer geringer – und da hörte ich sie schon. Sie meinte so etwas wie „Na du?“ oder „Hallo“, oder so ähnlich. Was genau, das konnte ich durch meinen akut eintretenden Gehörsturz – oder was immer das war – gar nicht richtig verstehen. Und aufgrund meiner plötzlichen Erblindung war es mir auch nicht möglich, freundlich und verschmitzt in das zu mir aufblickende wunderschöne Gesicht zu sehen, mit seinen funkelnden Augen und den frechen Grübchen, umweht von dem langen, weit über die Schultern reichenden Haar. Ach ne, das konnte ich alles nicht sehen. Ich war wie im Rausch.

Schließlich erwiderte ich ebenfalls etwas wie „Hallo“ und wir gingen, während ich ihrem Geplauder lauschte, zur Schule und dort jeder in seine Klasse. Bevor sie mir aus den Augen verschwand, drehte sie sich aber noch einmal zu mir um, lächelte mich an und winkte. Ich stand wie versteinert, wie fremdgesteuert. Es muss für sie gewirkt haben, als warte ich auf ein Zeichen von ihr. Wie peinlich! Oder nicht? Ich winkte, wie schon geübt, jetzt aber etwas intensiver zurück. Sie ging hinein und ich schaute ungläubig auf meine Hand und meinen Arm, welche immer noch winkten. Ich riss beide runter und schaute mich geschwind um, ob auch niemand diesen emotionalen Schwächeanfall mitbekommen hatte.

Nachdem wir uns etwas besser kennengelernt hatten, verabredeten und trafen wir uns regelmäßig, unternahmen Ausflüge und kamen uns, fast spielerisch, immer näher.

SARAH FASZINIERTE MICH, SIE WURDE IMMER MEHR ZU MEINER FESTEN FREUNDIN, ja auch irgendwie zu meiner ersten Frau, obwohl sie zwei Jahre jünger war als ich. Ich war total verliebt in sie, gehörte aber weiterhin etwas mehr zu den Jungs. Trotzdem war es eine sehr schöne Zeit. Der Raum und die Zeit mit meinen Freunden gab mir alles, was für einen pubertierenden Jungen meines Typus großartig, toll und wichtig war. Bis auf das Eine, was man wohl nur in einer Partnerschaft erhoffen kann, tiefe Zuneigung und Liebe.

AN EINEM SPÄTEN NACHMITTAG KAM DIE CLIQUE AUS DEM KLEINEN ELB-STÄDTCHEN. Wir hatten eine Menge Spielchen ausprobiert und Mädels, und betankt hatten wir nicht nur unsere Mopeds. Wir fuhren nicht direkt in unser Dorf hinein, sondern nahmen eine spätere Abfahrt, die direkt an Sarahs Haus vorbeiführte. Wir staunten nicht schlecht, was dort los war. Das Haus war hell beleuchtet. In jeder Etage brannte Licht und durch die geöffneten Fenster hörten wir laute Musik. Das konnte nur bedeuten, dass entweder die Alten einen Kindergeburtstag veranstalteten – wobei mir jäh auffiel, dass ich noch nicht einmal Sarahs Geburtstag kannte – oder eine Party war im Gange, zu der wir die Einladungskarten verlegt hatten. Wir entschieden uns für die zweite Variante und lagen damit genau richtig.

 

Wir waren auch ohne Einladung willkommen und hatten kaum den Vorgarten betreten, der sich auf einer Gesamtlänge bis etwa dreißig Meter vor und hinter das Haus erstreckte, als wir lautstark von bereits äußerst lustigen Mädels begrüßt wurden. Hier wurde tatsächlich eine grandiose Party gefeiert. Sarah begrüßte mich mit einer Umarmung. Wir schlossen uns sofort dem Treiben an, tanzten, tranken, rauchten und aßen alles, was so üppig geboten wurde. In jedem Raum des Hauses war etwas los. Ich fragte mich, warum sie mich nicht ganz offiziell zu dieser Party eingeladen oder mir einen Tipp gegeben hatte. Aber dann stellte ich fest, dass außer den Jungs und mir fast nur ihre Klassenkameraden anwesend waren und es sich wohl um eine Art Einstiegs- oder Begrüßungsfeier handelte, die wir nun ganz schön durcheinander brachten.

Die Jungs und Mädels waren äußerst ausgelassen. Nach einer Weile winkte Sarah mir zu und wir gingen in den Keller, um nach Getränken zu sehen. Da küssten wir uns dann das erste Mal und sehr heftig. Wir lagen uns ewig in den Armen. Uns war es jetzt völlig klar, dass das mit uns für immer halten würde. Wir küssten und fummelten, ich wühlte wild in ihren Haaren. Wir waren unbeschreiblich glücklich.

Die Party endete kurz vor Mitternacht, allerdings völlig abrupt. Die Jungs hatten angefangen, im Vorgarten Rundfahrten mit den Mopeds anzubieten. Das brachte die erstaunte und genervte Nachbarschaft auf den Plan. Daraufhin erschienen Sarahs schockierte Eltern und jagten die Teufelsbande aus dem Haus. Die Mutter rief nach ihrer Tochter und durchsuchte von Angst und Sorge getrieben das gesamte Haus. Schließlich fand sie ihr Töchterchen völlig entrückt im Keller, den ich Sekunden vorher ungesehen verlassen hatte.

Ich rieb mir die Hände vor Freude, gerade noch einmal ungeschoren dem folgenden Strafgericht entgangen zu sein. Es wäre auch ein denkbar schlechter Einstand als zukünftiger Schwiegersohn gewesen, in Verbindung mit diesen verrückten Jungs gebracht zu werden. Wenn ich dazu nach einem sonntäglichen Mittagessen bei einer Tasse Kaffee mit Schwiegermutter und Schwiegervater hätte Stellung nehmen müssen, was für ein Skandal. Wo ich doch sonst der liebe Junge war …

Unentdeckt geblieben konnte ich den Anschein des tadellosen Buben wahren, von dem im Dorf zwar schlecht geredet wurde, der sich jedoch nichts vorzuwerfen hatte und demnächst auf Knien um die Hand ihrer wunderschönen Tochter anhalten würde.

So hatte ich mir das eigentlich vorgestellt, als mir einfiel, dass ja mein Moped als einziges noch am Vorgartenzaun stehen musste. Plötzlich durchfuhr es mich heiß, ich hatte doch am Nachmittag sogar direkt in der Eingangspforte geparkt, ihre Eltern waren wahrscheinlich darübergestiegen. – Na gut, jetzt ruhig Blut. Während Sarahs Mutter die Standpauke hielt, war ihr Vater bestimmt mit Aufräumarbeiten beschäftigt. So könnte ich doch in aller Seelenruhe mein Moped wegschieben und in die Nacht verschwinden. Also stieg ich auf leisen Sohlen die Außenkellertreppe hinauf, am Haus vorbei und rasch durch den Vorgarten zu meiner Karre.

Halt, ich verharrte erstaunt. Was war das links von mir? Die Terrasse war noch immer hell erleuchtet. Eine Person stand dort. Die Arme vor der Brust verschränkt. Still. Nein, nicht still, einfach nichts sagend – oder nichts mehr sagen könnend –, nur beobachtend und wahrnehmend. Es gab nichts mehr zu sagen oder zu fragen, vielleicht einen guten Abend zu wünschen, zum Moped zu laufen und es leise wegzuschieben, weil die Nachbarn sicher wieder schliefen … Ich lief also los, murmelte einen guten Abend und eine Entschuldigung, huschte zum Moped, startete und dampfte langsam und verschämt in die Nacht ab.

An dem Wochenende sahen wir uns nicht mehr. Telefon gab es vermutlich in Sarahs Haushalt, nicht jedoch bei mir. Am Montag, auf dem Weg zur Schule, trafen wir uns. Ein kurzer verschüchterter Kuss. Ich wollte unbedingt wissen, ob es schlimm und ihre Eltern sehr wütend gewesen waren. Sie lächelte mich an und gab mir zu verstehen, dass ihre Mutter volles Verständnis hätte und gleich bemerkt habe, dass sie hoffnungslos verliebt sei. Gemeinsam hatten die drei die halbe Nacht aufgeräumt, Musik gehört und Sekt getrunken. Und ich, ich sollte am Sonntag unbedingt zum Kaffeetrinken kommen. Ich war völlig platt, aber auch total glücklich.

SARAH SAH PERFEKT AUS, AUCH WENN IHRE KURVEN NOCH NICHT ALLE voll ausgeprägt waren. Wir hatten das erste gemeinsame Mal noch vor uns.

Mein bester Kumpel Rassel hatte sich ebenfalls verliebt, in eine blonde Dorfschönheit, mit der sich Sarah auch gut verstand. So waren wir zu viert ein prima Trupp und verabredeten uns zu gemeinsamen Unternehmungen. Wir gingen zur Disco, fuhren mit dem Moped durch die Gegend, machten Jägerhochstände und so manches Wald- und Flurgebiet mit unseren Gefühlsausbrüchen unsicher.

VOR DEM BEGINN DER SOMMERFERIEN VON DER NEUNTEN ZUR ZEHNTEN KLASSE besuchte ich für fünf Tage ein FDJ-Lager. Ich weiß nicht mehr, um was es genau ging, aber es drehte sich in dieser Zeit sowieso alles irgendwie um Themen im Zusammenhang mit der FDJ, der Freien Deutschen Jugend und ihrer Verbundenheit zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, kurz SED. Der Abschied fiel Sarah viel schwerer als mir, aber ich tat zumindest sehr betroffen. Denn fünf Tage so ein klasse Mädchen alleine zu lassen, ist sicherlich auch nicht ohne Gefahr wegen etwaiger Konkurrenz. Wir waren bis über beide Ohren verliebt. Deshalb standen Rivalen nicht zur Debatte, wir wussten ja, dass wir füreinander bestimmt waren. Sie versprach mir zum Abschied, dass sie mich später bei meiner Ankunft wieder mit ihren Eltern vom Bahnhof abholen würde, damit wir gemeinsam essen gehen könnten. Und dann hätten wir noch eine Woche Schule und dann die gesamten Sommerferien vor uns. – Ich nickte dazu, freute mich aber auch schon auf das Abenteuer, das mich außerordentlich reizte. Zudem war ja auch mein Freund Rassel mit von der Partie.

Wir fuhren zunächst in Richtung Bezirksstadt, wussten aber noch nicht, wo wir landen würden. Nach einer lockeren Bahnfahrt fuhren wir den Rest der Strecke mit dem Bus und nach etwa zwei Stunden erreichten wir unser Ziel, ein inmitten des Waldes eingerichtetes Lager, welches wohl normalerweise als Kinderferienlager genutzt wurde. Doch die Schulferien begannen erst in zwei Wochen.

Wir wurden in einem großen Zelt ohne Seitenwände von einem Typ im FDJ-Hemd begrüßt. In diesem Zelt sollten wir fortan auch unsere Speisen einnehmen. Wir bekamen das Programm ausgehändigt, an dem wir uns in den nächsten Tagen orientieren sollten. Untergebracht waren wir in Bungalows aus Holz, brav getrennt nach Mädels und Jungen. Ziel dieses Lagers war es, aktuell-politische Themen zu diskutieren und die Erkenntnisse in die jeweiligen Schulen zu tragen. Das wurde uns nun unmissverständlich klar, als wir das Programm überflogen hatten. Na super!

Aus welchem Grund Rassel und ich teilnahmen, lag mit Sicherheit nicht an unserer besonderen Ausprägung sozialistischer Schülerpersönlichkeiten. Also warum waren wir dort und nicht bei unseren Jungs und beim Wirt? Nun, wir hatten uns freiwillig gemeldet, und das aus gutem Grund. Wir hatten Etwas wiedergutzumachen und uns zumindest gegenüber den Lehrern zu rehabilitieren. Obwohl … das allein war es eigentlich auch nicht. Wir wollten uns zudem ein paar schöne Tage machen, mit Mädels, Tischtennisspielen und was sich sonst so ergab. Warum also nicht eines mit dem anderen verbinden? In unserem Alter noch einmal einen Ausflug in ein Ferienlager zu machen, stellten wir uns wirklich angenehm vor. Wir malten uns aus, was uns erwarten würde: Wir Großen tanzend im Kreis mit den Kindern, wie wir Luftballons aufbliesen, gemeinsam mit den Kleinen malten, Verstecken spielten, Rad fuhren … –

Quatsch! Solche Fantasien übermannten uns nur, wenn wir es mit dem Biertrinken und dem daraus folgenden Ersinnen von Geschichten mal wieder etwas übertrieben hatten. Wir wischten uns die Lachtränen aus den Augen und versuchten uns an realitätsnahen Vorstellungen, was uns tatsächlich erwarten würde. Leider gelang uns das nicht recht und wir wollten es auf uns zukommen lassen, wie wir es eben immer machten. – Der Grund unserer Wiedergutmachung war allerdings nicht so lustig. Dabei hatte alles so harmlos angefangen, an einem dieser öden Nachmittage …

ALLES WAR BESSER, ALS IN UNSEREM DORF DIESE EWIG LANGEN und langweiligen Nachmittage zu verbringen. Nachmittage, an denen einfach nichts los war. Sarah lernte was und die Jungs hatten auch keine zündende Idee. Schließlich lümmelten wir bei Didi zuhause rum, hörten Musik und gingen uns gegenseitig auf die Nerven.

Didis Spitzname rührte von der Abkürzung für „Dicke Dinger“ her, wie wir damals die Brüste der Mädchen titulierten. Und wie es dazu kam, ihn ausgerechnet so zu taufen, dafür waren schon ziemlich skurrile Umstände verantwortlich.

D IDI WAR EIN RUHIGER, INTELLIGENTER, ABER – GENAU WIE WIR – ein abgefahrener Typ und beileibe kein Kostverächter, wenn es um das weibliche Geschlecht ging. Nun hatten wir in unserer Klasse ein Mädel, das mit Schönheit nicht gesegnet war. Das traf damals nach unserem Dafürhalten natürlich auf alle Mädels aus unserer Klasse zu. Mit ihnen hatten wir höchstens kurze, auch intensive Romanzen, wenn es denn nicht zu vermeiden war. Einmal waren wir von diesem nicht sonderlich schönen Mädel zu einer Fete eingeladen, alle Jungs, die so mitmischten, und gemeinsam mit ihren Freundinnen. Ihre Eltern waren wohl im Urlaub und so ging die Party los.

An diesem Abend wollte es Sarah anscheinend wissen. Sie kippte einen Drink nach dem anderen in sich hinein, rauchte, was sie sonst nie tat, und flirtete mit den Jungs rum, die das, ob meiner Blicke, nicht so toll fanden. Sie wollte mich ärgern, eifersüchtig machen, oder was auch immer.

Am späten Abend verschärfte sich die Situation. Sarah hatte sich mit Rassels Freundin Conny auf der Toilette eingeschlossen und als unsere Gastgeberin sich auch noch völlig betrunken vor dem Klo übergab, hielten Rassel und ich es für angezeigt, die Veranstaltung zu verlassen. Ab zum Wirt. Die Gastgeberin, eben jenes hässliche Entlein aus unserer Klasse, schien sich aber wieder gefangen zu haben, sie schmiss die beiden aufgekratzten Weiber aus der Toilette und schließlich die gesamte Meute aus dem Haus. Wohl nicht ganz ohne Hintersinn.

Auf der Couch im Obergeschoss war schon vor Stunden unser Freund Didi eingeschlafen – den wir bis dato noch bei seinem eigentlichen Vornamen nannten. Er rief in einer unserer nächsten Alkoholdienstdebatten diesen Tagesordnungspunkt auf und berichtete, was ihm an diesem Abend geschehen war.

Er hatte ebenso wie wir kräftig zugelangt und sich dann mit einem Mädel ins Wohnzimmer zurückgezogen. Die wollte jedoch von dem, was er sich vorgestellt hatte, nicht viel wissen, woraufhin er sich dafür entschied, den Fernseher anzumachen und in die Röhre zu schauen. Er bediente sich währenddessen aus der elterlichen Bar der Gastgeberin und genehmigte sich einen guten Tropfen, was er jedoch maßlos übertrieb. Als er wieder erwachte, bemerkte er auf dem Tisch eine leere Flasche, die vorher nicht dort gelegen hatte.

Sehr rührend schilderte er uns seine Hilflosigkeit, als er feststellte, dass die Gastgeberin sich an ihm zu schaffen machte. Zunächst vermutete er eine fürsorgliche Rettungsmaßnahme und glaubte, sie würde ihn von Hemd und Hose befreien, fein zudecken und ausschlafen lassen, um ihn früh mit einer Tasse Kaffee wieder zum Leben zu erwecken. – Doch es ging etwas ganz anderes los, was im Detail nicht wiedergegeben werden kann. Nur so viel sei gesagt, es muss dem bescheuertsten und albernsten Sexfilm geglichen haben! Denn auf dem Niveau etwa bemühten sich die beiden wohl auf das heftigste.

Didi, ein berüchtigter Experte für große Oberweiten, schwärmte sehr ausschweifend von dem, was ihm immer wieder in die Hände fiel und ins Gesicht gepresst wurde. Das brachte uns auf die Idee, uns mal die bisherigen Bekanntschaften von Didi – auch seine aktuelle, aus einem Nachbardorf stammende bildhübsche Freundin – vorzunehmen, sie uns gegenseitig zu beschreiben, bis wir sie alle vor unseren geistigen Augen sahen. Wir mussten nun albern und etwas neidisch zugeben, dass er sich tatsächlich und ausschließlich mit Damen beschäftigte, die eine umfangreiche Oberweite vorzuweisen hatten. Ins Tagungsprotokoll wurde also sein neuer Spitzname aufgenommen, von dem glücklicherweise nur die Kurzform übrigblieb, was sich als alltagstauglicher erwies.

 

Übrigens sahen wir Jungs seitdem das hässliche Entlein plötzlich mit ganz anderen Augen, sie avancierte zu einem der meist umworbenen Mädels in unserer Klasse. – Was für eine Karriere.

D OCH ZURÜCK ZU DIESEM EWIG LANGEN UND LANGWEILIGEN NACHMITTAG. Irgendwann kamen wir auf die glorreiche Idee, den Dachboden des Hauses zu inspizieren. Gesagt, getan.

Wir entdeckten hier alte Klamotten aus mehreren Generationen, die wir sogleich anprobierten und nun unter idiotischem Gelächter eine Modenschau veranstalteten. In einem Koffer fanden wir eine uralte Hochzeitskarte, mittels der, einem mittlerweile verstorbenen Ehepaar aus der Familie zur Hochzeit gratuliert wurde. Das brachte uns auf einen teuflischen Plan. Diese Karte, die um die Jahrhundertwende geschrieben und verschickt worden war, wäre doch ein genialer Spaß für erneute Vermählungswünsche …

Nun wussten wir – und zwar wir alle aus dem Dorf – dass es eine heftige Beziehung zwischen der Ärztin, die zugleich die Frau unseres Deutschlehrers Herr Mühlhammer war, und deren Assistenten Herrn Frohrieb gab. Das wurde seit Längerem unter vorgehaltener Hand getuschelt. Es soll sogar Augenzeugen gegeben haben, die die beiden im Fahrzeug des diensthabenden Arztes im Wald bei innigen Liebkosungen beobachtet hatten. So eine heimliche Affäre weiterzugeben, war ja schon mies genug, aber wir mussten dem noch einen draufsetzen. Es war aber auch soo langweilig an diesem Nachmittag.

Wir schnitten ein Blatt Papier auf Postkartenformat zurecht, überlegten uns einen Text, den wir Buchstabe für Buchstabe abwechselnd vervollständigten, damit niemand Rückschlüsse auf uns würde ziehen können. Ziel dieses fiesen Kartengrußes waren jedoch nicht die Betroffenen selber, sondern ihre ohnehin leidenden Ehepartner, die Frau des Assistenten, die geprellt zu Hause saß und versuchte, mit ihren beiden Kindern das Beste aus der schwierigen Situation zu machen, und unser Deutschlehrer, den es wahrscheinlich in den Wahnsinn trieb, wenn diese brisante Angelegenheit an die Öffentlichkeit, die sensationsgeilen Dorfbewohner, gelangte, was uns völlig klar und von uns gewollt war. Letztlich entschieden wir uns, die Karte an das am stärksten betroffene Opfer – das zudem schwächste Glied in dieser Tragödie – zu adressieren, an die arme Frau Frohrieb, der wir zur Hochzeit der beiden Ehebrecher gratulierten, die wir beim Vornamen nannten.

Wir schlugen uns vor Freude auf die Schenkel, grölten wie vom Jenseits Geschickte und malten uns das verdutzte Gesicht der Empfängerin aus, die zum Einen würde den Fall aufklären und zum Anderen auf keinen Fall Staub aufwirbeln wollen. Damit war unser Nachmittag gerettet. Einer bekam den Auftrag, die Postsendung in einer Nacht- und Nebelaktion zuzustellen, und zwar direkt in den Hausbriefkasten der Familie1.

Es verging der nächste Tag, dann noch ein Tag, nichts geschah. Obwohl ich schon meinte, bei Herrn Mühlhammer und sogar bei unserer Klassenlehrerin Pollmann eine deutliche Veränderung in Mimik, Gestik und Sprache feststellen zu können. Insbesondere schien der Umgang mit einigen von uns Jungs von einer gespielten Wärme geprägt, die mir unheimlich erschien.

Es kochte dann in uns so sehr, dass wir anfingen, uns zu emphatisch zu benehmen, außergewöhnlich höflich aufzutreten und das Gespräch zu suchen, wo immer es nur ging. Auch unsere Mitarbeit im Unterricht sowie unser Verhalten ganz allgemein gerieten plötzlich auf ein Niveau, das uns zunehmend die Kehle zuschnürte und uns wie Marionetten erscheinen ließ. Mit einem Mal sahen wir in jeder Geste, in jedem Wort der sich offenbar verstellenden Gegenseite, für die wir sie nun hielten, die Gefahr, dass sie uns schlagartig überführte. Es hätte nur noch gefehlt, einer von uns wäre mit einem Blumenstrauß für Mühlhammer zum Unterricht gekommen. Wir fühlten uns jedenfalls getrieben in dieser Gesamtsituation. Oder machten wir uns alle nur etwas vor?

Als ich am dritten Nachmittag nach dieser Tat auf unserem Grundstück eine Aufgabe erfüllte, die mir mein Vater übertragen hatte, kam plötzlich Rassel auf seinem Moped und meinte, dass alles Scheiße sei. Aus seiner Jeansjacke sah ein Flaschenhals heraus, also schwang ich mich auf den Rücksitz, wir fuhren zur Bushaltestelle und ballerten uns einen rein. Nach ein paar tiefen Schlucken aus der Flasche berichtete Rassel, dass alles aufgeflogen, unsere Glückwunschaktion voll gegen die Wand gelaufen sei.

Diese Karte war an die Brautleute, die die Urgroßeltern von Didi waren, geschickt worden. Sie war Teil eines kleinen Familienschatzes gewesen, ähnlich einem Fotoalbum, und sorgsam auf dem Dachboden aufbewahrt worden. Aufgeflogen war es sofort, noch am Abend des Einwurfs der Karte in den Hausbriefkasten. Die geprellte Frau Frohrieb hatte sogleich ihre Freundin angerufen, unsere Klassenlehrerin Pollmann, welche nichts Besseres zu tun gehabt hatte, sich noch am selben Abend mit ihrem Kollegen, dem Deutschlehrer Mühlhammer zu treffen. Nachdem beide die überklebte Rückseite der Karte wieder zum Vorschein gebracht hatten, ahnten sie, wer das abgelichtete Hochzeitspaar sein musste. Schnurstracks verständigten sie den Enkel des Brautpaars, den Vater von Didi. Der kam zunächst überhaupt nicht darauf, dass sein Sohn oder einer von uns in die Sache verwickelt sein könnte und grübelte darüber nach, wer denn die Karte vom Dachboden geholt haben könnte. In einer späteren Debatte erfuhren wir von Didi, wie dann alles seinen Lauf nahm.

Beim Abendessen der vierköpfigen Familie sprach der Vater Didis Schwester wie zufällig auf die tollen und interessanten Spielmöglichkeiten des Dachbodens an. Das Mädel schaute ihn verständnislos an und erinnerte ihn daran, dass der Dachboden doch laut seiner Mahnung für die Kinder tabu sei. Der Alte sah wohlwollend auf seine brave Tochter, die gar nicht recht wusste, was das bedeuten soll. Da wurde unser Blondschopf Didi so puterrot und sein Blutdruck stieg derart an und brachte ihn zum Zittern, dass er meinte, es müsse sich aus einer Öffnung auf seinem Kopf ein Sturzbach von Blut über ihn ergießen. Das Abendessen endete für Didi Knall auf Fall und es schlossen sich mehrere Stunden schwerster Verhöre an.

Didi hatte keine Chance, er gestand alles. Am nächsten Tag schickte er Rassel – wegen seines Hausarrests über seine Schwester – eine kurze Nachricht, etwa so: „Kartenidee war voll bescheuert. Alles aufgeflogen.“ Wir fühlten uns, als stünden wir mit dem Rücken an der Wand, welche sich in diesem Fall auch noch in unserer geliebten Bushaltestelle befand. Nachdem wir uns ordentlich Mut angetrunken hatten, kam uns plötzlich eine sehr gute Idee, wie wir aus dem Chaos und der verlorenen Schlacht doch noch das Beste machen konnten, um wenigstens einen Teil unseres Trupps aus dem Schlamassel herauszuhalten. Eigentlich wollten wir nur mal vorfühlen, ob wir schon namentlich bekannt und als Mitttäter entlarvt worden waren, denn zu diesem Zeitpunkt war uns noch nicht klar, dass Didi unter Zwang unsere Namen preisgegeben hatte2. So war also längst bekannt, wer alles an einer der miesesten Begebenheiten, die es in der langen Geschichte unserer Dorfjugend je gegeben hat, beteiligt war.