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Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4

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VII
Die vier Kerzen

Sobald die Kinder gegessen hatten, bat Marie Antoinette den König um Erlaubniß, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen.

»Sehr gern, Madame,« sagte der König, »denn Sie müssen müde sein; nur, da es unmöglich ist, daß Sie von jetzt bis Morgen keinen Hunger bekommen, lassen Sie sich etwas bereiten und in Ihr Zimmer stellen.«

Die Königin entfernte sich, ohne ihm zu antworten, mit ihren Kindern.

Der König blieb bei Tische, um sein Abendbrod vollends zu verzehren. Madame Elisabeth, deren Ergebenheit selbst das alltägliche Wesen von Ludwig XVI. bei gewissen Gelegenheiten nicht vermindern konnte, blieb beim König, um ihn mit den kleinen Aufmerksamkeiten zu umgeben, welche selbst den am besten abgerichteten Bedienten entgehen.

Die Königin, sobald sie in ihrem Zimmer war, athmete; keine von ihren Frauen war ihr gefolgt, da sie ihnen besohlen, Versailles nicht eher zu verlassen, als bis sie Nachricht erhalten hätten.

Sie beschäftigte sich damit, ein Canapé oder einen großen Lehnstuhl für sich zu suchen, da sie ihre zwei Kinder in ihrem Bette schlafen zu lassen gedachte.

Der kleine Dauphin schlummerte schon; kaum hatte das arme Kind seinen Hunger gestillt, als es vom Schlaf erfaßt worden war.

Madame Royale schlief nicht und hätte, wenn es nöthig gewesen wäre, die ganze Nacht nicht geschlafen: es war viel von der Königin in Madame Royale.

Nachdem man den kleinen Prinzen in einen Lehnstuhl gelegt hatte, forschten Madame Royale und die Königin auch nach den Mitteln, die sie nicht finden konnten.

Die Königin näherte sich zuerst einer Thüre: sie war im Begriff, sie zu öffnen, als sie jenseits dieser Thüre ein leichtes Geräusch hörte. Sie horchte und vernahm einen zweiten Seufzer; sie bückte sich bis zum Schlosse und erblickte durch das Schlüsselloch Andrée, welche aus einem niedrigen Stuhle kniete und betete.

Sie wich aus den Fußspitzen zurück und betrachtete immer die Thüre mit einem seltsamen Ausdruck von Schmerz.

Dieser Thüre gegenüber war eine andere. Die Königin öffnete sie und befand sich in einem sanft erwärmten und durch eine Nachtlampe beleuchteten Zimmer; beim Scheine dieser Lampe erblickte sie mit einem freudigen Beben zwei Betten frisch und weiß wie zwei Altäre.

Da schwoll ihr Herz ab, eine Thräne befeuchtete, ihr trockenes, glühendes Augenlid.

»Oh! Weber, Weber,« murmelte sie, »die Königin hat dem König gesagt, es sei ein Unglück, daß man aus Dir nicht einen Minister machen könne, doch die Mutter sagt Dir, Du verdienest etwas Besseres.«

Dann, da der kleine Dauphin schlief, wollte sie damit anfangen, daß sie Madame Royale zu Bette brächte. Doch mit der Ehrfurcht, welche sie immer gegen ihre Mutter gehabt hatte, bat Madame Royale die Königin um Erlaubniß, ihr helfen zu dürfen, damit sie selbst sich rascher zu Bette begeben könne.

Die Königin lächelte traurig; ihre Tochter dachte, sie könne schlafen nach einer solchen Nacht der Bangigkeiten, nach einem solchen Tage der Demüthigungen! Sie wollte sie in diesem süßen Glauben lassen.

Man fing also damit an, daß man den Herrn Dauphin zu Bette brachte.

Dann kniete Madame Royale nach ihrer Gewohnheit nieder und verrichtete ihr Gebet am Fuße ihres Bettes.

Die Königin wartete.

»Mir scheint, Dein Gebet dauert länger als gewöhnlich?« sagte die Königin zur jungen Prinzessin, »Mein Bruder, das arme Kind, ist eingeschlafen, ohne daß er daran dachte, das seinige zu verrichten,« antwortete Madame Royale, »und da er gewohnt war, jeden Abend für Sie und den König zu beten, so sage ich sein Gebetchen nach dem meinigen, damit nichts an dem fehlt, was wir von Gott zu erflehen haben.«

Die Königin nahm Madame Royale und drückte sie an ihr Herz. Die schon durch die Bemühungen des guten Weber geöffnete und durch das Mitleid von Madame Royale wiederbelebte Thränenquelle entstürzte ihren Augen, und es flössen Zähren tief traurig, aber ohne Bitterkeit an ihren Wangen herab.

Sie blieb unbeweglich wie der Engel der Mütterlichkeit beim Bette von Madame Royale bis zu dem Augenblick stehen, wo sie, durch den Schlaf erschlafft, die Muskeln ihrer Hände, welche die ihrigen mit einer so zärtlichen und so tiefen kindlichen Liebe preßten, sich abspannen sah.

Dann legte sie sachte die Hände ihrer Tochter an ihren Leib, bedeckte sie mit dem Betttuche, damit sie nicht durch die Kälte leide, wenn sich das Zimmer in der Nacht abkühlte, senkte aus die entschlummerte Stirne der zukünftigen Märtyrin einen Kuß leicht wie ein Hauch und sanft wie ein Traum, und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Dieses Zimmer war durch einen Candelaber mit vier Kerzen erleuchtet.

Dieser Candelaber stand aus einem Tisch.

Dieser Tisch war mit einem rothen Teppich bedeckt.

Die Königin setzte sich an diesen Tisch und ließ ihren Kopf zwischen ihre zwei geschlossenen Fäuste fallen, ohne etwas Anderes zu sehen, als den vor ihr ausgebreiteten Teppich.

Wiederholt schüttelte sie den Kopf bei diesem blutigen Reflex; es schien ihr, als unterliefen sich ihre Augen mit Blut, als schlügen ihre Schläfe vom Fieber, und als brausten ihre Ohren.

Dann ging ihr ganzes Leben, wie ein beweglicher Nebel, an ihr vorüber.

Sie erinnerte sich, daß sie am 2. November 1755, am Tage des Erdbebens von Lissabon, das fünfzig tausend Personen getödtet und den Einsturz von zweihundert Kirchen verursacht hatte, geboren war.

Sie erinnerte sich, daß in dem ersten Zimmer, wo sie in Straßburg geschlafen, die Tapete die Ermordung der unschuldigen Kindlein vorstellte, und daß es ihr in eben dieser Nacht beim flackernden Lichte der Nachtlampe geschienen hatte, als flösse Blut aus den Wunden aller dieser armen Kinder, während das Gesicht der Mörder einen so entsetzlichen Ausdruck annahm, daß sie erschrocken um Hilfe rief und den Befehl gab, bei Tagesanbruch aus dieser Stadt abzureisen, welche ein so furchtbares Andenken an die erste Nacht, die sie in Frankreich zugebracht, in ihr zurücklassen mußte.

Sie erinnerte sich, daß sie, ihren Weg gegen Paris verfolgend, im Hause des Baron von Taverney angehalten hatte, daß sie hier zum ersten Mal den elenden Cagliostro getroffen, der seitdem bei der Halsband-Geschichte einen so erschrecklichen Einfluß auf ihr Geschick geübt, und daß er ihr bei diesem Halt, – der ihrem Gedächtnisse so gegenwärtig, daß es ihr schien, als wäre dieses Ereigniß vom vorhergehenden Tag, obgleich seitdem zwanzig Jahre verlaufen waren, – auf ihre dringende Aufforderung in einer Caraffe etwas Ungeheures, eine fürchterliche, unbekannte Todesmaschine und am Ende dieser Maschine einen Kopf gezeigt hatte, der vom Rumpfe gelöst hinrollte und kein anderer war, als der ihrige.

Sie erinnerte sich, daß ihr Madame Lebrun, als sie das reizende Portrait von ihr, einer schönen, noch glücklichen jungen Frau, machte, aus Unbeachtsamkeit ohne Zweifel, – eine erschreckliche Vorbedeutung, – die Stellung gegeben hatte, welche Frau Henriette von England, die Gemahlin von Karl I., auf ihrem Portrait hat.

Sie erinnerte sich, daß an dem Tage, wo sie zum ersten Male nach Versailles kam, als sie, aus ihrem Wagen gestiegen, den Fuß aus das unselige Pflaster des Marmorhofes setzte, wo sie am vorhergehenden Tage so viel Blut hatte fließen sehen, ein so fürchterlicher Donnerschlag erscholl und ein so gräulicher Blitz die Luft zu ihrer Linken durchfurchte, daß der Herr Marschall von Richelieu, der doch nicht leicht zu erschrecken war, den Kopf schüttelte und: »Ein schlimmes Vorzeichen!« murmelte.

Und sie erinnerte sich aller dieser Umstände, während sie vor ihren Augen den röthlichen Dunst, der ihr immer dichter geworden zu sein schien, wirbeln sah.

Diese Art von Verdüsterung war so fühlbar, daß die Königin die Augen bis zu dem Candelaber aufschlug und bemerkte, daß ohne irgend eine Ursache eine von den Kerzen erloschen war.

Sie bebte, die Kerze rauchte noch und nichts gab diesem Erlöschen ein Motiv.

Während sie den Candelaber mit Erstaunen anschaute, kam es ihr vor, als erbleichte die Kerze zunächst der erloschenen langsam, und als würde ihre Flamme allmälig von weiß roth und von roth bläulichroth; dann verdünnerte und verlängerte sich die Flamme, dann schien sie der Docht zu verlassen und zu entfliegen; dann schaukelte sie sich einen Augenblick, wie von einem unsichtbaren Hauche bewegt, und erlosch.

Die Königin schaute diesem Todeskampfe der zweiten Kerze mit stieren Augen zu; ihre Brust keuchte immer mehr, ihre ausgestreckten Hände näherten sich immer mehr der Kerze, je mehr die Kerze dem Erlöschen nahe war. Endlich, als sie erloschen war, schloß sie die Augen, warf sich in ihren Lehnstuhl zurück und fuhr mit ihren Händen über ihre Stirne, die sie von Schweiß triefend fand.

Sie blieb so mit geschlossenen Augen ungefähr zehn Minuten, und als sie dieselben wieder öffnete, gewahrte sie zu ihrem Schrecken, daß das Licht der dritten Kerze wie das der zwei ersten abzunehmen anfing.

Marie Antoinette glaubte Anfangs, es sei dies ein Traum und sie leide unter der lastenden Gewalt einer Sinnentäuschung. Sie versuchte es, auszustehen, doch es schien ihr, als wäre sie an ihren Stuhl gekettet. Sie versuchte es, Madame Royale zu rufen, welche sie zehn Minuten vorher nicht um eine zweite Krone aufgeweckt hätte, doch die Stimme erlosch in ihrer Kehle; sie versuchte es, den Kopf umzudrehen, doch ihr Kopf blieb starr und unbeweglich, als hätte diese sterbende dritte Kerze ihren Blick und ihren Athem an sich gezogen. Endlich, wie die zweite die Farbe gewechselt hatte, nahm die dritte Kerze verschiedene Töne an, erbleichte, verlängerte sich, flackerte von rechts nach links, dann von links nach rechts, und erlosch.

Da ließ der Schrecken die Königin eine solche Anstrengung machen, daß sie fühlte, die Sprache komme ihr wieder; mit Hilfe dieser Sprache wollte sie sich den Muth verleihen, der ihr fehlte, und sie sagte laut:

 

»Ich beunruhige mich nicht über das, was diesen drei Kerzen widerfahren ist, doch wenn die vierte erlischt wie die drei andern, oh! Wehe! wehe mir!«

Plötzlich, ohne die Vorbereitungen, welche bei den anderen stattgefunden hatten, ohne daß die Flamme die Farbe wechselte, ohne daß sie sich zu verlängern oder zu schaukeln schien, erlosch die vierte Kerze, als ob sie der Flügel des Todes im Vorüberziehen berührt hätte.

Die Königin stieß einen schrecklichen Schrei aus, stand auf, drehte sich zweimal um sich selbst, schlug die Luft und die Finsterniß mit ihren Armen und fiel ohnmächtig nieder.

In der Secunde, wo das Geräusch ihres Körpers auf dem Boden erscholl, öffnete sich die Verbindungsthüre, und in ihrem batistenen Nachtgewande erschien Andrée, weiß und schweigsam wie ein Schatten, aus der Schwelle.

Sie blieb einen Augenblick stehen, als sähe sie inmitten dieser Finsterniß eine Art von Dunst in der Nacht hinziehen; sie horchte, als hätte sie in der Luft die Falten eines Grabtuches sich bewegen hören.

Dann senkte sie ihren Blick und gewahrte die Königin aus dem Boden ohne Bewußtsein ausgestreckt.

Sie machte einen Schritt rückwärts, als triebe sie eine erste Bewegung ihres Innern an, sich zu entfernen; doch alsbald sich selbst gebietend, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu fragen, – eine Frage, welche übrigens unnütz gewesen wäre, – ohne die Königin zu fragen, was sie habe, hob sie diese in ihren Armen auf und trug sie auf ihr Bett mit einer Stärke, der sie sich nicht fähig gehalten hätte, nur geleitet durch die zwei Kerzen, welche ihr Zimmer erleuchteten, und deren Schein sich durch die Thüre bis in das Zimmer der Königin verlängerte.

Dann zog sie einen Flacon mit Riechsalz aus der Tasche und hielt ihn Marie Antoinette unter die Nase.

Trotz der Wirksamkeit dieses Salzes, war die Ohnmacht von Marie Antoinette so tief, daß sie erst nach zehn Minuten einen Seufzer von sich gab.

Bei diesem Seufzer, der der Fürstin Rückkehr ins Leben verkündigte, war Andrée abermals versucht, sich zu entfernen, doch auch diesmal, wie das erste Male, hielt sie das, bei ihr so mächtige, Pflichtgefühl zurück.

Sie zog nun ihren Arm unter dem Kopfe von Marie Antoinette hervor, den sie in die Höhe gehoben hatte, damit kein Tropfen von dem ätzenden Essig, mit dem das Salz befeuchtet war, auf das Gesicht oder die Brust der Königin fallen konnte. Dieselbe Bewegung ließ sie den Arm entfernen, der den Flacon hielt.

Nun aber fiel der Kopf auf das Kissen zurück, und nachdem der Flacon entfernt war, lag die Königin in eine Ohnmacht versunken, welche noch tiefer als die, aus der sie hervorgehen zu wollen geschienen hatte.

Immer kalt, beinahe unbeweglich, hob Andrée den Kopf von Marie Antoinette abermals auf und hielt ihr den Flacon zum zweiten Male unter die Nase: er brachte seine Wirkung hervor.

Ein leichter Schauer durchlief den ganzen Leib der Königin, sie stöhnte, ihr Auge öffnete sich; sie sammelte alle ihre Gedanken, sie erinnerte sich des erschrecklichen Vorzeichens, und eine Frau in ihrer Nähe fühlend, umschlang sie mit ihren Armen deren Hals und rief:

»Oh! vertheidigen Sie mich, retten Sie mich!«

»Eure Majestät bedarf keiner Vertheidigung in der Mitte ihrer Freunde,« erwiederte Andrée, »und sie scheint mir nun von der Ohnmacht gerettet, in die sie gefallen war.«

»Die Gräfin von Charny!« rief die Königin Andrée loslassend, welche sie umschlungen hielt und in einer ersten Bewegung beinahe zurückstieß.

Weder diese Bewegung, noch das Gefühl, das sie eingegeben, entgingen Andrée.

Doch im ersten Augenblick blieb sie unbeweglich bis zur Unempfindlichkeit.

Dann machte sie einen Schritt rückwärts und fragte:

»Befiehlt die Königin, daß ich ihr sich auskleiden helfe?«

»Nein, Gräfin, ich danke,« antwortete die Königin mit bebender Stimme, »ich werde mich allein auskleiden.«

»Ich will in mein Zimmer zurückkehren, nicht um zu schlafen, Madame,« sagte Andrée, »sondern um über dem Schlafe Eurer Majestät zu wachen.«

Und nachdem sie sich ehrerbietig verbeugt hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück, mit dem langsamen, feierlichen Schritte, welcher der der Statuen wäre, wenn die Statuen gehen würden.

VIII
Die Straße nach Paris

An demselben Abend, an dem die von uns erzählten Ereignisse vorgefallen waren, hatte ein nicht minder ernstes Ereigniß die ganze Anstalt des Abbé Fortier in Bewegung gebracht.

Sebastian Gilbert war gegen zehn Uhr Abends verschwunden und, trotz der ängstlichen Nachforschungen im ganzen Hause von Herrn Abbé Fortier und Mademoiselle Alexandrine Fortier, der Schwester des Abbé, nicht wiedergefunden worden.

Man hatte sich bei Jedermann erkundigt, und Niemand wußte, was aus ihm geworden.

Die Tante Angelique allein, welche gegen acht Uhr Abends aus der Kirche ging, wo sie die Stühle geordnet hatte, glaubte ihn in der kleinen Gasse, die zwischen dem Gefängniß und der Kirche durchführt, gehen und dann nach dem Parterre lausen gesehen zu haben.

Diese Nachricht, statt den Abbé Fortier zu beruhigen, vermehrte noch seine Unruhe. Es waren ihm die seltsamen Hallucinationen nicht unbekannt, welche sich zuweilen Gilberts bemächtigten, wenn ihm die Frau, die er seine Mutter nannte, erschien, und mehr als einmal war der Abbé, von dieser Art von Schwindel, von Sinnentäuschung unterrichtet, dem Knaben mit den Augen gefolgt, wenn er ihn zu tief in den Wald hatte eindringen sehen, und in dem Moment, wo er ihn verschwinden zu sehen befürchtete, hatte er ihm durch die besten Läufer seiner Anstalt nachsetzen lassen.

Die Läufer hallen den Knaben immer keuchend, beinahe ohnmächtig, an einen Baum angelehnt oder der Länge nach auf dem Moose, dem grünen Teppich dieses herrlichen Hochwaldes, liegend gefunden.

Doch nie hatte ein solcher Schwindel Sebastian am Abend erfaßt, nie war man in der Nacht genöthigt gewesen, ihm nachzulaufen.

Es mußte also etwas Außerordentliches vorgefallen sein; doch der Abbé Fortier mochte sich immerhin den Kopf zerbrechen, er konnte nicht errathen, was vorgefallen war.

Um zu einem glücklicheren Resultat zu gelangen, als der Abbé Fortier, wollen wir Sebastian Gilbert folgen, wir, die wir wissen, wohin er gegangen ist.

Die Tante Angélique hatte sich nicht geirrt; es war Sebastian Gilbert, den sie hatte in der Dunkelheit hinschleichen und dann aus Leibeskräften nach demjenigen Theile des Parkes laufen sehen, welchen man das Parterre7 nennt.

Auf dem Parterre angelangt, war er nach der Fasanerie und von da aus den kleinen Waldweg geeilt, welcher gerade nach Haramont führt.

In drei Viertelstunden war er im Dorfe.

So bald wir wissen, daß das Ziel des Laufes von Sebastian das Dorf Haramont war, ist es uns nicht schwierig, zu errathen, was Sebastian in diesem Dorfe suchte.

Sebastian suchte hier Pitou.

Unglücklicher Weise ging Pitou auf einer Seite des Dorfes hinaus, während Sebastian aus der andern eingetreten war.

Denn Pitou hatte, wie man sich erinnert, nach dem Bankett, das sich die Nationalgarde von Haramont gegeben, wobei er allein, wie ein Ringer des Alterthums, aufrecht geblieben, während alle Andern zu Boden geworfen worden waren, Pitou hatte Catherine ausgesucht und, wie man sich erinnert, auf dem Wege von Villers-Coterets nach Pisseleu ohnmächtig und nur die Wärme des letzten Kusses, den ihr Isidor gegeben, bewahrend gefunden.

Sebastian wußte nichts von Allem dem, er ging geraden Wegs nach dem Häuschen von Pitou, dessen Thüre er offen fand.

Bei seinem einfachen Leben glaubte Pitou nicht nöthig zu haben, seine Thüre zu schließen, mochte er im Hause anwesend oder abwesend sein. Aber hätte er auch die Gewohnheit gehabt, seine Thüre ängstlich zu schließen, so war doch sein Geist an diesem Abend von so schweren Sorgen belastet, daß er sicherlich diese Vorsichtsmaßregel zu nehmen vergessen haben würde.

Sebastian kannte die Wohnung von Pitou wie seine eigene: er suchte den Zunder und den Feuerstein, fand das Messer, welches Pitou als Feuerstahl diente, zündete den Zunder und mit dem Zunder das Licht an und wartete.

Doch Sebastian war zu sehr bewegt, um ruhig zu warten, und besonders, um lange zu warten.

Er ging unablässig vom Kamin zur Thüre und von der Thüre an die Straßenecke; dann kehrte er, wie Schwester Anna, da er nichts kommen sah, nach dem Hause zurück, um sich zu versichern, daß Pitou während seiner Abwesenheit nicht gekommen war.

Endlich, da er sah, daß die Zeit verstrich, trat er an einen hinkenden Tisch, aus dem er Tinte, Federn und Papier fand.

Aus dem ersten Blatt dieses Papiers standen die Namen, die Vornamen und das Alter der zwei und dreißig Mann geschrieben, welche den Effectivstand der Nationalgarde von Haramont bildeten und unter den Befehlen von Pitou marschirten.

Sebastian legte sorgfältig dieses erste Blatt aus die Seite, dieses Blatt, ein Meisterwerk der Kalligraphie des Kommandanten, der sich, damit das Geschäft besser besorgt werde, nicht schämte, zuweilen zum subalternen Grade eines Fouriers herabzusteigen.

Dann schrieb er auf das zweite Blatt:

»Mein lieber Pitou,

»Ich kam, um Dir zu sagen, ich habe vor acht Tagen ein Gespräch zwischen dem Herrn Abbé Fortier und dem Vicar von Villers-Coterets angehört. Es scheint, der Abbé Fortier ist im Einverständniß mit den Aristokraten von Paris; er sagte dem Vicar, es bereite sich in Versailles eine Gegenrevolution vor.

»Das haben wir seitdem in Betreff der Königin erfahren, welche die schwarze Cocarde aufgesteckt und die dreifarbige mit Füßen getreten hat.

»Diese Drohung einer Gegenrevolution und das, was wir sodann von den Ereignissen, welche aus das Bankett folgten, erfuhren, hatten mich schon sehr wegen meines Vaters beunruhigt, der, wie Du weißt, der Feind der Aristokraten ist; doch heute Abend, mein lieber Pitou, war das noch viel schlimmer.

»Der Vicar kam am Abend wieder zum Pfarrer, und da ich für meinen Vater bange hatte, so glaubte ich, es sei nichts Schlimmes daran, wenn ich die Fortsetzung dessen, was ich neulich durch Zufall gehört, belausche.

»Es scheint, mein lieber Pitou, das Volk ist nach Versailles gezogen, es hat viele Personen niedergemetzelt, und unter diesen Personen auch Herrn George von Charny.

»Der Abbé Fortier fügte bei:

»»Sprechen wir leise, um den kleinen Gilbert nicht zu beunruhigen, dessen Vater nach Versailles gegangen ist und wohl wie die Anderen getödtet worden sein könnte.««

»Du begreifst, mein lieber Pitou, daß ich nicht mehr gehört habe.

»Ich schlich ganz sachte aus meinem Versteck, ohne daß mich Jemand bemerkte, ging durch den Garten nach dem Schloßplatz und lief hierher zu Dir, um Dich zu bitten, mich wieder nach Paris zu führen, was zu thun und zwar von Herzen gern zu thun Du nicht unterlassen würdest, wenn Du hier wärest.

»Da Du aber nicht hier bist, da Du lange ausbleiben kannst, weil Du wahrscheinlich Schlingen im Walde von Villers-Coterets legen gegangen bist, da Du in diesem Falle erst bei Tage zurückkommen wirst, so wird meine Unruhe zu groß, und ich vermöchte nicht bis dahin zu warten.

»Ich reise also allein ab: sei unbesorgt, ich kenne den Weg. Ueberdies bleiben mir noch von dem Gelde, das mir mein Vater gegeben hat, zwei Louis d’or, und ich werde einen Platz in dem ersten dem besten Wagen nehmen, den ich aus der Landstraße treffe.

»Dein Dich liebender

»Sebastian,«

N.S. Ich habe den Brief sehr lang gemacht, einmal, um Dir die Ursache meiner Abreise zu erklären, und dann, weil ich immer hoffte, Du würdest zurückkommen, ehe er beendigt wäre.

»Er ist beendigt, Du bist nicht zurückgekommen, ich gehe ab! Gott befohlen, oder vielmehr aus baldiges Wiedersehen; ist meinem Vater nichts geschehen, läuft er keine Gefahr, so komme ich zurück.

»Ist es anders, so bin ich fest entschlossen, ihn zu bitten, mich bei sich zu behalten.

»Beruhige den Abbé Fortier über meine Abreise; aber beruhige ihn erst morgen, damit es zu spät ist, mir nachlaufen zu lassen.

»Ich gehe nun entschieden ab, da Du nicht zurückkommst. Gott befohlen, oder vielmehr aus Wiedersehen.«

Und hiernach löschte Sebastian Gilbert, der die Sparsamkeit seines Freundes kannte, das Licht aus, zog die Thüre zu und entfernte sich.

Wurde man sagen, Sebastian sei, bei Nacht eine so lange Reise unternehmend, nicht ein wenig bewegt gewesen, so würde man sicherlich lügen. Doch diese Bewegung war nicht das, was sie bei einem andern Kinde gewesen wäre: die Angst; es war einfach das volle Gefühl der Handlung, die er unternahm, dieser Handlung, welche ein Ungehorsam gegen die Befehle seines Vaters, zugleich aber auch ein Beweis seiner kindlichen Liebe war, und ein solcher Ungehorsam mußte von allen Vätern verziehen werden.

 

Ueberdies war Sebastian, seitdem wir uns mit ihm beschäftigen, herangewachsen. Ein wenig bleich, ein wenig schwächlich, ein wenig nervös für sein Alter, zählte Sebastian fünfzehn Jahre. In diesem Alter, mit dem Temperament von Sebastian, und wenn man der Sohn von Gilbert und Andrée ist, ist man nahe daran, ein Mann zu sein.

Ohne ein anderes Gefühl, als die von der Handlung, welche er beging, unzertrennliche Gemüthsbewegung, fing also der junge Mann an gegen Largny zu laufen, das er bald bei der bleichen Helle, welche von den Sternen fällt, wie der alte Corneille sagt, entdeckte. Er ging längs dem Dorfe hin und erreichte den großen Hohlweg, der sich von diesem Dorfe nach Vauciennes erstreckt; in Vauciennes fand er die Landstraße, und nun, da er sich aus dem Wege des Königs sah, marschirte er ruhiger.

Sebastian, der ein Junge voll Verstand, der Lateinisch sprechend von Paris nach Villers-Coterets gekommen war und drei Tage zum Kommen gebraucht hatte, sah wohl ein, daß man nicht in einer Nacht nach Paris zurückkehrt, und verlor seinem Athem nicht dadurch, daß er irgend eine Sprache sprach.

Er stieg also den ersten Berg von Vauciennes im Schritt hinab und den zweiten eben so hinauf; doch auf einem ebenen Terrain angelangt, fing er an lebhafter zu marschiren.

Vielleicht wurde diese Lebhaftigkeit im Gange von Sebastian dadurch veranlaßt, daß sich einer ziemlich schlimmen Stelle näherte, die sich aus der Straße findet und damals im Rufe von Hinterhalten stand, welcher Ruf sich heute völlig verloren hat. Diese Stelle nennt man die Fontaine-Eau-Claire, weil eine klare Quelle zwanzig Schritte davon aus zwei Steinbrüchen fließt, die, zwei Höllenschlunden ähnlich, ihren finstern Rachen gegen die Landstraße öffnen.

Hatte Sebastian Angst oder hatte er keine Angst, als er über diese Stelle kam? Das vermöchte man nicht zu sagen, denn er beschleunigte seine Schritte nicht, denn, während er auf dem entgegengesetzten Rande der Straße gehen konnte, entfernte er sich nicht von der Mitte des Weges; er mäßigte seinen Schritt etwas weiter, doch ohne Zweifel, weil er zu einer kleinen Steige gekommen war und endlich den Zusammenlauf der zwei Straßen nach Paris und nach Crespy erreichte.

Hier blieb er plötzlich stehen. Von Paris kommend, hatte er nicht bemerkt, welcher Straße er folgte; nach Paris zurückkehrend, wußte er nicht, welcher Straße er folgen sollte.

War es die links? war es die rechts?

Beide waren mit den gleichen Bäumen besetzt, beide waren gleich gepflastert.

Niemand fand sich, um die Frage von Sebastian zu beantworten.

Von einem und demselben Punkte ausgehend, entfernten sich die zwei Straßen sichtbar und schnell von einander; daraus war zu entnehmen, daß Sebastian, sollte er, statt die gute Straße zu wählen, die schlechte wählen, am andern Tage schon sehr fern von seinem Wege wäre.

Sebastian blieb unentschlossen stehen.

Er suchte an irgend einem Merkmal zu erkennen, welcher von den zwei Straßen er gefolgt war; doch dieses Merkmal, das ihm am Tage gefehlt hätte, fehlte ihm noch viel mehr in der Dunkelheit.

Er hatte sich entmuthigt an die Ecke der zwei Straßen niedergesetzt, theils, um auszuruhen, theils, um zu überlegen, als er in der Ferne, von der Seite von Villers-Coterets herkommend, den Galopp von ein paar Pferden zu hören glaubte.

Er stand aus und horchte.

Es war keine Täuschung, das Geräusch der aus der Landstraße schallenden Hufeisen wurde immer deutlicher.

Sebastian sollte also die Auskunft erhalten, auf die er wartete.

Er schickte sich an, die Reiter beim Vorüberkommen anzuhalten und sich von ihnen diese Auskunft zu erbitten.

Bald sah er ihren Schatten in der Nacht hervortreten, während unter den Füßen ihrer Rosse zahlreiche Funken stoben.

Da erhob er sich vollends, ging über den Graben und wartete.

Die Cavalcade bestand aus zwei Männern, von denen der eine drei bis vier Schritte vor dem andern galoppirte.

Sebastian dachte mit Recht, der Erste von den beiden Männern sei ein Herr, der Zweite ein Diener.

Er machte also zwei Schritte, um sich an den Ersten zu wenden.

Dieser, welcher einen Menschen gleichsam aus dem Graben springen sah, glaubte, es sei ein Hinterhalt, und griff nach seinen Holftern.

Sebastian bemerkte die Bewegung und sagte:

»Mein Herr, ich bin kein Räuber; ich bin ein Kind, das die letzten Ereignisse in Versailles nach Paris ziehen, das dort seinen Vater suchen will; ich weiß nicht, welchen von diesen zwei Wegen ich einschlagen soll; bezeichnen Sie mir denjenigen, welcher nach Paris führt, und Sie werden mir einen großen Dienst geleistet haben.«

Die ausgewählten Worte von Sebastian, der jugendliche Klang seiner Stimme, welche dem Reiter nicht unbekannt dünkte, machten, daß er, so große Eile er auch zu haben schien, sein Pferd anhielt.

»Mein Kind,« fragte er, »wer sind Sie, und warum wagen Sie sich zu einer solchen Stunde auf die Landstraße?«

»Ich frage Sie nicht nach Ihrem Namen, ich frage Sie nach der Straße, an deren Ende ich erfahren werde, ob mein Vater todt ist oder lebt.«

Es lag in dieser beinahe noch kindischen Stimme ein Ausdruck von Festigkeit, der dem Reiter auffiel.

»Mein Freund,« sagte er, »die Straße nach Parts ist diejenige, welcher wir folgen; ich kenne sie selbst schlecht, da ich nur zweimal in Paris gewesen bin, aber ich bin darum nicht minder sicher, daß die Straße, der wir folgen, die gute ist.«

Sebastian dankte und machte einen Schritt rückwärts. Die Pferde waren des Schnaufens bedürftig. Derjenige, welcher der Herr zu sein schien, ritt weiter, aber weniger rasch.

Der Lackei folgte ihm.

»Hat der Herr Vicomte diesen Knaben erkannt?« fragte er.

»Nein, doch mir scheint  . . .«

»Wie, der Herr Vicomte hat den jungen Sebastian Gilbert, der beim Abbé Fortier in Pension ist, nicht erkannt?«

»Sebastian Gilbert?«

»Ja, der, welcher von Zeit zu Zelt in den Pachthof von Mademoiselle Catherine mit dem großen Pitou kam.«

»In der That, Du hast Recht,« rief der Herr.

Dann hielt er sein Pferd an, wandte sich um und fragte:

»Sind Sie es denn, Sebastian?«

»Ja, Herr Isidor,« antwortete der Knabe, der den Reiter vollkommen erkannt hatte.

»So kommen Sie doch, mein junger Freund,« rief der Reiter, »und erzählen Sie mir, wie es zugeht, daß ich Sie so allein zu dieser Stunde aus der Straße finde.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, Herr Isidor, ich gehe nach Paris, um mich zu versichern, ob mein Vater getödtet worden ist oder noch lebt.«

»Ach! armes Kind,« sprach Isidor mit einem Gefühle tiefer Traurigkeit, »ich gehe aus einer ähnlichen Ursache nach Paris, nur zweifle ich nicht mehr.«

»Ja, ich weiß  . . .Ihr Bruder?«

»Einer meiner Brüder . ., mein Bruder George ist gestern in Versailles getödtet worden.«

»Ah! Herr von Charny!«

Sebastian machte eine Bewegung vorwärts und streckte die Hände gegen Isidor aus.

Isidor nahm sie und drückte sie.

»Nun, mein liebes Kind,« sagte Isidor, »da unser Schicksal ein ähnliches ist, so dürfen wir uns nicht mehr trennen; Sie müssen wie ich Eile haben, nach Paris zu kommen.«

»Oh! ja, mein Herr!«

»Sie, können nicht zu Fuße gehen.«

»Ich würde wohl zu Fuße gehen, doch das wäre langwierig; ich gedenke auch morgen meinen Platz in dem ersten dem besten Wagen zu bezahlen, den ich treffe und der denselben Weg macht wie ich, und mit ihm so weit, als ich kann, gegen Paris zu fahren.«

»Und wenn Sie keinen treffen?«

»Dann gehe ich zu Fuße.«

»Thun Sie etwas Besseres, mein liebes Kind, setzen Sie sich bei meinem Bedienten hinten auf.«

Sebastian zog seine Hände aus denen von Isidor zurück und sagte:

»Ich danke, Herr Vicomte.«

Diese Worte wurden aus eine so ausdrucksvolle Weise betont, daß Isidor begriff, er habe das Kind dadurch verletzt, daß er ihm angeboten, sich hinter seinem Lackei auszusetzen.

»Oder vielmehr,« sprach er, »ich bedenke, nehmen Sie sein Pferd; er wird uns in Paris wieder einholen. Wenn er sich in den Tuilerien erkundigt, wird er immer sicher erfahren, wo ich bin.«

7Das Luftstück.