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Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4

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CXXVI
Billot Abgeordneter

Die von uns so eben erzählten Ereignisse hatten einen tiefen Eindruck, nicht nur auf die Einwohner von Villers-Coterets, sondern auch auf die Pächter der umliegenden Dörfer hervorgebracht.

Die Pächter sind aber eine große Macht bei der Wahlangelegenheit! sie beschäftigen jeder zehn, zwanzig, dreißig Tagelöhner, und obgleich das Wahlrecht zwei Abstufungen hatte, hing doch die Wahl völlig von dem ab, was man das Land nannte.

Jeder Mann hatte, als er Billot verließ und ihn, zum Abschied die Hand drückte, einfach zu ihm die zwei Worte gesagt:

»Sei ruhig!«

Und Billot war wirklich ruhig nach dem Pachthose zurückgekehrt, denn zum ersten Male erschaute er ein mächtiges Mittel, dem Adel und dem Königthum das Böse, das sie ihm angethan, wiederzuvergelten.

Billot fühlte, er urtheilte nicht, und sein Verlangen nach Rache war blind wie die Streiche, die er empfangen.

Er kehrte nach dem Pachthofe zurück, ohne von Catherine ein Wort zu sprechen. Niemand konnte wissen, ob ihm ihre vorübergehende Anwesenheit bekannt war. Bei keinem Umstande hatte er seit einem Jahre ihren Namen genannt; seine Tochter war für ihn, als ob sie nicht mehr existirte.

Nicht so war es bei Pitou, diesem Goldherzen! er hatte es auf das Innigste beklagt, daß ihn Catherine nicht lieben konnte; als er aber Isidor gesehen und sich mit dem eleganten jungen Manne verglichen, da hatte er vollkommen begriffen, daß Catherine ihn liebe.

Er hatte Isidor beneidet, doch Catherine durchaus nicht gegrollt; im Gegentheil, er hatte sie immer mit einer tiefen, unbegrenzten Ergebenheit geliebt.

Sagen, diese Ergebenheit sei von Beklemmungen völlig frei gewesen, hieße lügen, doch selbst diese Beklemmungen, die das Herz von Pitou bei jedem neuen Beweise von Liebe, den sie ihrem Liebhaber gab, bedrückten, zeugten von der unaussprechlichen Güte dieses Herzens.

Nachdem Isidor in Varennes getödtet worden, hatte Pitou für Catherine nur noch ein tiefes Mitleid empfunden; da hatte er, – gerade das Gegentheil von Billot, – dem jungen Manne vollkommen Gerechtigkeit widerfahren lassen und sich dessen erinnert, was Schönes, Gutes, Edelmüthiges in demjenigen war, welcher, ohne es zu vermuthen, sein Nebenbuhler gewesen.

Hierdurch war erfolgt, was wir gesehen: daß nicht nur Pitou vielleicht die betrübte und in Trauer gekleidete Catherine mehr geliebt, als er die heitere und coquette Catherine geliebt hatte, sondern daß er sogar, was man für unmöglich gehalten hätte, dazu gelangt war, daß er die arme kleine Waise fast eben so sehr als sie liebte.

Man wird sich also nicht wundern, daß Pitou, nachdem er wie die Andern vom Pächter Abschied genommen, statt sich nach dem Pachthofe zu wenden, gegen Haramont ging.

Man war übrigens so sehr an das unerwartete Verschwinden und die ebenso unerwarteten Rückkehren von Pitou gewöhnt, daß sich trotz der hoben Stellung, die er als Kapitän im Dorfe einnahm, Niemand um seine Abwesenheiten bekümmerte; wenn Pitou abgegangen, so flüsterte man sich zu:

»Der General Lafayette hat ihn rufen lassen.«

Und damit war Alles gesagt.

Kam Pitou zurück, so fragte man ihn nach Neuigkeiten aus der Hauptstadt, und da Pitou, mit Hilfe von Gilbert, die frischesten und besten gab, da man einige Tage, nachdem er diese Neuigkeiten gegeben, die Vorhersagungen von Pitou sich verwirklichen sah, so hatte man fortwährend das blindeste Vertrauen zu ihm sowohl als Kapitän, wie als Propheten.

Gilbert seinerseits wußte, was alles Gutes und Hingebendes in Pitou war; er fühlte, in einem gegebenen Augenblicke sei es ein Mensch, dem er sein Leben, das Leben von Sebastian, einen Schatz, eine Sendung, kurz Alles, was man mit Ruhe der Redlichkeit und der Stärke übergibt, anvertrauen könnte. So oft Pitou nach Paris kam, fragte ihn Gilbert, ohne daß dies Pitou im Mindesten erröthen machte, ob er etwas brauche; fast immer antwortete Pitou! »Nein, Herr Gilbert;« was Herrn Gilbert nicht abhielt, Pitou einige Louis d’or zu geben, welche Pitou in seine Tasche steckte.

Einige Louis d’or nebst seinen Privatmitteln und dem Zehenten, den er in Naturerzeugnissen vom Walde des Herzogs von Orleans erhob, das war für Pitou ein Vermögen; Pitou hatte noch nie das Ende seiner paar Louis d’or gesehen, wenn er Herrn Gilbert wiedersah und ein Händedruck des Doctors in seiner Tasche die Quelle des Pactolus erneuerte.

Man erstaunte also nicht, daß Pitou bei der Stimmung seines Gemüthes in Beziehung auf Catherine und Isidor sich hastig von Billot trennte, um zu erfahren, was aus der Mutter und dem Kinde geworden.

Sein Weg, wenn er nach Haramont ging, führte ihn am Clouis-Steine vorbei; hundert Schritte von der Hütte begegnete er dem Vater Clouis, der mit einem Hasen in seiner Jagdtasche zurückkam.

Es war sein Hasentag.

Mit zwei Worten theilte der Vater Clouis Pitou mit, Catherine sei gekommen und habe ihn um ihr altes Lager gebeten, das er ihr schleunigst wieder eingeräumt; sie habe viel geweint, die Arme, als sie in die Stube zurückgekehrt, wo sie Mutter geworden, und wo ihr Isidor so lebhafte Beweise seiner Liebe gegeben.

Doch alle diese Trübsale waren nicht ohne eine Art von Reiz; Jeder, der einen großen Schmerz empfunden hat, weiß, daß die grausamen Stunden diejenigen sind, wo die versiegten Thränen zu fließen sich weigern, die glücklichen und süßen Stunden die, wo man die Thränen wiederfindet.

Als Pitou auf der Schwelle der Hütte erschien, fand er Catherine, die Wangen feucht, ihr Kind in den Armen, auf ihrem Bette sitzend.

Sobald sie Pitou sah, legte Catherine das Kind in ihren Schooß und bot dem jungen Manne die Hände und die Stirne; Pitou ergriff ganz freudig ihre beiden Hände, küßte sie auf die Stirne, und das Kind fand sich einen Augenblick geschirmt unter dem Bogen, den über ihm diese sich pressenden Hände, diese auf die Stirne seiner Mutter gedrückten Lippen von Pitou bildeten.

Dann fiel Pitou vor Catherine auf die Kniee, küßte die Hände des Kindes und sagte:

»Ah! Mademoiselle Catherine, seien Sie ruhig, ich bin reich: es wird Herrn Isidor an nichts mangeln.«

Pitou hatte fünfzehn Louis d’or: er nannte das reich sein.

Selbst gut von Geist und Herz, schätzte Catherine Alles, was gut war.

»Ich danke, Herr Pitou,« erwiederte sie, »ich glaube Ihnen und bin glücklich, Ihnen zu glauben, denn Sie sind mein einziger Freund, und würden Sie mich verlassen, so wären wir allein auf der Erde; doch nicht wahr, Sie werden uns nie verlassen?«

»Oh! Mademoiselle,« versetze Pitou schluchzend, »sagen Sie mir nicht solche Dinge! Sie würden mich alle Thränen meines Leibes weinen machen!«

Pitou weinte in der That so stark, daß er dem Ersticken nahe.

»Ich habe Unrecht,« sprach Catherine, »ich habe Unrecht: entschuldigen Sie mich.«

»Nein,« sagte Pitou, »nein, Sie haben im Gegentheil Recht! ich bin dumm, daß ich so weine.«

»Herr Pitou, ich habe Luft nöthig! geben Sie mir den Arm, daß wir uns ein wenig unter den großen Bäumen ergehen. Ich glaube, das wird mir wohl thun.«

»Und mir auch, Mademoiselle, denn ich fühle, daß ich ersticke.«

Das Kind hatte keine Luft nöthig: es hatte reichlich seine Nahrung am mütterlichen Busen genommen, und es bedurfte des Schlafes.

Catherine legte es auf ihr Bett und gab Pitou den Arm.

Nach fünf Minuten befanden sie sich unter den großen Bäumen des Waldes, einem prächtigen von der Hand des Herrn der Natur, seiner göttlichen, seiner ewigen Tochter, errichteten Tempel.

Dieser Spaziergang, wobei sich Catherine auf seinen Arm stützte, erinnerte Pitou unwillkürlich an den, welchen er zwei und ein halbes Jahr vorher am Pfingsttage Catherine nach dem Ballsaale führend gemacht, wo zu seinem großen Schmerze Isidor mit ihr getanzt hatte.

Wie viele Ereignisse hatten sich während dieser drittehalb Jahre aufgehäuft, und wie sehr, ohne ein Philosoph auf der Höhe von Herrn von Voltaire oder Herrn Rousseau zu sein, begriff Pitou, daß er und Catherine nur im allgemeinen Wirbel fortgerissene Atome waren!

Doch diese Atome in ihrer Geringfügigkeit hatten nichtsdestoweniger, wie die vornehmen Leute, wie die Fürsten, wie der König, wie die Königin, ihre Freude und ihren Schmerz; diese Mühle, welche sich in den Händen des Verhängnisses drehend die Kronen zermalmte und die Throne in Staub verwandelte, hatte das Glück von Catherine zermalmt und in Staub verwandelt nicht mehr und nicht minder, als hätte sie auf einem Throne gesessen und eine Krone, auf dem Haupte getragen.

Nach drittehalb Jahren hatte im Ganzen diese Revolution, zu der er so mächtig beigetragen, übrigens ohne zu wissen, was er that, folgende Verschiedenheit in der Lage von Pitou herbeigeführt.

Drittehalb Jahre vorher war Pitou ein armer, von Tante Angélique fortgejagter, von Billot aufgenommener, von Catherine beschützter, Isidor geopferter Bauernbursche gewesen.

Heute war Pitou eine Macht; er hatte einen Säbel an der Seite, Epauletten auf der Schulter; man nannte ihn Kapitän; Isidor war getödtet, und er, Pitou, war es, der Catherine und ihr Kind beschützte.

Die Antwort von Danton, als man ihn fragte: »In welcher Absicht machen Sie eine Revolution?« »Um hinunter zu bringen, was oben ist, und hinauf, was unten ist,« war also in Beziehung auf Pitou vollkommen genau.

Aber man hat gesehen, obgleich ihm alle diese Ideen im Kopfe herumtrabten, zog doch der gute, der bescheidene Pitou keinen Vortheil daraus, und er war es, der auf den Knieen Catherine anflehte, sie möge ihm erlauben, daß er sie und ihr Kind beschütze.

Catherine ihrerseits hatte, wie alle leidende Herzen, eine viel feinere Schätzung im Schmerz, als in der Freude. Pitou, der zur Zeit ihres Glückes für sie nur ein braver Bursche ohne Wichtigkeit war, wurde das fromme Geschöpf, das er in Wirklichkeit, das heißt, der Mensch der Güte, der Unschuld und der Ergebenheit. Hieraus erfolgte, daß sie, unglücklich und eines Freundes bedürftig, begriff, Pitou sei gerade der Freund, den sie brauche, und immer von Catherine empfangen mit einer gegen ihn ausgestreckten Hand, mit einem reizenden Lächeln auf den Lippen, fing Pitou an ein Leben zu führen, von dem er nie, selbst in seinen Träumen des Paradieses, eine Ahnung gehabt hatte.

 

Während dieser Zeit verfolgte Billot, immer stumm hinsichtlich seiner Tochter, indeß er seine Ernte machte, seinen Gedanken, zum Abgeordneten bei der gesetzgebenden Versammlung ernannt zu werden. Ein einziger Mann hätte den Sieg über ihn davon tragen können, wäre er von demselben Ehrgeize besessen gewesen; doch ganz nur seinem Glücke und seiner Liebe hingegeben, genoß der Graf von Charny mit Andrée, in seinem Herrenhause in Boursonne eingeschlossen, die Freuden einer unerwarteten Glückseligkeit; die Welt vergessend, glaubte sich der Graf von Charny von ihr vergessen; der Graf von Charny dachte nicht einmal daran.

Da sich nichts im Canton Villers-Coterets der Wahl von Billot widersetzte, so wurde Billot mit einer ungeheuren Stimmenmehrheit zum Abgeordneten gewählt.

Als Billot gewählt war, bemühte er sich, so viel als möglich Geld zu realisiren. Das Jahr war gut gewesen; er machte den Theil seiner Grundeigenthümer, nahm den seinigen, behielt, was er an Korn für seine Saaten, was er an Hafer, Stroh und Heu für das Futter seiner Pferde, was er an Geld für die Nahrung seiner Leute brauchte, und ließ eines Morgens Pitou kommen.

Pitou machte, wie wir erwähnt, von Zeit zu Zeit Billot seinen Besuch.

Billot empfing Pitou immer mit offener Hand, bot ihm Frühstück an, wenn es die Stunde des Frühstücks war, Mittagsbrod, wenn es die Stunde des Mittagessens war, ein Glas Wein oder Obstmost, war es die Stunde, ein Glas Obstmost oder Wein zu trinken.

Nie aber hatte Billot Pitou holen lassen.

Nicht ohne Besorgniß begab sich also Pitou nach dem Pachthofe.

Billot war immer ernst; Niemand konnte sagen, er habe ein Lächeln über die Lippen des Pächters ziehen sehen seit dem Augenblicke, wo seine Tochter den Pachthof verlassen.

Billot war noch ernster als gewöhnlich.

Er reichte indessen, wie er dies zu thun pflegte, seine Hand Pitou, drückte sogar stärker als gewöhnlich die, welche ihm Pitou gab, und behielt sie in seinen Händen.

Pitou schaute den Pächter mit Erstaunen an.

»Pitou,« sagte dieser, »Du bist ein redlicher Mensch.«

»Ei! ich glaube wohl, Herr Billot,« erwiederte Pitou.

»Und ich, ich weiß es gewiß.«

»Sie sind sehr gut, Herr Billot.«

»Ich habe also beschlossen, Dich, wenn ich abgehe, an die Spitze des Pachthofes zu stellen.«

»Mich, Herr Billot?« versetzte Pitou erstaunt; »unmöglich!«

»Warum unmöglich?«

»Ei! Herr Billot, weil es eine Menge Einzelheiten gibt, wobei das Auge einer Frau unerläßlich ist.«

»Ich weiß es,« erwiederte Billot; »Du wirst selbst die Frau wählen, welche die Beaufsichtigung mit Dir theilen soll; ich frage Dich nicht nach ihrem Namen; ich brauche ihn nicht zu wissen; und komme ich nach dem Pachthofe, so werde ich Dich acht Tage vorher davon benachrichtigen, damit, sollte ich diese Frau nicht sehen, oder sollte sie mich nicht sehen, dieselbe Zeit hätte, sich zu entfernen.«

»Gut, Herr Billot.«

»Es ist nun auf der Tenne das für die Aussaat nöthige Korn; auf dem Speicher Hafer, Stroh und Heu, so viel als für das Futter der Pferde erforderlich, und in dieser Schublade das für den Lohn und die Kost der Leute nothwendige Geld.«

Billot öffnete eine Schublade voll Geld.

»Einen Augenblick Geduld, Herr Billot!« sagte Pitou; »wie viel ist in dieser Schublade?«

»Ich weiß es nicht,« erwiederte Billot, während er sie wieder zurückschob.

Dann schloß er sie, gab den Schlüssel Pitou und sagte:

»Wenn Du kein Geld mehr hast, wirst Du von mir verlangen.«

Pitou begriff, was Alles an Vertrauen in dieser Antwort lag; er öffnete beide Arme, um Billot damit zu umfangen; doch plötzlich wahrnehmend, was er gethan, sei sehr vermessen von ihm, sagte er:

»Oh! verzeihen Sie, Herr Billot; ich bitte tausendmal um Verzeihung!«

»Verzeihung für was?« fragte Billot ganz gerührt von dieser Demut; »Verzeihung dafür, daß ein ehrlicher Mensch seine Arme ausgestreckt hat, um einen andern ehrlichen Menschen zu umfangen? Auf, komm, Pitou! komm, umarme mich!«

Pitou warf sich in die Arme von Billot.

»Und wenn Sie zufällig dort meiner bedürfen . . . « sagte er.

»Sei ruhig, Pitou, ich werde Dich nicht vergessen.« sprach Billot.

Und er fügte bei:

»Es ist zwei Uhr Nachmittags; ich reise um fünf Uhr nach, Paris ab. Um sechs Uhr kannst Du mit der Frau hier sein, die Du zu Deiner Unterstützung gewählt haben wirst.«

»Gut!« sagte Pitou. »Dann habe ich keine Zeit zu verlieren! Auf Wiedersehen, lieber Herr Billot!«

»Auf Wiedersehen, Pitou!«

Pitou eilte aus dem Pachthofe fort.

Billot folgte ihm mit den Augen, so lange er ihn sehen konnte; dann, als er verschwunden war, sagte er:

»Oh! warum hat sich meine Tochter Catherine nicht eher in einen braven Burschen wie Pitou verliebt, als in diesen adeligen Schuft, der sie als Witwe, ohne verheirathet, als Mutter, ohne Frau gewesen zu sein, hinterließ!«

Es ist nun nun unnötig, zu sagen, daß um fünf Uhr Billot in die Diligence von Villers-Coterets nach Paris stieg, und daß um sechs Uhr Pitou, Catherine und der kleine Isidor in den Pachthof kamen.

CXXVII
Anblick der neuen Versammlung

Am 1. October 1791 sollte die Eröffnung der gesetzgebenden Versammlung stattfinden.

Billot kam, wie die andern Abgeordneten, an, Ende des Septembers an.

Die neue Versammlung bestand aus siebenhundert fünf und vierzig Mitgliedern; unter ihnen zählte man vierhundert Advocaten und Rechtsgelehrte; zwei und siebzig Literaten, Journalisten, Dichter; siebzig constitutionelle Priester, das heißt, Priester, die der Constitution den Eid geleistet; – die zweihundert und drei Uebrigen waren Grundeigenthümer oder Pächter wie Billot, Grundeigenthümer und Pächter zugleich, oder Leute, welche freie Künste und sogar Handwerke trieben.

Der eigenthümliche Charakter, unter welchem die neuen Abgeordneten erschienen, war indessen die Jugend: die Mehrzahl derselben war nicht über sechs und, zwanzig Jahre alt; man hätte glauben sollen, es sei eine neue, unbekannte Generation, von Frankreich abgesandt, um gewaltsam mit der Vergangenheit zu brechen; geräuschvoll, stürmisch, revolutionär kam sie, um die Tradition zu entthronen; fast Alle von cultivirtem Geiste, die Einen, wie gesagt, Dichter, die Andern Advokaten, wieder Andere Chemiker; voll Energie, von einer außerordentlichen Begeisterung, von einer grenzenlosen Hingebung an Ideen, sehr unwissend in den Staatsangelegenheiten, unerfahren, Schwätzer, leichtsinnig, streitsüchtig, brachten sie offenbar die große, aber furchtbare Sache, die man das Unbekannte nennt.

Das Unbekannte in der Politik ist aber immer die Besorgniß. Condorcet und Brissot ausgenommen, konnte man fast jeden von diesen Menschen fragen: »Wer sind Sie?«

In der That, wo waren die Lichter und sogar die Fackeln der constituirenden Versammlung? wo waren die Mirabeau, die Barnave, die Siéyès, die Dupont, die Bailly, die Robespierre, die Cazales? Alles dies war verschwunden.

Stellenweise, wie verirrt unter dieser glühenden Jugend, einige weiße Köpfe.

Die Uebrigen repräsentirten das junge oder männliche Frankreich, Frankreich mit schwarzen Haaren.

Schöne Köpfe, für eine Revolution abzuhauen, die auch fast alle abgehauen wurden!

Außer dem fühlte man den Bürgerkrieg im Innern keimen, man fühlte den Krieg mit dem Auslande kommen; alle diese jungen Leute waren keine einfache Abgeordnete; es waren Streiter: die Gironde, – die sich im Falle des Krieges ganz, vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre, an die Grenze zu marschiren angeboten hatte, – die Gironde schickte eine Vorhut.

Diese Vorhut, das waren die Vergniaud, die Guadet, die Gensonné, die Fonfrède, die Ducos; es war dieser Kern, der sich die Gironde nennen und seinen Namen einer weltbekannten Partei geben sollte, welche, trotz ihrer Fehler, durch ihre Mißgeschicke sympathisch geblieben ist.

Von einem Kriegshauche geboren, traten sie mit einem Sprunge und wie Athleten kampfgierig in die blutige Arena des politischen Lebens ein.

Wenn man sie nur stürmisch ihre Plätze in der Kammer einnehmen sieht, erräth man in ihnen jenes Wehen des Sturmes, das die Ungewitter vom 20. Juni, 10. August und 21. Februar machen wird.

Keine rechte Seite mehr: die Rechte ist aufgehoben: folglich keine Aristokraten mehr.

Die ganze Versammlung ist gegen zwei Feinde gewaffnet: die Adeligen, die Priester.

Widerstreben diese, so ist das Mandat, das sie erhalten, ihren Widerstand zu brechen.

Was den König betrifft, so hat man das Gewissen der Abgeordneten als Richter hinsichtlich des Verfahrens gelassen, das man gegen ihn beobachten soll; man beklagt ihn, man hofft, er werde der dreifachen Macht der Königin, der Aristokratie und der Geistlichkeit entkommen; unterstützt er sie, so wird man ihn mit ihnen vernichten.

Der arme König! man nennt ihn weder mehr König, noch Ludwig den XVI., noch Majestät: man nennt ihn die executive Gewalt.

Die erste Bewegung der Abgeordneten, als sie in diesen Saal eintraten, der ihnen hinsichtlich seiner Eintheilung völlig fremd, war, daß sie umherschauten.

Auf jeder Seite öffnete sich eine vorbehaltens Tribüne.

»Für wen sind diese Tribünen?« fragten mehrere Stimmen.

»Diese Tribünen sind für die abgehenden Deputierten,« antwortete der Baumeister.

»Ho! ho!« murmelte Vergniaud, »was soll das bedeuten? ein Censurausschuß? Ist die Legislative44 eine Repräsentantenkammer der Nation, oder eine Schülerclasse?«

»Warten wir,« sagte Hérault de Séchelles, »wir werden sehen, wie sich unsere Herren benehmen.«

»Huissier!« rief Thuriot, »Sie werden ihnen, so wie sie eintreten, sagen, es sei in der Versammlung ein Mann, der beinahe den Gouverneur der Bastille von seinen Mauern hinabgeworfen hätte, und dieser Mann heiße Thuriot

Anderthalb Jahre später nannte man diesen Mann Tue-Roi.45

Der erste Act der neuen Versammlung war, daß sie eine Deputation nach den Tuilerien schickte.

Der König war so unklug, sich durch einen Minister suppliren zu lassen.

»Meine Herren,« sagte der Minister, »der König kann sie in diesem Augenblicke nicht empfangen; kommen Sie in drei Stunden wieder.«

Die Abgeordneten entfernten sich.

»Nun?« fragten die andern Mitglieder, als sie dieselben so bald zurückkommen sahen.

»Bürger!« erwiederte einer der Abgesandten, »der König ist nicht bereit, und wir haben drei Stunden voraus.«

»Wohl!« rief von seinem Platze aus der Hinkebein Couthon, »benützen wir diese drei Stunden. Ich trage darauf an, daß der Titel Majestät abgeschafft werde.«

Ein allgemeines Hurrah antwortete. Der Titel Majestät wurde durch Zuruf abgeschafft.

»Wie wird man die executive Gewalt nennen?« fragte sodann eine Stimme.

»Man wird sie den König der Franzosen nennen,« antwortete eine andere Stimme. »Dieser Titel ist schön genug, daß sich Herr Capet damit begnügen mag.«

Aller Augen wandten sich gegen den Mann, der den König von Frankreich Herr Capet genannt hatte.

Es war Billot.

»Gut: es bleibe beim König der Franzosen,« rief man fast einstimmig.

»Warten Sie sagte Couthon, »es bleiben uns noch zwei Stunden übrig. Ich habe einen neuen Antrag zu machen.«

»Thun Sie es!« riefen alle Stimmen.

»Ich beantrage, daß man beim Eintritt des Königs aufstehe, sobald aber der König eingetreten ist, sich wieder setze und sich bedecke.«

Es herrschte einen Augenblick ein furchtbarer Tumult: das Zustimmungsgeschrei war so heftig, daß man es hätte für ein Geschrei der Opposition halten können.

Als der Lärm sich endlich legte, bemerkte man, daß alle Welt einverstanden war.

 

Der Antrag wurde angenommen.

Couthon schaute nach der Pendeluhr.

»Wir haben noch eine Stunde,« sagte er. Ich habe einen dritten Antrag zu machen.«

»Sprechen Sie,« rief man von allen Seiten.

»Ich beantrage,« sprach Couthon mit der sanften Stimme, welche bei Gelegenheit auf eine so entsetzliche Weise zu vibrieren wußte, »ich beantrage, daß es keinen Thron mehr für den König gebe, sondern einen einfachen Armstuhl.«

Der Redner wurde durch gewaltiges Beifallklatschen unterbrochen.

»Warten Sie,« rief er, die Hand erhebend, »ich bin noch nicht zu Ende.«

Sogleich trat wieder Stille ein.

»Ich beantrage, daß der Stuhl des Königs zur Linken des Präsidenten stehe.«

»Sehen Sie wohl zu!« sprach eine Stimme, »das heißt nicht nur den Thron abschaffen, sondern sogar den König subordinieren.«

»Ich beantrage, nicht nur den Thron abzuschaffen, sondern auch den König zu subordinieren,« sagte Couthon.

Hierauf erfolgten erschreckliche Acclamationen; es lagen der ganze 20. Juni und der ganze 10. August in diesem furchtbaren Händeklatschen.

»Es ist gut, Bürger,« sprach Couthon, »die drei Stunden sind abgelaufen. Ich danke dem König der Franzosen, daß er uns hat warten lassen: wir haben unsere Zeit beim Warten nicht verloren.«

Die Deputation kehrte nach den Tuilerien zurück.

Diesmal empfing sie der König, doch es war ein Entschluß gefaßt worden.

»Meine Herren,« sprach er, »ich kann mich erst in drei Tagen in die Assemblée begeben.«

Die Deputierten schauten sich an.

»Es wird also am 4. sein, Sire?« sagten sie.

»Ja, meine Herren, es wird am 4. sein,« antwortete der König.

Und er wandte ihnen den Rücken zu.

Am 4. Oktober ließ der König sagen, er sei leidend und werde sich erst am 7. in die Sitzung begeben.

Dessen ungeachtet hielt am 4., in Abwesenheit des Königs, die Constitution von 1791, das heißt das wichtigste Werk der letzten Versammlung, ihren Einzug in die neue Versammlung.

Sie war umgeben und bewacht von den zwölf ältesten Deputierten der constituierenden Versammlung.

»Gut!« sagte eine Stimme, »das sind die zwölf Greise der Apokalypse!«

Der Archivar Camus trug sie und bestieg damit die Tribune.

»Volk,« sprach er, wie ein zweiter Moses, »hier sind die Gesetztafeln.«

Dann begann die Ceremonie des Eides.

Die ganze Versammlung defilierte traurig und kalt; Viele wußten zum Voraus, diese unmächtige Constitution werde nicht ein Jahr leben: man schwor, um zu schwören, weil es eine auferlegte Ceremonie war.

Drei Viertel von denjenigen, welche schworen, waren entschlossen, ihren Eid nicht zu halten.

»Es verbreitete sich indessen in Paris das Gerücht von den drei in der Versammlung gefaßten Beschlüssen:

Keine Majestät mehr!

Keinen Thron mehr!

Einen einfachen Armstuhl zur Linken des Präsidenten! Damit war ungefähr gesagt: »Keinen König mehr!«

Das Geld war, wie gewöhnlich, das Erste, was Angst bekam: die Fonds sanken entsetzlich; die Banquiers fingen an zu befürchten.

Am 9. Oktober ging eine große Veränderung vor.

Nach dem neuen Gesetze gab es keinen Obercommandanten der Nationalgarde mehr.

Am 9. Oktober sollte Lafayette seine Entlassung nehmen, und jeder von den sechs Legionschefs sollte seinerseits commandieren.

Der für die königliche Sitzung bestimmte Tag kam; man erinnert sich, daß es der 7. war.

Der König trat ein.

Ganz im Widerspruche mit dem, was man hatte er warten können, so groß war noch das Privilegium, stand man beim Eintritte des Königs nicht nur auf, man entblößte sich nicht nur, sondern es erscholl sogar einstimmiges Beifallklatschen.

Die Assemblée rief: »Es lebe der König!«

Sogleich aber, als hätten die Royalisten den neuen Abgeordneten eine Herausforderung zuschleudern wollen, riefen die Tribunen:

»Es lebe Seine Majestät!«

Ein langes Gemurre durchlief die Bänke der Repräsentanten der Nation: die Augen erhoben sich zu den Tribünen, und man erkannte, daß vornehmlich von den abgetretenen Deputierten der constituierenden Versammlung vorbehaltenen Tribunen diese Rufe ausgegangen waren.

»Es ist gut, meine Herren,« sagte Couthon; »morgen wird man sich mit Euch beschäftigen.«

Der König bedeutete durch ein Zeichen, er wolle sprechen.

Man hörte.

Die Rede, die er hielt, ein Werk von Duport du Tertre, war äußerst geschickt abgefaßt und brachte eine große Wirkung hervor; sie handelte ganz von der Nothwendigkeit, die Ordnung aufrecht zu erhalten und sich in der Liebe für das Vaterland zu vereinigen.

Pastoret präsidierte der Versammlung.

Pastoret war Royalist.

Der König hatte in seiner Rede gesagt, es sei für ihn Bedürfniß, geliebt zu werden.

»Und für uns, Sire, ist es auch Bedürfniß, von Ihnen geliebt zu sein,« erwiederte der Präsident.

Bei diesen Worten brach der ganze Saal in einen Beifallssturm aus.

Der König nahm in seiner Rede die Revolution als beendigt an.

Einen Augenblick glaubte es die Assemblée wie er.

Der in der Nationalversammlung hervorgebrachte Eindruck verbreitete sich alsbald in Paris.

Der König ging am Abend mit seiner Familie ins Theater.

Er wurde mit donnerndem Beifall empfangen.

Viele weinten, und er selbst, der so wenig zugänglich für diese Art von Empfindsamkeit, vergoß Thränen.

In der Nacht schrieb der König an alle Mächte, um ihnen seine Annahme der Constitution von 1791 mitzutheilen.

Man weiß übrigens, daß er eines Tags, in einem Augenblick der Begeisterung, diese Constitution, ehe sie nur vollendet war, beschworen hatte.

Am andern Tage erinnerte sich Couthon dessen, was er am Tage vorher den Constituirenden versprochen hatte.

Er verkündigte, er habe eine Motion zu machen.

Man kannte die Motionen von Couthon.

Jeder schwieg.

»Bürger,« sprach Couthon, »ich verlange, daß man aus dieser Versammlung jede Spur von Privilegium verschwinden mache, und daß folglich alle Tribünen dem Publikum geöffnet werden.«

Die Motion wurde einstimmig angenommen.

Am andern Tage ergriff das Publikum Besitz von den Tribünen der vormaligen Deputirten, und von dieser Besitzergreifung an war der Schatten der Constituirenden verschwunden.

44Gesetzgebende Versammlung.
45Königstödter.