Buch lesen: «Tatort Oberbayern», Seite 9

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Montagvormittag,
München Schwabing

»Hallo, ich bin Andrea Moosbacher, ich hatte am Freitag angerufen und habe um 10 Uhr einen Termin mit Jan Wendelin.«

Birgit Wachtelmaier stand im Vorzimmer des Geschäftsführers von »Alpenliebe«, einer Eventagentur, die von der normalen Wanderung bis zur Hochzeit in der Steilwand und wochenlangen Extremtouren alles organisierte. Das Geschäft schien gut zu laufen, die Büroräume befanden sich immerhin direkt an der Münchner Freiheit mitten in Schwabing. Die ganze fünfte Etage eines Jugendstilbaus war von »Alpenliebe« belegt. Als Birgit im Internet nach Ansprechpartnern für ihre Bergwinter-Recherche gesucht hatte, war der erste Treffer gleich »Alpenliebe« gewesen. Dafür musste die Agentur ordentlich Geld hingelegt haben.

»Hallo, schön, dass Sie da sind, ich bin Angelina Michlbichler, Herrn Wendelins Assistentin.« Frau Michlbichler stand auf und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, um Birgit die Hand zu reichen. Sie trug eine zünftige bayerische Trachtenlederhose, dazu eine rot-weiß-karierte Bluse und Haferlschuhe – wahrscheinlich die Berufskleidung bei »Alpenliebe«, dachte Birgit und erwiderte den recht kräftigen Händedruck. Sie selbst sah aus wie ein trauriges Mauerblümchen in ihrem cremefarbenen Faltenrock mit dem braunen Twinset und den flachen dunkelbraunen Ballerinas. Danke, Katharina, dachte sie grimmig.

»Nehmen Sie noch einen Moment Platz. Herr Wendelin hat gleich Zeit für Sie. Ich sage ihm Bescheid.« Frau Michlbichler verschwand hinter einer Flügeltür, die neben ihrem Schreibtisch vermutlich direkt ins Chefbüro führte. Birgit setzte sich in einen mit Kuhfellimitat bezogenen Ohrensessel und schaute sich um. Frau Michlbichler hatte von ihrem Schreibtisch eine fantastische Aussicht Richtung englischer Garten. Die Wände hingen voller Fotos von »Alpenliebe«-Events: glückliche Bräute, die mit flatterndem Schleier in der Felswand hingen, stolze Kletterer, die Selfies auf tief verschneiten Berggipfeln machten, gedeckte Tafeln mitten im Schnee vor sonnigem Gipfelpanorama – daran sitzend Menschen in Daunenjacken und Thermohosen.

Warum man an solchen Dingen Gefallen finden konnte, erschloss sich Birgit nicht. Sie saß und aß lieber auf maximal 530 Metern über dem Meeresspiegel, so hoch lag München. Bergtouren konnte sie ebenso wenig abgewinnen. Dabei geriet sie nur ins Schwitzen und bekam eine feuerrote Birne. Dann lieber Eier-Diät, statt auf solch anstrengende Art Kalorien zu verbrennen.

Aufgrund dieser Überlegungen entschied sich die Archivarin dagegen, einen der verlockenden »Auszognen« zu verspeisen, die vor ihr auf einer weiß-blau rautierten Porzellanplatte dufteten. Sie liebte zwar Fettgebackenes jeder Art, überschlug aber sofort, dass ein Stück mindestens 400 Kalorien hatte, und verzichtete.

Gott sei Dank öffnete sich in diesem Moment wieder die Flügeltür und Frau Michlbichler bat sie ins Büro des Chefs.

In einem riesigen Raum stand ein Mann Anfang 30 mit blau kariertem Hemd und einer Lederhose, vermutlich aus Hirschleder. Dazu trug er hippe blaue Sneaker, nicht etwa altmodische Haferlschuhe. Jan Wendelin hatte dunkelblonde Haare, dazu gut gebräunte Gesichtshaut. Birgit ging ihrer Rolle entsprechend schüchtern auf den Naturburschen zu, der sie anstrahlte:

»Servus Frau, äh …«

»Moosbacher, Herr Wendelin, Andrea Moosbacher. Danke, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen, wo es um eine rein private Angelegenheit geht.«

»Aber Frau Moosbacher, fast alle Leute kommen hierher in privaten Angelegenheiten, that’s my business, das ist mein Job, wissens. Setzen Sie sich«, forderte Wendelin sie auf und ließ sich selbst auf einen blau-weiß rautierten Sitzsack fallen. Für Andrea zeigte er auf einen riesigen Ledersessel, der als Armlehnen und Stuhlbeine Stücke von Hirschgeweih hatte, Imitat, wie Birgit unschwer erkannte.

»Äh, gern«, sagte Andrea schüchtern und setzte sich mit eng zusammengepressten Beinen auf den Hirschsessel, die Handtasche hielt sie auf dem Schoß umklammert. Zwischen ihnen stand ein zur Tischplatte umfunktionierter Baumstamm. Darauf: Brezeln, Butter, Obazda.

»Greifens zu, Frau Moosbeier.«

»Moosbacher«, korrigierte Birgit höflich und schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich muss auf meine Linie achten.«

»Aber ein Mineralwasser werdens nehmen, oder?« Jan Wendelin grinste sie jovial an und holte eine Flasche »Alpenwasser medium« aus einem gigantischen Kühlschrank, dessen Front eine saftig grüne Alpenwiese zeigte. Birgit hatte langsam genug von der Bayern-Deko, aber sie bewahrte die Fassung und nahm höflich das Wasserglas – selbstverständlich mit weiß-blauem Rautenaufdruck – entgegen.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Moosbauer?« Wendelin hatte sich wieder gesetzt und nahm einen kräftigen Schluck aus dem vor ihm stehenden Weißbierglas. »Alkoholfrei, nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht.«

Birgit lächelte schüchtern, nahm einen Schluck von ihrem Wasser und begann ihre Recherche.

»Da hams ja ein unternehmungslustiges Bürscherl daheim, Frau Moosbrauer.« Jan Wendelin hatte sich bierschlürfenderweise Birgits ganzes Märchen vom Sohnemann, der Robert Adelhofers Bergwinter nachmachen wollte, angehört. Birgit hatte längst aufgehört, ihren ohnehin falschen Nachnamen zu korrigieren. Herrn Wendelins jovial-gönnerhafte Art ging ihr gewaltig gegen den Strich, aber sie musste durchhalten.

»Herr Wendelin, kann der Junge das schaffen? Er will genau wie Robert Adelhofer nur Ausrüstung für eine Tagestour im Winter mitnehmen, eine warme Jacke, keinen Schlafsack, keine Campingausrüstung, nichts.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Wendelin seufzte. »Wir haben hier oft Anfragen von irgendwelchen Verrückten, die diese Adelhofer-Nummer nachmachen wollen. Und ich hab bisher allen gesagt: Lasst’s die Finger davon. Der Adelhofer is’ a verrückter Hund, außerdem is’ er in den Bergen aufgwachsen. Ich würd niemandem raten, das nachzumachen. Und Sie sehen ja, Frau Moorbader« – er deutete selbstgefällig auf die Plakate an den Wänden, die die durchgeknallten »Alpenliebe«-Events zeigten, »dass wir nicht zimperlich sind, in den Bergen einen loszumachen.«

Birgit hoffte, dass es ihr gelang, noch besorgter auszusehen.

»Der Kevin will das unbedingt. Ich kann gar nichts dagegen tun. Wenn ich es ihm verbiete, haut er mir ab. Drum habe ich halt gedacht, dass es besser ist, unauffällig dafür zu sorgen, dass er sich gescheit auf diesen Blödsinn vorbereitet.«

Wendelin grinste etwas unsicher – mit Muttergefühlen war er in seinem »Business« offenbar nicht oft konfrontiert. Ihre Situation schien ihm dennoch nahe zu gehen.

»Also, Frau Moosberger, schreibens mal auf.«

Wendelin räusperte sich verlegen und holte einen – natürlich blau-weiß rautierten – Schreibblock aus einer Schublade im Baumstamm und legte ihn mitsamt rautiertem Kuli vor Birgit hin.

»Er muss Fallen stellen können, damit er was zum Essen hat, ein totes Tier ausnehmen natürlich, Fell abziehen und gerben, damit er Felle als Decken und Unterlagen verwenden kann. Feuermachen sowieso und mindestens einen Topf herstellen, zum Beispiel aus Baumrinde. Wozu der Adelhofer nie was gesagt hat, ist, ob er ein Smartphone dabeigehabt hat mit zusätzlichem Ladegerät. Zumindest für die ersten Tage hätte er dann Wetterprognosen abrufen können, wenn’s denn einen Empfang gegeben hat, da, wo er war. Das weiß ja niemand so ganz genau. Schauns einfach, dass ihr Kevin ein Smartphone mitnimmt, zur Not stecken Sie’s ihm heimlich in den Rucksack. Damit kann man ihn in jedem Fall orten, falls was wär’.« Wendelin schaute prüfend Richtung Birgit. Wahrscheinlich wollte er checken, ob die Formulierung »falls was wär’« zu viel war für das leidgeprüfte Mutterherz. Birgit versuchte gleichbleibend besorgt zu schauen.

»Die Gegend, in die er will, muss er natürlich wie seine Westentasche kennen, jede Höhle, jeden Felsvorsprung, unter dem er Schutz suchen könnt’, Wasservorräte, kleine Seen. Welche Tiere gibt’s, sind die gefährlich? Er sollt’ wissen, welche Wurzeln man ausgraben und essen kann. Er muss prüfen, ob’s genug Möglichkeiten gibt, Holz zum Feuermachen zu finden. Er muss die Wettersituation der letzten Jahre genau studieren. Also, Frau Moosbauer, ganz ehrlich, ich beneid’ Sie nicht.«

Birgit starrte Herrn Wendelin aus – wie sie hoffte –schreckgeweiteten Augen an.

»Wissens, ich hab mich auch bei dem Adelhofer gfragt, wie der des gschafft hat, allein schon des mit dem Holz zum Feuermachen. Des Holz ist im Winter feucht. Er muss Unmengen irgendwo in eine Höhle geschleppt haben, in der es trocken ist. Und es brennt halt nicht jedes Holz gleich gut. Ist absolut nicht einfach. Versuchens noch mal mit Ihrem Kevin zu reden. Vielleicht will er zum Testen bei einer von unseren Touren mit, ich tät Ihnen einen Sonderpreis machen.« Wendelin grinste jovial.

»Das ist ein nettes Angebot, Herr Wendelin, vielen Dank. Ich werde es dem Kevin vorschlagen. Nur noch eine Frage: Glauben Sie, dass es überhaupt möglich ist, so einen Winter in den Bergen zu überleben, oder hat der Adelhofer hauptsächlich Glück gehabt?«

Wendelin überlegte kurz: »Glück ghört schon dazu, Frau Moosbierer.«

Montagnachmittag,
Redaktion »Fakten«, München

»Mit Holz vor der Hüttn kennt er sich bestimmt aus. Ob er gut und schlecht brennendes Holz kennt, das ist eine interessante Frage.« Katharina saß an ihrem Schreibtisch, ihr gegenüber Andrea Moosbacher. Als Birgit Wachtelmaier ging sie derzeit definitiv nicht durch.

»Frau Langenfels, wo haben Sie diese Machosprüche her?« Birgit grinste ihre Freundin an. »Holz vor der Hüttn«, der bayerische Ausdruck für eine beeindruckende Oberweite, passte nicht in Katharinas Vokabular.

Katharina stand auf und ging hinter ihrem Schreibtisch auf und ab. »Das ist super, wie viel du herausgefunden hast.«

Frau Moosbacher-Wachtelmaier errötete geschmeichelt. »Als Nächstes werde ich noch mit einem Biologen sprechen, wie man sich im Winter in den Bergen ernähren kann. Habe schon einen Telefontermin. Und du?«

»Ich muss mit den Eltern Adelhofer reden. Vielleicht wissen die was über die Bombe, die Lukas hat platzen lassen wollen auf der Pressekonferenz. Ich glaube es aber nicht. Und ansonsten muss ich …«

»Oliver wird sie schon nehmen«, kam es von jenseits ihres Schreibtischs. Katharina musste lächeln. Das gab es nur zwischen Freundinnen, wortlose Verständigung. Sie konnte sich nicht erinnern, das jemals mit einem Mann erlebt zu haben.

»Ach Birgit«, sagte sie, ging um den Schreibtisch herum und massierte die stets verspannten Nackenmuskeln ihrer besten Freundin.

»Wie wäre es, Svenja zu Andrea Moosbacher zu bringen?«, fragte sie in den Nacken hinein.

»Andrea Moosbacher hat Ausgang. Sie kann nicht«, kam es untermalt von leichtem Stöhnen zurück. Katharina war gut darin, die Triggerpunkte in Birgits Nacken zu treffen.

»Okay, okay, ich rufe Oliver an.« Katharina beendete die Massageaktion und hatte Sekunden später die skeptische Stimme von Olivers Assistentin am Ohr. Sie machte bereits durch ihren Tonfall klar, dass sie keine Lust hatte, die Kanzlei binnen einer Stunde zum Kinderzimmer verwandelt zu sehen. Immerhin verband sie kommentarlos mit Oliver.

»Hey Katharina, was gibt’s?«

»Hallo, mein Lieber, ich wollte mich nach deinem Augeninnendruck erkundigen.«

»Oh, Katharina, bitte, das haben wir echt nicht nötig. Wann soll ich Svenja nehmen?«

Katharina schloss die Augen und zählte bis drei. Dreimal durchatmen. Einmal schlechtes Gewissen wegen Svenja wegatmen. Einmal schlechtes Gewissen wegen »besten Freund schlecht behandeln« wegatmen. Einmal »Wut auf die ganze Welt« wegatmen.

»Katharina, bist du noch dran?«

»Jaha, bin ich. Oliver, es tut mir so leid …«

»Ich hole sie ab, mache mit ihr Hausaufgaben, koche was Leckeres, du kommst, wann immer es dir passt.«

»Okay, danke, super, äh … Oliver, ist was passiert?«

»Nichts, ich habe alle Vorsorgeuntersuchungen für dieses Jahr hinter mich gebracht, alles in bester Ordnung, sagen die Ärzte. Und zum ersten Mal in meinem Leben glaube ich das. Das ist ein so irres Gefühl, unbeschreiblich. Was mir mein Therapeut seit Jahren sagt, funktioniert jetzt. Als wir am Samstag am Chiemsee waren und dann noch bei dir, das war so schön, ich habe mich gefühlt wie mit einer eigenen Familie, und da hat’s zum ersten Mal geklappt: Ich hatte keine Lust mehr, mir ständig Sorgen zu machen, es hat geklappt, es hat geklappt!« Oliver jauchzte fast ins Telefon.

Während Katharina noch sprachlos war, hatte er den Schalter schon wieder umgelegt.

»Was gibt’s Neues von Adelhofer, warum musst du noch mal an den Chiemsee?«

Katharina brachte Oliver auf den Stand der Dinge, er hörte geduldig zu.

Als sie fertig war, sagte er: »Du musst Rosa Adelhofer allein erwischen, die soll dir Lukas’ Zimmer zeigen. Eltern wissen in der Regel so gut wie nichts über ihre erwachsenen Kinder, und in dem Fall ja wohl erst recht nicht. Drum musst du in das Zimmer.«

Katharina grinste. »Olli, danke, stimmt, du hast recht. Deswegen will ich morgen Vormittag fahren, da sitzt Max Adelhofer nämlich am Stammtisch.«

»Wunderbar, wir sehen uns morgen Abend, tschüss Katharina.« Und aufgelegt – keine Frage nach irgendwelchen Krankheitssymptomen. Sie vermisste es fast ein bisschen.

Montagnachmittag,
München Bogenhausen

»Du kriegst die Kohle. Gleiche Zeit, gleicher Ort. Wer sie bringt, weiß ich noch nicht.«

Jana runzelte die Stirn. Etwas freundlicher könnte er schon sein. Sie war schließlich nicht schuld an dem Schlamassel. Sie wollte nur ihren gerechten Lohn. Wie es vereinbart war. Sie hatte den Preis klar genannt. Dass die Stimmung ihr gegenüber nicht besser geworden war, nicht ihr Problem.

Ein böses Grinsen ging über ihr Gesicht, verwandelte sich aber sofort, als sie eine gerade eingegangene E-Mail in ihrem offiziellen Account entdeckte. Thomas Herbinger meldete sich brav zurück. Sie hatte es gewusst. Männer waren alle gleich. Sie überprüfte mit einem schnellen Griff den Sitz der blonden Welle und las:

»Liebe Jana, danke für den Support bei meinem neuen Smartphone. Klappt super. Herzliche Grüße, Thomas.«

Sprachlos starrte sie auf ihren Laptop. Was sollte das heißen? Ein verlängertes Vorspiel? Sollte sie mit ähnlichem Geplänkel über moderne Technik antworten? Oder war das das Ende, bevor es überhaupt angefangen hatte? Das würde sie nicht zulassen. Sie musste eben mit härteren Bandagen ran.

»Das freut mich, lieber Thomas. Ich wünsche dir weiterhin viel Spaß mit deinem neuen Phone.« Wenn er die Mail öffnete, würde sich die Schadsoftware installieren. Und dann würde er sich melden – melden müssen. So schnell gab Jana Waldemat nicht auf. Sie hatte schon andere Typen rumgekriegt, es hatte immer funktioniert, immer.

Dienstagvormittag,
Breitbrunn am Chiemsee

»Frau Adelhofer, sind Sie zu Hause?« Katharinas Ruf hallte durch das Erdgeschoss des alten Bauernhofs. Aus der Küche am Ende des breiten, mit alten Steinfliesen ausgelegten Ganges hörte man Musik – Radio, vermutete Katharina. Wie das auf dem Land üblich war, ging sie einfach rein und klopfte an die Küchentür.

»Ja«, hörte sie Rosa Adelhofers Stimme. »Kommens rein.«

Katharina betrat die Küche und fand Lukas’ und Roberts Mutter mit mehlbestäubter Schürze beim Teigkneten vor.

In der Spüle eine Schüssel mit geschälten Äpfeln, neben der Teigschüssel warteten die Mandelstifte.

»Hallo, Frau Adelhofer, ich bin noch mal vorbeigekommen, weil ich Sie etwas fragen wollte. Ich störe beim Backen, das tut mir leid.«

Die alte Frau Adelhofer drehte sich um und ein kleines Lächeln erschien auf dem traurigen alten Gesicht, als sie Katharina erkannte. Sie wischte sich die Hände an der Kittelschürze ab und deutete auf den Küchentisch. »Naa, Sie stören mich gar nicht. Wissens, ich back immer einen Kuchen, wenn’s Leben dunkel is’. Und wenn jemand mit mir a Stückerl isst, is’ des a kleine Freud. Setzens sich hin und in einer halben Stund’ gibt’s einen frisch gebackenen Apfelkuchen mit Streusel und Mandeln.«

»Hm, lecker, Frau Adelhofer, gern. Ihr Mann freut sich bestimmt auch über Ihren Apfelkuchen, oder?«

Rosa Adelhofers Miene verdüsterte sich. »Ach der Max, der kann meine Kuchen nimma sehn, wissens. Waren halt zu viel in letzter Zeit. Haben Sie denn was rausgfunden?«

»Leider noch nicht so richtig, Frau Adelhofer. Ich habe mir das Heftchen vom Lukas angeschaut.«

Rosa Adelhofer nickte und belegte weiter den Kuchenteig mit Apfelschnitzen.

»Weitergeholfen hat das leider nicht. Es ist traurig, was er schreibt, es schien ihm wirklich schlecht zu gehen.« Die akribische Zusammenstellung verschiedener Selbstmordarten, die Lukas sich offenbar aus dem Internet zusammengesucht hatte, ersparte sie seiner Mutter lieber.

»Des hab ich schon gmerkt, dass ihm schlecht gegangen is’, und ich hab ihm nicht helfen können. Des werd’ ich mir nie verzeihen.« Verstohlen wischte Rosa sich ein paar Tränen mit der Kittelschürze von der Wange. »Wissens, was des Schlimmste is’, Frau Langenfels? Ich weiß ned, was ich mit seinem Zimmer machen soll. Jeden Tag geh ich hoch und setz mich rein und bet’ für den Lukas, und danach bin ich noch viel trauriger als vorher. Des Zimmer, des schaut schlimm aus, aber ich will’s ned ausräumen. Der Max sagt die ganze Zeit, dass wir des machen müssen, damit’s mal ein End hat. Aber ich schaff’s nicht. Können Sie des verstehen?« Frau Adelhofer schaute Katharina so traurig und zugleich hoffend an, dass sich ihr der Magen zusammenzog vor lauter Mitgefühl.

»Natürlich verstehe ich das, Frau Adelhofer, der Lukas ist Ihr Kind. Seine Sachen sind eine Erinnerung für Sie. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie die guten Dinge in Erinnerung behalten und nicht die traurige letzte Zeit. Sie könnten sich alte Fotoalben anschauen, das ist zwar auch traurig, aber Sie sehen, dass der Lukas viele schöne Zeiten in seinem Leben hatte.«

Rosa Adelhofer schob den Kuchen in den Ofen, dann drehte sie sich zu Katharina um: »Wenns wollen, zeig ich Ihnen Bilder, die beiden Buben waren goldig, wies klein waren.«

Eine Stunde später saßen die alte Frau Adelhofer und Katharina in der »guten Stube« – Rosa hatte extra das blau-weiß geblümte Sonntagsporzellan herausgeholt – bei frisch gebackenem Apfelkuchen und schauten sich Kinderfotos der Adelhofer-Buben an:

Robert und Lukas in der Badewanne, Robert und Lukas beim Klettern, Robert und Lukas im Sonntagsstaat mit Lederhosen und Trachtenhemd, Robert und Lukas in einem Berg von Geschenken unter dem Weihnachtsbaum – eine glückliche Familie offenbar, zumindest damals, dachte Katharina.

»Zwei hübsche Buben haben Sie, Frau Adelhofer, Sie können stolz sein.«

»Ja, hübsch sinds beide, nur dem Lukas war des wurschd. Der Robert hat des halt ausnutzen wolln und des macht er bis heut’. Wissns, Frau Langenfels, ich hab so eine Angst, dass der Robert Geld verdienen will mit dem Lukas seim Tod. Neulich hat er den Max nach dem Computer vom Lukas gfragt. Ob er den haben könnt’. Der Max hat’s ihm nicht erlaubt, er hat gsagt, dass den noch die Polizei hat. Weil er weiß, dass ich des nicht ertragen würd’, wenn irgendwas aus dem Lukas seinem Zimmer fehlt. Aber die Polizistin hat ihn ja zurückbracht, und irgendwann nimmt der Robert den mit, des weiß ich genau, und dann macht er irgendwas Schlimmes mit den Sachen, die da drinstehen.«

Katharina schwieg und wusste, dass Rosa Adelhofer mit ihren Befürchtungen vollkommen richtiglag. Sie sah den Buchtitel förmlich vor sich: »Die Trauer bewältigen – Robert Adelhofer und der Tod seines Bruders«.

»Sagens, Frau Langenfels, könnten Sie den Computer vielleicht mitnehmen? Ich sag dem Robert, ich hab ihn beim Sperrmüll mitgebn, weil ich nicht wollt’, dass irgendjemand des liest, was der Lukas gschrieben hat.«

Woher nahm die alte Frau das Vertrauen zu ihr? Katharina staunte.

»Wenn Sie das wirklich möchten, Frau Adelhofer, mache ich das natürlich. Ich werde nichts davon lesen, was er dort gespeichert hat, darauf können Sie sich verlassen.« Leider, dachte Katharina, es wäre nämlich spannend zu sehen, was sich in Lukas’ Laptop fand.

»Des dürfens ruhig, vielleicht findens was, damit ich endlich weiß, warum der Lukas des gmacht hat. Und jetzt essens noch ein Stück Kuchen.«

Rosa lud Katharina ein zweites Stück des besten Apfelkuchens auf den Teller, den sie jemals gegessen hatte. Die Äpfel waren durch den Zucker, den Rosa Adelhofer noch darüber gestreut hatte, leicht karamellisiert, der Mürbeteig enthielt ein bisschen Zimt, fantastisch.

Während Katharina genüsslich aß, beschloss sie, ihre eigentlich geplante Frage zu stellen. Bisher wollte sie zum einen den Redestrom der alten Frau nicht bremsen und sie zum anderen nicht mit noch mehr Traurigem belasten. Aber vielleicht hatte sie die entscheidende Information, um den Grund für Lukas’ Selbstmord herauszufinden.

»Frau Adelhofer, Lukas hat anscheinend zu einem Freund gesagt, dass er bei der Pressekonferenz von Robert eine Bombe platzen lassen will. Vielleicht wollte er irgendetwas erzählen, was dem Robert nicht passt. Haben Sie eine Idee, was das gewesen sein könnte?«

Rosa Adelhofer schlug sich die Hände vors Gesicht und wurde noch blasser. »Des hat er gsagt? Mei, die beiden Bubn, sie ham sich so gut verstanden, warn in den Bergen zusammen, warum hat des so kommen müssn. Ich versteh’s nicht. Nein, ich weiß nix, nur halt, dass der Lukas rumbrüllt hat an dem Abend bevor …«, sie schluchzte und schnäuzte sich. Dann schaute sie Katharina traurig, aber entschlossen an: »Wir gehn hoch in dem Lukas sein Zimmer und holn den Computer raus. Vielleicht finden Sie was, was wichtig is’. Und auch sonst dürfens mitnehmen, was Sie brauchen, damit ich weiß, was mit meim Bub los war.«

Depressive habe ich mir anders vorgestellt, dachte Katharina. Sie pickte die letzten Krümel mit der Kuchengabel vom Teller und beschloss, Rosa Adelhofer das Bild zu ersparen, das ihr Sohn Robert von ihr skizziert hatte. Depressive backten – ihrer Ansicht nach – keine leckeren Kuchen, um auf andere Gedanken zu kommen. Und sie hatten nicht die Energie, den geschäftstüchtigen Sohn zu hintergehen, um das Andenken des zweiten Sohns zu schützen und dessen Selbstmord aufzuklären.

Rosa Adelhofer war bereits aufgestanden und räumte das Geschirr zusammen. Mit einem Tischstaubsauger entfernte sie die Krümel von der reich bestickten Tischdecke – rote Rosen, blaue Veilchen am Rand, in der Mitte prangte eine riesige gelbe Sonnenblume. »Was für eine tolle Tischdecke, Frau Adelhofer, haben Sie die selbst bestickt?«

Rosa Adelhofer drehte sich um und lächelte: »Na, die hat mei Oma gmacht. Die Deck’ is’ scho’ fast 100 Jahr alt. Und in der Männerwirtschaft war des ned so leicht, dass die Tischdeckn des überlebt. Schee, dass Ihnen auffallt.« Der Blick wurde trauriger. »Kommens, gehma rauf zum Lukas.«

Katharina nickte und folgte der alten Frau die ausgetretene Holztreppe nach oben in den ersten Stock des Bauernhauses. An den Wänden hingen Fotos vom Adelhofer-Hof, wie er früher war – Feriengäste auf der Terrasse vor dem Haus, riesige Geranienkästen vor den Fenstern, Schwarz-Weiß-Bilder früherer Adelhofer-Generationen.

Oben angekommen ging es über den breiten Gang, dessen alte Holzdielen mit Flickerlteppichen belegt waren. Hinten rechts öffnete Rosa vorsichtig die schwere Eichentür, als habe sie Angst, dass ihr gleich Lukas entgegentreten würde.

Das Bild, das sich Katharina bot, war tatsächlich schrecklich. Wie Frau Obermann es ihr beschrieben hatte, lag überall Müll herum, Papiere, Zeitungen, Besteck, dreckiges Geschirr. Der Geruch war nicht so schlimm, wie sie es erwartet hatte. Vermutlich hatte Rosa Adelhofer zumindest die herumliegenden Lebensmittel eingesammelt.

Beherzt ging die Bäuerin auf den Schreibtisch ihres Sohnes zu und nahm den Laptop an sich. »Brauchens noch was dazu? Ich kenn mich halt mit dem gar ned aus.«

»Nein, wir sollten nur schauen, ob Lukas noch irgendwo Sicherheitskopien gemacht hat, auf einem Computerstick zum Beispiel. Wissen Sie, was das ist?«

Rosa Adelhofer schüttelte verständnislos den Kopf. »Naa, schauns ruhig, obs irgendwo was finden. Ich will bloß, dass der Robert des ned kriegt. Des Handy hat er anscheinend schon.«

Katharina schaute Frau Adelhofer fragend an.

»Des Handy vom Lukas is’ ned da, zwei hat er sogar ghabt. Des hab ich ihn mal gfragt, für was er zwei Handys braucht. Er hat gsagt, eins fürs Dienstliche, eins fürs Private. Des hab ich nie verstanden, was des Dienstliche war, wo er nix gearbeitet hat. Aber ich hab’s mich nicht fragen traun. Und jetzt sinds beide weg. Die hat bestimmt der Robert, aber den hab ich ned gfragt, der wär gleich wütend gworden. Und jetzt is’ er doch mein einziger Bub, auch wenn er kein guter is’.«

Frau Adelhofer wischte sich über die Augen.

Katharina durchsuchte das Zimmer, öffnete Schubladen, schaute unter das Bett, hinter Bücher im Bücherregal, entdeckte aber nichts Interessantes. Nur in einem Regal stand ein Ordner mit der Aufschrift »Lukas privat«.

»Frau Adelhofer, soll ich den Ordner mitnehmen? Ich weiß nicht, was drin ist. Trotzdem ist es vielleicht besser, wenn er nicht in Roberts Finger kommt?«

Die alte Frau Adelhofer nahm den Ordner und blätterte darin herum. »Des is’ bestimmt besser. Die Polizei hat den zurückbracht, nehmens ihn mit. Und schauns ruhig rein, vielleicht findens was Wichtiges.«

Katharina legte kurz den Arm um die alte Frau und sagte: »Ich tue, was ich kann, Frau Adelhofer, ehrlich. Sobald ich was rausfinde, sind Sie die Erste, die es erfährt. Sagen Sie, die Nummern von den beiden Handys vom Lukas, haben Sie die?«

»Na, nur die eine, bei der dienstlichen hat er gsagt, dass er nicht angrufen werden kann. Die private, die is’ unten in der Küch’ in der Schublad’, die könnens ham.«

Unten angekommen übertrug Katharina die Handynummer des toten Lukas Adelhofer in ihr eigenes Smartphone.

»Danke, Frau Adelhofer, ich fahre dann, bevor ich Sie noch um ein Stück Kuchen anbettle. Es riecht so gut, dass ich wieder Hunger kriege.«

»Nehmens noch zwei, drei Stückerln mit, Frau Langenfels, für Sie und Ihr’ Tochter und eins für gleich.« Ein Strahlen ging über das faltige Gesicht der alten Frau, Katharinas Besuch hatte ihr anscheinend ein paar Lebensgeister zurückgegeben.

»Gerne, Frau Adelhofer, Svenja wird sich freuen, sie liebt Apfelkuchen.«

Ein paar Minuten später saß Katharina im Auto, im Ohr die Verabschiedung von Rosa Adelhofer: »Kommens bald wieder, Madl, Sie san a gutes Madl, so a Tochter hätt’ ich mir gwünscht.«