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Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4

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CLXI
Die Witwe

Man kann sich unmöglich einen Begriff von dem Zustande der Verwüstung machen, den die Tuilerien boten.

Das Blut floß durch die Zimmer und rollte wie eine Cascade die Treppen entlang; einige Leichname lagen noch in den Zimmern umher.

Andrée that, was die anderen Suchenden thaten, sie nahm eine Fackel und betrachtete Leiche um Leiche.

Und indem sie sie betrachtete, ging sie nach den Gemächern des Königs und der Königin.

Pitou folgte ihr immer.

Hier wie in den anderen Zimmern suchte sie vergebens. Dann schien sie einen Augenblick unschlüssig, sie wußte nicht mehr, wohin sie gehen sollte.

Pitou sah ihre Verlegenheit, näherte sich ihr und sagte:

»Ah! ich vermuthe wohl, was die Frau Gräfin sucht!«

Andrée wandte sich um.

»Wenn die Frau Gräfin meiner bedürfte?«

»Herr Pitou!« sprach Andrée.

»Ihnen zu dienen, Madame.«

»Oh! ja, ja, ich bedarf Ihrer sehr,« erwiederte Andrée.

Und sie ging ans ihn zu, nahm ihn bei den Händen und fragte:

»Wissen Sie, was aus dem Grafen von Charny geworden ist?«

»Nein, Madame,« antwortete Pitou; »doch ich kann Ihnen den Herrn Grafen suchen helfen.«

»Es gibt Jemand, der uns sagen würde, ob er todt oder lebendig, und der, mag er todt oder lebendig sein, weiß, wo er ist.«

»Wer ist dies, Frau Gräfin?«

»Die Königin.«

»Sie wissen, wo die Königin ist?«

»In der Nationalversammlung, glaube ich, und ich habe noch eine Hoffnung: daß Herr von Charny bei ihr ist.«

»Oh! ja, ja,« sagte Pitou, diese Hoffnung ergreifend, nicht für seine eigene Rechnung, sondern für die der Witwe; »wollen Sie in die Nationalversammlung gehen?«

»Wenn man mir aber den Eintritt verweigerte . . . «

»Ich übernehme es, die Thüre für Sie öffnen zu machen.«

»So kommen Sie.«

Andrée warf fern von sich ihre Fackel, auf die Gefahr, den Fußboden und folglich die Tuilerien anzuzünden; doch was lag an den Tuilerien dieser tiefen Verzweiflung? so tief, daß sie keine Thränen hatte!

Andrée kannte das Innere des Schlosses, weil sie in demselben gewohnt hatte; sie wählte eine kleine Gesindetreppe, welche in die Entresols und von den Entresols in das große Vestibule hinabging, so daß sich Pitou, ohne durch alle diese blutbeschmutzten Gemächer zurückzukehren, wieder beim Posten des Pavillon de l’Horloge befand.

Maniquet hielt gute Wache.

»Nun,« sagte er, »Deine Gräfin?«

»Sie hofft ihren Gatten in der Nationalversammlung zu finden,« erwiederte Pitou; »wir gehen dahin.«

Und er sagte leise:

»Da wir den Grafen wohl auffinden könnten, aber todt, so schicke mir an das Thor der Feuillants vier tüchtige Bursche, auf die ich zählen kann, um einen Aristokratenleichnam zu vertheidigen, als ob es ein Patriotenleichnam wäre.«

»Es ist gut, geh mit Deiner Gräfin! Du sollst deine Leute haben.«

Andrée wartete an der Thüre des Gartens stehend, wohin man eine Schildwache gestellt hatte. Da Pitou es war, der diese Schildwache dahin gestellt, so ließ die Schildwache Pitou natürlich passieren.

Der Tuileriengarten war beleuchtet durch Lämpchen die man in gewissen Entfernungen von einander und besonders auf den Piedestaalen der Statuten angezündet.

Da es fast so heiß war, als am Tage, und kaum eine Nachtluft die Blätter der Bäume bewegte, das Licht der Lämpchen, Feuerlanzen ähnlich, beinahe unbeweglich empor und beleuchtete fernhin, nicht nur in den entblößten und als Blumenstück cultivierten Theilen des Gartens, sondern auch unter den Bäumen die zerstreut umherliegenden Leichname.

Andrée war aber nun so sehr überzeugt, sie werde nur in der Nationalversammlung Nachricht von ihrem Gatten erhalten, daß sie vorwärts schritt, ohne sich nach rechts oder nach links zu wenden,

Man erreichte so die Feuillants.

Die königliche Familie hatte seit einer Stunde die Nationalversammlung verlassen und war, wie man gesehen, in ihre Wohnung, das heißt in die provisorische Wohnung gegangen, die man für sie in Bereitschaft gesetzt hatte.

Um bis zur königlichen Familie zu gelangen, waren zwei Hindernisse zu überwinden: einmal das der Schildwachen, welche außen wachten; dann das der Edelleute, welche innen wachten.

Pitou, Kapitän der Nationalgarde, Commandant es Postens der Tuilerien, hatte das Losungswort und folglich die Möglichkeit, Andrée bis ins Vorzimmer der Edelleute zu führen.

Es war sodann die Sache von Andrée, sich Eingang bei der Königin zu verschaffen.

Man kennt die Eintheilung der Wohnung, welche die königliche Familie inne hatte; wir haben von er Verzweiflung der Königin gesprochen; wir haben gesagt, wie sie sich beim Eintritte in das kleine Zimmer mit der grünen Tapete auf das Bett geworfen und unter Schluchzen und Thränen in den Hauptpfühl gebissen hatte.

Wahrlich, sie, die einen Thron, die Freiheit, das eben vielleicht verlor, verlor genug, daß man keine Rechenschaft von ihr über ihre Verzweiflung forderte, und nicht hinter dieser großen Erniedrigung suchte, welcher noch lebhaftere Schmerz ihr die Thränen aus den Augen, das Schluchzen aus der Brust ziehe.

In dem Gefühle der Ehrfurcht, das dieser Schmerz einflößte, hatte man also in den ersten Augenblicken die Königin allein gelassen.

Die Königin hörte die Thüre ihres Zimmers, welches in das des Königs ging, öffnen und wieder zumachen, und wandte sich nicht um; sie hörte Tritte ihrem Bette sich nähern, und blieb mit dem Kopfe in ihrem Kissen verloren.

Plötzlich aber sprang sie auf, als ob sie eine Schlange ins Herz gebissen hätte.

Eine wohlbekannte Stimme hatte das einzige Wort: »Madame!« ausgesprochen.

»Andrée!« rief Marie Antoinette; »was wollen von mir?«

»Ich will von Ihnen, Madame, was Gott von Kain wollte, als er ihn fragte: »Kain, was hast Du mit deinem Bruder gemacht?«

»Mit dem Unterschiede, daß Kain seinen Bruder getödtet hatte, während ich . . . oh! ich würde nicht nur mein Leben, sondern zehn Leben gegeben haben, hätte ich sie gehabt, um das seine zu retten!

Andrée schwankte, ein kalter Schweiß floß von ihrer Stirne; ihre Zähne klapperten.

»Er ist also getödtet worden fragte sie mit ’einer äußersten Anstrengung.

Die Königin schaute Andrée an und erwiderte:

»Glauben Sie, ich weine um meine Krone?«

Und auf ihre blutigen Füße deutend:

»Glauben Sie, wenn dieses Blut das meinige wäre, hätte ich meine Füße nicht gewaschen?«

Andrée wurde von bleich leichenfarbig.

»Sie wissen also, wo ein Leib ist?« sagte sie.

»Man lasse mich hinaus, und ich werde Sie gab Ort führen.«

»Ich erwarte Sie auf der Treppe, Madame« sprach Andrée.

Und sie verließ das Zimmer.

Pitou wartete vor der Thüre.

»Herr Pitou, sagte Andrée, »eine von meinen Freundinnen will mich an den Ort führen, wo der Körper von Herrn von Charny ist; es ist eine der Frauen der Königin: kann sie mich begleiten?«

»Sie wissen, erwiederte Pitou, »wenn sie herausgeht, so geschieht es unter der Bedingung, daß ich sie dahin zurückführe, von wo sie herausgegangen ist.«

»Sie werden sie Zurückführen.«

»Es ist gut,« sagte Pitou.

Sodann sich gegen die Schildwache umwendend:

»Kamerad, eine Frau der Königin kommt heraus, um mit uns den Körper eines braven Officiers aufzusuchen, dessen Witwe diese Dame ist. Ich hafte für diese Dame mit meinem Kopfe.«

»Das genügt, Kapitän,« antwortete die Schildwache.

Zu gleicher Zeit öffnete sich die Thüre des Vorzimmers, und die Königin erschien, das Gesicht mit einem Schleier bedeckt.

Man stieg die Treppe hinab, die Königin ging voran, Andrée und Pitou folgten ihr.

Nach einer Sitzung von siebenundzwanzig Stunden hatte die Nationalversammlung endlich den Saal geräumt.

Dieser ungeheure Saal, wo sich so viele Geräusche und Ereignisse seit siebenundzwanzig Stunden gedrängt hatten, war stumm, leer und finster wie das Grab.

»Ein Licht!« sagte die Königin.

Pitou hob eine ausgelöschte Fackel auf, zündete sie an einer Laterne wieder an, gab sie der Königin, und diese ging weiter.

Als sie an der Eingangsthüre vorüberkam, deutete Marie Antoinette mit ihrer Fackel auf diese Thüre und sagte:

»Hier ist die Thüre, wo er getödtet worden.«

Andrée antwortete nicht; man hätte glauben sollen, es sei ein Gespenst, das seinem Beschwörer folge.

Als sie in den Corridor gelangte, senkte die Königin ihre Fackel gegen den Fußboden und sprach:

»Hier ist sein Blut!»

Andrée blieb stumm.

Die Königin ging gerade auf ein Cabinet zu, das er Loge des Logographe gegenüber lag, öffnete die Thüre des Cabinets, beleuchtete das Innere mit ihrer Fackel und sagte:

»Hier ist sein Leib!«

Immer stumm, trat Andrée in das Cabinet ein, setzte sich auf die Erde, zog den Kopf von Olivier an ihren Schooß und sprach:

»Ich danke, Madame; das ist Alles, was ich von Ihnen zu erbitten hatte.«

»Aber ich,« erwiederte die Königin, »ich habe um etwas Anderes zu bitten.«

»Sprechen Sie.«

»Verzeihen Sie mir?«

Es trat ein Augenblick des Stillschweigens ein, als ob Andrée zögerte.

»Ja,« antwortete sie endlich; »denn morgen werde ich bei ihm sein!«

Die Königin zog aus ihrer Brust eine goldene Scheere, die sie hier wie einen Dolch verborgen hatte um sich daraus eine Waffe gegen sich selbst in einer äußersten Gefahr zu machen.

»Dann . . . « sagte sie fast flehend, indem sie die Scheere Andrée darreichte.

Andrée nahm die Scheere, schnitt eine Haarlocke vom Haupte des Leichnams, und gab dann Scheere und Haare der Königin.

Die Königin ergriff die Hand von Andrée und küßte sie.

Andrée stieß einen Schrei ans und zog ihre Hand zurück, als ob die Lippen der Königin ein glühendes Eisen gewesen wären.

 

»Ah!« murmelte die Königin, »wer kann sagen, welche von uns Beiden ihn mehr liebte?«

»O mein vielgeliebter Olivier!« flüsterte ihrerseits Andrée, »ich hoffe, Du weißt nun wenigstens, daß ich Dich am Besten liebte.«

Die Königin nahm schon wieder den Rückweg nach ihrem Zimmer und ließ Andrée im Cabinet mit dem Leichname ihres Gatten, auf welchen, wie ein Freundesblick, durch ein vergittertes Fenster ein bleicher Mondstrahl fiel.

Pitou, ohne zu wissen, wer es war, führte Marie Antoinette zurück und sah sie bei sich eintreten; von dieser Verantwortlichkeit vor der Schildwacht befreit, ging er sodann auf die Terrasse hinaus, um zu sehen, ob die vier Männer, die er von Désiré Maniquet verlangt hatte, da seien.

Die vier Männer warteten.

»Kommt!« sagte Pitou zu ihnen.

Sie traten ein.

Pitou, der sich mit der Fackel leuchtete, welche er wieder aus den Händen der Königin genommen hatte, führte sie bis in das Cabinet, wo Andrée, immer sitzend, beim Scheine des befreundeten Strahles das bleiche, aber stets schöne Gesicht ihres Gatten betrachtete.

Das Licht der Fackel machte, daß die Gräfin die Augen aufschlug.

»Was wollen Sie?« fragte sie Pitou und seine Leute, als hätte sie befürchtet, diese Unbekannten nehmen ihr den geliebten Leichnam.

»Madame,« erwiederte Pitou, »wir wollen den Körper von Herrn von Charny holen, um ihn nach der Rue Coq-Héron zu bringen.«

»Sie schwören mir, daß es deshalb ist?« fragte Andrée.

Pitou streckte die Hand über dem Leichname mit einer Würde aus, der man ihn nicht fähig gehalten hätte, und sprach:

»Ich schwöre es, Madame!«

»Dann sage ich Ihnen meinen Dank, und ich werde Gott in meinem letzten Augenblicke bitten, er möge Ihnen, Ihnen und den Ihrigen, die Schmerzen ersparen, mit denen er mich zu Boden drückt . . . «

Die vier Männer nahmen den Leichnam, hoben ihn auf ihre Gewehre, und Pitou stellte sich mit bloßem Degen an die Spitze des Leichenzuges.

Andrée ging auf der Seite, in ihrer Hand die kalte und schon starre Hand des Grafen haltend.

Als man in der Rue Coq-Héron angelangt war, legte man den Körper auf das Bett von Andrée.

Dann sprach die Gräfin, indem sie sich an die Männer wandte:

»Empfangt die Segnungen einer Frau, welche morgen da oben zu Gott für Euch beten wird.«

Und zu Pitou:

»Herr Pitou, ich bin Ihnen mehr schuldig, als ich Ihnen je werde vergelten können; darf ich noch auf für einen letzten Dienst zählen?«

»Befehlen Sie, Madame.«

»Machen Sie, daß morgen früh um acht Uhr der Doctor Gilbert hier ist.«

Pitou verbeugte sich und ging ab.

Während er abging, wandte er den Kopf um, er sah Andrée vor dem Bette wie vor einem Altare knieen.

In dem Augenblicke, wo er sich durch die Hausthüre entfernte, schlug es drei Uhr in der Saint-Eustache-Kirche.

CLXII
Was Andrée von Gilbert wollte

Am andern Morgen um acht Uhr klopfte Gilbert an die Thüre des kleinen Hotels der Rue Coq Héron.

Auf die Bitte, welche Pitou im Namen von Andrée an ihn gerichtet, hatte sich Gilbert, erstaunt, die Ereignisse des vorhergehenden Tags in allen ihren Einzelheiten erzählen lassen.

Dann hatte er lange überlegt.

In dem Augenblicke endlich, wo er am Morgen ausgehen wollte, hatte er Pitou gerufen und ihn gebeten, Sebastian beim Abbé Bérardier zu holen und ihn nach der Rue Coq-Héron zu führen; hier angelangt, wollte Pitou auf den Abgang von Gilbert warten.

Ohne Zweifel war der alte Concierge von der Ankunft des Doctors unterrichtet; denn, nachdem er ihn erkannt, führte er ihn in den Salon ein, der vor dem Schlafzimmer kam.

Andrée wartete ganz schwarz gekleidet.

Man sah, daß sie seit dem vorhergehenden Tage weder geschlafen, noch geweint hatte; ihr Gesicht war bleich, ihr Auge trocken.

Nie waren die Linien ihres Gesichtes, Linien, welche einen bis zur Hartnäckigkeit gesteigerten Willen bezeichneten, so sehr gespannt gewesen.

Es hätte sich schwer sagen lassen, welchen Entschluß dieses Demantherz gefaßt; es ließ sich aber leicht sehen, daß es einen gefaßt, Gilbert, der gewandte Beobachter, der philosophische Arzt, begriff dies auf den ersten Blick.

Er verbeugte sich und wartete.

»Herr Gilbert,« sagte Andrée, »ich habe Sie gebeten, zu kommen.«

»Und Sie sehen, Madame,« erwiederte Gilbert, »ich habe pünktlich Ihrer Einladung entsprochen.«

»Ich habe Sie ersucht, Sie und nicht einen Andern, weil derjenige, an welchen ich die Bitte richten würde, die ich an Sie zu richten im Begriffe bin, nicht befugt sein sollte, sie mir abzuschlagen.«

»Sie haben Recht, Madame; vielleicht nicht in dem, was Sie von mir verlangen werden, aber in dem was Sie sagen; Sie sind befugt, Alles von mir zu fordern, selbst mein Leben.«

Andrée lächelte bitter.

»Ihr Leben, mein Herr, ist eine von den der Menschheit so kostbaren Existenzen, daß ich, – weit entfernt von dem Gedanken, es abzukürzen, – Gott zuerst bitte werde, Ihnen dasselbe lang und glücklich zu machen . . . Gestehen Sie aber, so sehr das Ihrige unter einen glücklichen Einfluß gestellt ist, ebenso gibt es andere, welche einem unseligen Gestirne unterworfen zu sein scheinen.«

Gilbert schwieg.

»Das meinige, zum Beispiel,« fuhr Andrée fort, nachdem sie selbst einen Augenblick geschwiegen; »was sagen Sie von dem meinigen, mein Herr?«

Sodann, da Gilbert, ohne zu antworten, die Augen niederschlug:

»Lassen Sie es mich Ihnen mit zwei Worten zurückrufen . . . Seien Sie ruhig, es wird kein Vorwurf für irgend Jemand hierin sein!«

Gilbert machte eine Geberde, welche besagen wollte »Sprechen Sie.«

»Ich bin arm geboren; mein Vater war vor meiner Geburt zu Grunde gerichtet . . . Meine Jugend war traurig, einsam: Sie haben meinen Vater gekannt, und Sie wissen besser, als irgend Jemand, das Maß seiner Zärtlichkeit für mich . . .

»Zwei Menschen, von denen der Eine mir hätte unbekannt bleiben sollen, und der Andere . . . fremd hatten auf mein Leben einen mysteriösen, verhängnisvollen Einfluß, bei dem mein Wille Nichts war: der Eine verfügte über meine Seele, der Andere über meinen Leib.

»Ich fand mich Mutter, ohne zu vermuthen, daß ich Jungfrau zu sein aufgehört . . .

»Bei diesem düstern Ereigniß hätte ich beinahe die Zärtlichkeit des einzigen Wesens, das mich je geliebt die meines Bruders, verloren!

»Ich flüchtete mich in die Idee, Mutter zu werden und von meinem Kinde geliebt zu sein: mein Kind wurde mir eine Stunde nach seiner Geburt genommen. Ich fand mich Frau ohne Mann, Mutter ohne Kind!

»Die Freundschaft einer Königin tröstete mich.

»Eines Tags brachte der Zufall in denselben Wagen mit uns einen schönen, jungen, wackern Mann; das Verhängniß wollte, daß ich, die ich nie etwas geliebt hatte, ihn liebte.

»Er liebte die Königin!

»Ich wurde die Vertraute dieser Liebe. Ich glaube, Sie haben geliebt, ohne geliebt zu werden, Herr Gilbert; Sie können also begreifen, was ich litt.

»Das war nicht genug. Einst geschah es, daß die Königin zu mir sagte: »»Andrée, rette mir das Leben! Rette mir mehr als das Leben: rette mir die Ehre!«« Ich mußte, während ich eine Fremde für ihn blieb, die Frau des Mannes werden, den ich seit drei Jahren liebte.

»Ich wurde seine Frau.

»Fünf Jahre blieb ich bei diesem Manne, Flamme Innen, Eis außen, eine Bildsäule, deren Herz brannte! Arzt! begreifen Sie, was mein Herz leiden mußte?

»Eines Tags endlich, – Tag unaussprechlicher Wonne! – rührten meine Ergebenheit, mein Stillschweigen, meine Verleugnung diesen Mann. Seit sieben Jahren liebte ich ihn, ohne daß ich es ihn durch einen Blick hatte ahnen lassen, als er ganz bebend sich vor mir auf die Kniee warf und sprach: »»Ich weiß Alles, und ich lebe Sie!««

»Gott, der mich belohnen wollte, gestattete, daß ich in demselben Tage, wo ich meinen Gatten fand, auch mein Kind wiederfand! Ein Jahr verlief wie ein Tag, wie eine Stunde, wie eine Minute; dieses Jahr, das war mein ganzes Leben.

»Vor vier Tagen schlug der Blitz zu meinen Füßen ein.

»Seine Ehre hieß ihn nach Paris zurückkehren und hier sterben. Ich machte ihm keine Bemerkung, ich vergoß keine Thräne; ich reiste mit ihm ab.

»Wir waren kaum angekommen, als er mich verließ. »Heute Nacht habe ich ihn todt wiedergefunden! Er ist dort in jenem Zimmer.

»Glauben Sie, es sei zu ehrgeizig von mir, nach einem solchen Leben, wenn ich in demselben Grabe mit ihm zu ruhen wünsche? Glauben Sie, es sei eine Bitte, die Sie mir abschlagen können, die, welche ich so thun werde?

»Herr Gilbert, Sie sind ein geschickter Arzt, ein gelehrter Chemiker; Sie haben großes Unrecht gegen mich gehabt; Sie haben viel zu sühnen . . . Nun wohl geben Sie mir ein rasches und sicheres Gift, und ich werde Ihnen nicht nur verzeihen, sondern auch das Herz voll Dankbarkeit sterben!«

»Madame,« erwiederte Gilbert, »Ihr Leben ist, wie Sie gesagt haben, eine grausame Prüfung gewesen, und diese Prüfung, Ehre sei Ihnen! haben Sie Märtyrin edel und fromm erduldet!«

Andrée machte ein leichtes Zeichen mit dem Kopf welches bedeutete: »Ich warte.«

»Sie sprechen nun zu Ihrem Henker: »»Du hast mir das Leben grausam gemacht: gib mir einen sanften Tod!«« Sie haben das Recht, ihm dies zu sagen; Sie haben das Recht, beizusetzen: »»Du wirst thun, was ich sage, denn Du bist nicht befugt, mir etwas von dem zu verweigern, was ich von Dir fordere . . . ««

»Also, mein Herr?«

»Verlangen Sie immer noch Gift von mir?«

»Ich flehe Sie an, mir zu geben.«

»Ist das Leben so drückend für Sie, daß es Ihnen unmöglich geworden, es zu ertragen?«

»Der Tod ist die süßeste Gnade, die mir die Menschen gewähren können, die größte Wohlthat, die es mir bewilligen kann.«

»In zehn Minuten werden Sie haben, was Sie zu mir verlangen, Madame,« sprach Gilbert.

Und er verbeugte sich und machte einen Schritt rückwärts.

Andrée aber reichte ihm die Hand und sagte:

»Ah! in einem Augenblicke haben Sie mir mehr gutes gethan, als Sie mir in meinem ganzen Leben schlechtes gethan hatten! . . . Seien Sie gesegnet, Gilbert!«

Gilbert ging ab.

Vor der Thüre fand er Sebastian und Pitou, die in einem Fiacre erwarteten.

»Sebastian,« sagte er, indem er aus seiner Brust ein kleines Fläschchen zog, das er an einer goldenen Kette hängend trug, und das eine opalfarbige Flüssigkeit enthielt, »Sebastian, Du wirst von mir dieses Fläschchen er Gräfin von Charny geben.«

»Wie lange darf ich bei ihr bleiben, mein Vater?«

»So lange Du willst.«

»Und wo werde ich Sie wiederfinden?«

»Ich erwarte Dich hier.«

Der junge Mann nahm das Fläschchen und trat ein.

Nach einer Viertelstunde kam er wieder heraus.

Gilbert warf einen raschen Blick auf ihn: er brachte das Fläschchen unberührt zurück.

»Was hat sie gesagt?« fragte Gilbert.

»Sie hat gesagt: »»Oh! nicht von Deiner Hand, mein Kind!««

»Was hat sie gemacht?«

»Sie hat geweint.«

»Dann ist sie gerettet,« sprach Gilbert. »Komm, mein Kind.«

Und er küßte Sebastian zärtlicher vielleicht, als er es je gethan.

Gilbert rechnete ohne Marat.

Acht Tage daraus erfuhr er, die Gräfin von Charny sei verhaftet und in das Gefängniß der Abtei gebracht worden.