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Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4

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CXXII
Die Tochter und der Vater

Zehn Minuten nachher fuhren Catherine, Pitou und der kleine Isidor im Wagen von Doctor Gilbert auf der Straße nach Paris.

Der Wagen hielt vor dem Hospital vom Gros-Caillou an.

Catherine stieg aus, nahm ihren Sohn in ihre Arme und folgte Pitou.

Vor der Thüre der Weißzeugkammer angelangt blieb sie stehen und fragte:

»Sie haben mir gesagt, wir werden den Doctor Gilbert beim Bette meines Vaters finden?«

»Ja!« . . .

Pitou öffnete ein wenig die Thüre.

»Und er ist wirklich da,« erwiederte er, »Sehen Sie, ob ich ohne Furcht, eine zu starke Aufregung bei ihm zu verursachen, eintreten kann.«

Pitou ging in das Zimmer hinein, befragte den Doctor und kam beinahe in demselben Augenblicke wieder zu Catherine zurück.

»Die durch den Hieb, den er bekommen, verursachte Erschütterung ist so groß, daß er noch Niemand erkennt, wie der Herr Doctor Gilbert sagt.«

Catherine wollte mit dem kleinen Isidor in den Armen eintreten.

»Geben Sie mir Ihr Kind, Mademoiselle Catherine,« sagte Pitou.

Catherine zögerte einen Augenblick.

»Oh! es mir geben ist, als ob Sie es nicht verließen.«

»Sie haben Recht,« erwiederte Catherine.

Und wie sie es bei einem Bruder gethan hätte, mit mehr Vertrauen vielleicht, übergab sie das Kind Ange Pitou und ging mit festem Schritte in den Saal und gerade auf das Bett ihres Vaters zu.

Der Doctor Gilbert war, wie gesagt, beim Bette des Verwundeten.

Es hatte sich wenig im Zustande des Kranken verändert; er war, wie am Tage vorher, mit dem Rücken an seine Kissen angelehnt, und der Doctor befeuchtete, mit Hilfe eines mit Wasser getränkten und in seiner Hand ausgepreßten Schwammes, die Streifen, welche den auf die Wunde gelegten Verband festhielten. Trotz eines Anfangs von Entzündungsfieber war das Gesicht von Billot in Folge der Blutmasse, die er verloren, todesbleich; die Geschwulst hatte sich des Auges und eines Theils der linken Backe bemächtigt.

Beim ersten Eindrucke der Kühle hatte er ein paar Worte ohne Folge gemurmelt und die Augen geöffnet; doch die gewaltige Schlafsucht, welche die Aerzte Coma nennen, hatte die Sprache auf’s Neue bei ihm ausgelöscht und seine Augen wieder geschlossen.

Als Catherine das Bett erreicht hatte, sank sie auf die Kniee, hob die Hände zum Himmel empor und sprach!

»O mein Gott! Du bist Zeuge, daß ich Dich aus der Tiefe meines Herzens um das Leben meines Vaters bitte!«

Das war Alles, was diese Tochter für den Vater thun konnte, der ihren Geliebten hatte tödten wollen.

Bei ihrer Stimme bewegte übrigens ein Schauer den Körper des Kranken; sein Athem wurde heftiger; er öffnete wieder die Augen, und sein Blick, nachdem er einen Moment umhergeschweift war, als wollte er erkennen, woher die Stimme komme, heftete sich auf Catherine.

Seine Hand machte eine Bewegung, wie um diese Erscheinung, die der Verwundete ohne Zweifel für eine Vision eines Fiebers hielt, zu vertreiben.

Der Blick des Mädchens begegnete dem seines Vaters, und Gilbert sah mit einer Art von Schrecken zwei Flammen zusammentreffen, welche eher zwei Blitze des Hasses, als zwei Strahlen der Liebe zu sein schienen.

Wonach Catherine aufstand und mit demselben Schritte, mit dem sie eingetreten, zu Pitou zurückkehrte, Catherine nahm ihr Kind wieder mit einer Heftigkeit, welche mehr Aehnliches mit der Liebe der Löwin, als mit der des Weibes hatte, preßte es an ihre Brust und rief:

»Mein Kind! oh! mein Kind!«

In diesem Schrei lagen alle Bangigkeiten der Mutter, alle Klagen der Witwe, alle Schmerzen der Frau, Pitou wollte Catherine bis zum Bureau der Diligence begleiten, welche Morgens um zehn Uhr abging.

Doch sie schlug es aus.

»Nein,« sprach sie, »Sie haben gesagt, Ihr Platz sei bei demjenigen, welcher allein: bleiben Sie, Pitou.«

Und sie schob mit der Hand Pitou ins Zimmer zurück.

Pitou wußte nur zu gehorchen, wenn Catherine befahl.

Während sich Pitou dem Bette von Billot näherte, während dieser bei dem Geräusche, das der ein wenig schwerfällige Tritt des Kapitäns der Nationalgarde machte, die Augen wieder öffnete und ein wohlthätiger Eindruck auf seinem Gesichte dem feindseligen Eindrucke folgte, den wie eine Sturmwolke der Anblick seiner Tochter darüber ziehen gemacht hatte, stieg Catherine die Treppe hinab und erreichte, ihr Kind in den Armen, in der Rue Saint-Denis das Hôtel du Plat-d’Etain, von wo die Diligence nach Villers-Coterets abging.

Die Pferde waren angespannt; der Postillon saß im Sattel; es war ein Platz im Innern übrig: Catherine nahm ihn.

Acht Stunden nachher hielt der Wagen in der Rue de Soissons an.

Es war sechs Uhr Nachmittags, das heißt, es war noch heller Tag.

Als Mädchen und bei Lebzeiten von Isidor ihre Mutter in guter Gesundheit besuchend, hätte Catherine den Wagen am Ende der Straße von Larguy anhalten lassen, wäre um die Stadt gegangen und nach Pisseleu gekommen, ohne gesehen zu werden, denn sie hätte sich geschämt.

Als Witwe und Mutter dachte sie nicht einmal an die Provinzspöttereien; sie stieg ohne Frechheit, aber auch ohne Furcht aus dem Wagen: ihre Trauer und ihr Kind schienen ihr, die eine ein finsterer Engel, das andere ein lächelnder Engel, welche Beleidigung und Verachtung von ihr entfernen müßten.

Anfangs erkannte man sie nicht: Catherine war so bleich und so verändert, daß sie nicht mehr dieselbe Frau zu sein schien: was sie aber noch mehr vor den Blicken verbarg, war jene Miene der Distinction, die sie im Umgange mit einem ausgezeichneten Manne angenommen hatte.

Es erkannte sie auch eine einzige Person, und sie war sogar schon fern.

Das war die Tante Angélique.

Die Tante Angélique stand vor der Thüre des Rathhauses und plauderte mit ein paar Basen über den von den Priestern geforderten Eid; sie erklärte, sie habe den Abbé Fortier sagen hören, nie werde er den Eid den Jacobinern und der Revolution leisten, und er werde eher das Märtyrthum erdulden, als den Kopf unter das revolutionäre Joch beugen.

»Oh!«, rief sie plötzlich, sich mitten in ihrer Rede unterbrechend, »Jesus Gott! die Billotte mit ihrem Kinde steigt aus dem Wagen!«

»Catherine! Catherine!« wiederholten mehrere Stimmen.

»Ei! ja; seht, sie flüchtet sich dort durch das Gäßchen.«

Tante Angélique täuschte sich: Catherine flüchtete sich nicht; Catherine hatte Eile, zu ihrer Mutter zu kommen, und ging rasch; Catherine nahm den Weg durch das Gäßchen, weil es der kürzeste Weg war.

Bei dem Worte der Tante Angélique: »Es ist die Billotte!« und bei dem Ausrufe ihrer Nachbarinnen: »Catherine!« fingen mehrere Kinder an dieser nachzulaufen, und als sie sie erreicht hatten, sagten sie:

»Ah! ja, es ist wahr, es ist Mademoiselle . . . «

»Ja, meine Kinder, ich bin es,« erwiederte Catherine mit sanftem Tone.

Hierauf, da sie besonders von den Kindern geliebt wurde, denen sie immer etwas, eine Liebkosung in Ermangelung von etwas Anderem, zu geben hatte, sagten die Kinder:

»Guten Tag, Mademoiselle Catherine!«

»Guten Tag, meine Kinder,« versetzte Catherine. »Nicht wahr, meine Mutter ist nicht todt?«

»Oh! nein, noch nicht.«

Und ein anderes Kind fügte bei: »Herr Raynal sagt, sie habe wohl noch acht bis zehn Tage zu leben.«

»Ich danke, meine Kinder!« sprach Catherine.

Und sie ging weiter, nachdem sie ihnen einige Münze gegeben hatte.

Die Kinder kamen zurück.

»Nun?« fragten die Basen.

»Nun!« antworteten die Kinder, »sie ist es, und zum Beweise dient, daß sie sich bei uns nach ihrer Mutter erkundigt und uns dies gegeben hat.«

Und die Kinder zeigten die Münzstücke, die sie von Catherine bekommen.

»Es scheint, was sie verkauft hat, verkauft sich theuer in Paris, daß sie den Kindern, die ihr nachlaufen weiße Stücke geben kann,« sagte die Tante Angélique.

Tante Angélique liebte Catherine Billot nicht.

Catherine Billot war jung und schön, und Tante Angélique war alt und häßlich; Catherine Billot war groß wohlgewachsen, Tante Angélique war klein und hinkend.

Sodann hatte bei Billot, aus dem Hause der Tante Angélique gejagt, Ange Pitou ein Asyl gefunden.

Endlich war es Billot, der am Tage der Erklärung der Menschenrechte gekommen, um den Abbé Fortier zu nöthigen, die Messe am Altar des Vaterlands zu lesen.

Lauter genügende Gründe, in Verbindung mit der natürlichen Bitterkeit ihres Charakters, daß Tante Angelique die Billot im Allgemeinen und Catherine insbesondere haßte.

Und wenn Tante Angélique haßte, so haßte sie sehr, und haßte sie als Scheinheilige.

Sie lief zu Mademoiselle Adelaide, der Nichte des Abbé Fortier, und theilte ihr die Neuigkeit mit.

Der Abbé Fortier soupirte einen in den Teichen von Wualée gefangenen Karpfen nebst einer Schüssel gesottener Eier und einer Platte Spinat.

Es war Fasttag.

Der Abbé Fortier hatte die starre, ascetische Miene eines Mannes angenommen, der jeden Augenblick auf das Märtyrthum gefaßt ist.

»Was gibt es wieder?« fragte er, als er die zwei Frauen im Flurgange schwatzen hörte; »holt man mich, um den Namen Gottes zu bekennen?«

»Nein, noch nicht, mein lieber Oheim,« erwiederte Mademoiselle Adelaide, »es ist nur Tante Angélique (Jedermann gab, nach Pitou, der alten Jungfer diesen Namen), nein, es ist nur Tante Angélique, die mir eine ärgerliche Neuigkeit mittheilt.«

»Wir leben in einer Zeit, wo das Aergerniß auf den Straßen umherläuft,« antwortete der Abbé Fortier . . . »Was für ein neues Aergerniß melden Sie mir, Tante Angélique?«

Mademoiselle Adelaide führte die Stühlevermietherin vor den Abbé.

»Diener, Herr Abbé!« sagte diese.

»Dienerin, müßten Sie sagen, Tante Angélique,« versetzte der Abbé, der auf seine pädagogischen Gewohnheiten nicht verzichten konnte.

 

»Ich habe immer sagen hören Diener,« entgegnete die Tante Angélique; »ich wiederhole, was ich gehört; entschuldigen Sie, wenn ich Sie beleidigt habe, Herr Abbé.«

»Nicht mich haben Sie beleidigt, Tante Angélique, sondern die Syntaxe.«

»Ich werde mich bei ihr entschuldigen, so bald ich ihr begegne,« erwiederte demüthig Tante Angélique .

»Gut, Tante Angélique, gut! Wollen Sie ein Glas Wein trinken?«

»Ich danke, Herr Abbé!« antwortete Tante Angélique, »ich trinke nie Wein.«

»Sie haben Unrecht, der Wein ist durch die Vorschriften der Kirche nicht verboten.«

»Oh! nicht weil der Wein verboten oder nicht verboten ist, trinke ich keinen Wein, sondern weil die Flasche neun Sous kostet.«

»Sie sind also immer geizig?« fragte der Abbé, indem er sich in seinen Lehnstuhl zurückwarf.

»Ach! mein Gott! Herr Abbé, geizig! man muß es wohl sein, wenn man arm ist.«

»Oh! Sie arm! und die Vermiethung der Stühle, die ich Ihnen umsonst gebe, Tante Angélique, während ich hundert Thaler von der ersten der besten Person dafür haben könnte.«

»Ah! Herr Abbé, wie würde das diese Person machen? Umsonst, Herr Abbé! dabei ist nur Wasser zu trinken!«

»Darum biete ich Ihnen ein Glas Wein an, Tante Angélique.«

»Nehmen Sie es doch an,« sagte Mademoiselle Adelaide; »es wird meinen Oheim verdrießen, wenn Sie es nicht annehmen.«

»Sie glauben, das werde Ihren Herrn Oheim verdrießen?« versetzte Tante Angélique, welche starb vor Verlangen, den Wein anzunehmen.

»Sicherlich.«

»Dann ein paar Tröpfchen, Herr Abbé, um Ihnen nicht unangenehm zu sein.«

»Gut!« sprach der Abbé Fortier, während er ein Glas mit einem Burgunder so rein wie ein Rubin voll schenkte; »leeren Sie mir das, Tante Angélique, und wenn Sie Ihre Thaler zählen, werden Sie glauben, Sie haben das Doppelte.«

Tante Angélique setzte das Glas an ihre Lippen.

»Meine Thaler?« sagte sie. »Ah! Herr Abbé, reden Sie nicht solche Dinge, Sie, der Sie ein Mann des guten Gottes sind: man würde Ihnen glauben.«

»Trinken Sie, Tante Angélique, trinken Sie.«

Tante Angélique benetzte, als wollte sie nur dem Abbé Fortier Vergnügen machen, ihre Lippen am Glase, schlürfte aber dann, indem sie die Augen schloß, mit gottseliger Miene das Drittel seines Inhalts.

»Oh! wie stark das ist!« sagte sie, »ich weiß nicht, wie man puren Wein trinken kann.«

»Und ich,« versetzte der Abbé, »ich weiß nicht, wie man Wasser in seinen Wein gießen kann; doch gleichviel, das hält mich nicht ab, zu wetten, Tante Angélique, daß Sie einen hübschen Schatz haben.«

»Oh! Herr Abbé, Herr Abbé, sagen Sie das nicht, ich kann nicht einmal meine Steuern bezahlen, die sich ans drei Livres zehn Sous jährlich belaufen.«

Nach diesen Worten verschluckte Tante Angélique das zweite Drittel des im Glase enthaltenen Weines.

»Ja, ich weiß, daß Sie das sagen; doch ich stehe nichtsdestoweniger dafür, daß an dem Tage, wo Sie den Geist aufgeben, Ihr Neffe Ange Pitou, wenn er gut sucht, in irgend einem alten wollenen Strumpfe genug finden wird, um die ganze Rue du Pleux zu kaufen.«

»Herr Abbé! Herr Abbé!« rief Tante Angélique, »wenn Sie solche Dinge äußern, so werden Sie machen, daß mich die Räuber ermorden, welche die Pachthöfe niederbrennen und die Ernten abschneiden; denn auf das Wort eines frommen Mannes wie Sie werden sie glauben, ich sei reich . . . Oh! mein Gott! mein Gott! welch ein Unglück!«

Und die Augen feucht von einer Thräne des Wohlbehagens, leerte sie den Rest des Glases.

»Ei!« sagte der Abbé immer spöttisch, »Sie sehen wohl, daß Sie sich an dieses Weinchen gewöhnen würden, Tante Angélique.«

»Gleichviel!« erwiederte die Tante Angélique, »dieser Wein ist sehr stark.«

Der Abbé hatte sein Abendbrod beendigt.

»Nun,« fragte er, »lassen Sie hören! was ist das neue Aergerniß, das Israel in Aufruhr bringt?«

»Herr Abbé, die Billotte ist so eben mit ihrem Kinds auf der Diligence angekommen.«

»Ah! ah!« versetzte der Abbé, »ich glaubte, sie habe es ins Findelhaus gebracht?«

»Und sie hätte wohl daran gethan,« erwiederte die Tante Angélique; »der arme Kleine hätte wenigstens nicht über seine Rückkehr zu erröthen gehabt.«

»Wahrlich, Tante Angélique,« sprach der Abbé, »das ist die Anstalt unter einem neuen Gesichtspunkte betrachtet . . . Und was will sie hier?«

»Es scheint, sie will ihre Mutter besuchen; denn sie hat die Kinder gefragt, ob ihre Mutter noch lebe.«

»Sie wissen, Tante Angélique,« sagte der Abbé mit einem boshaften Lächeln, »Sie wissen, daß die Mutter Billot zu beichten vergessen hat?«

»Oh! Herr Abbé,« versetzte die Tante Angélique, »das ist nicht ihre Schuld; die arme Frau hat seit drei bis vier Monaten den Kopf verloren, wie es scheint, doch es war zur Zeit, da ihr ihre Tochter noch nicht so viel Kummer gemacht hatte, eine fromme, gottesfürchtige Frau, welche, wenn sie in die Kirche kam, immer zwei Stühle nahm, einen, um sich darauf zu setzen, den andern, um ihre Füße darauf zu legen.«

»Und ihr Mann?« fragte der Abbé, dessen Augen vor Zorn funkelten; »der Bürger Billot, der Sieger der Bastille, wie viel Stühle nahm er?«

»Ah! ich weiß es nicht,« antwortete Tante Angélique naiv; »er kam nie in die Kirche; doch was die Mutter Billot betrifft . . . «

»Es ist gut, es ist gut,« versetzte der Abbé; »das ist eine Rechnung, die wir am Tage ihres Begräbnisses ins Reine bringen werden.«

Und er machte das Zeichen des Kreuzes und sagte:

»Sprecht das Dankgebet mit mir, meine Schwestern.«

Die alten Jungfern wiederholten das Zeichen des Kreuzes, das der Abbé gemacht hatte, und sprachen andächtig das Dankgebet.

CXXIII
Die Tochter und die Mutter

Mittlerweile verfolgte Catherine ihren Weg.

Als sie aus dem Gäßchen hervorkam, wandte sie sich nach links, erreichte einen Fußpfad, der querfeldein lief, und gelangte so auf den Weg nach Pisseleu.

Alles war eine schmerzliche Erinnerung für Catherine diesen Weg entlang.

Vor Allem war es das Brückchen, wo Isidor von ihr Abschied genommen und wo sie ohnmächtig liegen geblieben bis zu dem Augenblicke, da sie Pitou kalt und zu Eis erstarrt aufgefunden.

Daun, als sie sich dem Pachthofe näherte, der hohle Weidenbaum, wo Isidor seine Briefe verbarg.

Dann, als sie noch näher hinzu kam, das kleine Fenster, durch welches Isidor bei ihr einstieg, und an dem auf den jungen Mann von Billot angelegt worden war, in jener Nacht, wo zum Glücke das Gewehr des Pächters abgebrannt hatte.

Endlich, dem großen Thore des Pachthofes gegenüber, der Weg nach Boursonne, den Catherine so oft durchlaufen hatte, und den sie so wohl kannte, der Weg, auf dem Isidor kam . . .

Wie oft hatte sie bei Nacht, an dieses Fenster gelehnt, die Augen auf die Straße geheftet, keuchend gewartet und, wenn sie im Schatten ihren Geliebten erschaut, der immer pünktlich, immer treu, ihre Brust sich lösen gefühlt und ihm dann ihre geöffneten Arme entgegengestreckt!

Heute war er todt; doch ihre vereinigten Arme schloßen wenigstens ihr Kind an ihre Brust.

Was sprachen denn alle diese Leute von ihrer Unehre, ihrer Schande? Konnte ein so schönes Kind je für eine Mutter eine Unehre oder eine Schande sein?

Sie trat auch rasch und ohne Furcht in den Pachthof ein.

Ein großer Hund bellte, als sie vorüberging; plötzlich aber, da er seine junge Gebieterin erkannte, näherte er sich ihr in der ganzen Länge einer Kette, richtete sich, die Pfoten in der Luft, auf und stieß kleine Freudenschreie aus.

Auf das Gebelle des Hundes erschien bei der Thüre ein Mann, der sehen wollte, was die Ursache sei.

»Mademoiselle Catherine!« rief er.

»Vater Clouis!« sagte das Mädchen.

»Ah! seien Sie willkommen, meine liebe Demoiselle!« sprach der alte Jäger; »das Haus bedarf Ihrer Gegenwart.«

»Und meine arme Mutter?« fragte Catherine.

»Ach! weder besser, noch schlechter, oder eher schlechter, als besser; sie erlischt, die liebe arme Frau.«

»Und wo ist sie?«

»In ihrer Stube.«

»Ganz allein?«

»Nein, nein, nein . . . Ah! das hätte ich nicht erlaubt. Ei! Sie müssen mich entschuldigen, Mademoiselle: in Abwesenheit von Ihnen Allen habe ich ein wenig den Herrn hier gespielt; die Zeit, die Sie in meiner armen Hütte zugebracht, machte mich gleichsam zum Familienmitglied; ich liebte Sie so sehr, Sie und den armen Herrn Isidor!«

»Sie haben es erfahren?« sagte Catherine, indem sie zwei Thränen abwischte.

»Ja, ja, getödtet durch die Königin, wie Herr Georges . . . Nun, Mademoiselle, was wollen Sie? nicht wahr, er hat Ihnen dieses schöne Kind hinterlassen? man muß den Vater beweinen, doch dem Sohn lächeln.«

»Meinen Dank, Vater Clouis,« sprach Catherine dem alten Jäger die Hand reichend; »doch meine Mutter . . . «

»Sie ist, wie ich Ihnen gesagt habe, in ihrer Stube mit Frau Clément, derselben Krankenwärterin, welche Sie gepflegt hat.«

»Und . . . fragte Catherine zögernd, »sie ist noch beim Bewußtsein, die arme Mutter?«

»Es gibt Augenblicke, wo man es glauben sollte,« erwiederte der Vater Clouis: »so, wenn man Ihren Namen ausspricht . . . Ab! das ist das große Mittel, es hat bis vorgestern gewirkt; erst seit vorgestern gibt sie kein Zeichen des Bewußtseins mehr von sich selbst wenn man von Ihnen spricht.«

»Lassen Sie uns eintreten, Vater Clouis,« sagte Catherine, »Treten Sie ein, Mademoiselle!« versetzte der alte Jäger, indem er die Stubenthüre von Frau Billot öffnete.

Catherine tauchte ihren Blick in das Zimmer. In ihrem Bette mit den grünen Sarschevorhängen liegend, beleuchtet von einer der dreischnäbeligen Lampen, wie wir sie noch heute in den Pachthöfen sehen, wurde ihre Mutter, wie der Vater Clouis gesagt hatte, von Frau Clément gepflegt.

Diese duselte, in einem Lehnstuhle sitzend, in jenem Zustande der den Krankenwärterinnen eigenthümlichen Schlafsucht, welche eine somnambule Mitte zwischen dem Wachen und dem wirklichen Schlafe ist.

Die arme Mutter Billot schien nicht verändert, nur war ihre Gesichtsfarbe elfenbeinartig bleich geworden.

»Meine Mutter! meine Mutter!« rief Catherine, sich auf das Bett stürzend.

Die Kranke öffnete die Augen und machte eine Bewegung mit dem Kopfe gegen Catherine; ein Blitz der Fassungskraft glänzte in ihrem Blicke; ihre Lippen stammelten unverständliche Laute, welche nicht einmal den Werth von Worten ohne Folge erreichten; ihre Hand hob sich auf und suchte durch das Gefühl die fast erloschenen Sinne des Gehörs und des Gesichts zu ergänzen; doch dieser Versuch scheiterte, die Bewegung erlosch, das Auge schloß sich wieder, der Arm lastete wie ein träger Körper auf dem Kopfe von Catherine, welche vor dem Bette ihrer Mutter kniete, und die Kranke versank wieder in die Unbeweglichkeit, aus der sie momentan bei dem galvanischen Schlage, den ihr die Stimme ihrer Tochter gegeben, hervorgegangen war.

Aus den zwei Lethargien des Vaters und der Mutter waren, wie zwei von entgegengesetzten Horizonten ausgehende Blitze, zwei ganz conträre Gefühle entsprungen.

Der Vater Billot war aus seiner Ohnmacht hervorgegangen, um Catherine fern von sich zu stoßen;

Die Mutter Billot war aus ihrer Erstarrung hervorgegangen, um Catherine an sich zu ziehen.

Die Ankunft von Catherine hatte eine Revolution im Pachthofe zur Folge.

Man erwartete Billot, und nicht seine Tochter.

Catherine erzählte den Unfall, der Billot widerfahren, und sagte, wie in Paris der Mann dem Tode so nahe, als es die Frau in Pisseleu war.

Nur folgte offenbar jedes von den zwei Sterbenden einem verschiedenen Wege: Billot ging vom Tode zum Leben; seine Frau ging vom Leben zum Tode.

Catherine kehrte in das Zimmer zurück, das sie als Mädchen bewohnte. Es waren viele Thränen für sie in den Erinnerungen, welche dieses Stübchen hervorrief, wo sie die schönen Träume des Kindes, die glühenden Leidenschaften des Mädchens durchlebt hatte, und wohin sie mit dem gebrochenen Herzen der Witwe zurückkehrte.

Von diesem Augenblicke an nahm übrigens Catherine in dem in Unordnung gerathenen Hause die ganze Herrschaft wieder auf, die ihr eines Tages ihr Vater mit Hintansetzung ihrer Mutter anvertraut hatte.

Der Vater Clouis schlug, nachdem er Dank und Belohnung empfangen, wieder den Weg nach seinem Bau ein, wie er seine Hütte beim Clouis-Stein nannte.

Am andern Tage kam der Doctor Raynal nach dem Pachthofe.

Er kam alle Tage dahin, mehr in einem Gefühle des Gewissens, als in einem Gefühle der Hoffnung; er wußte wohl, daß nichts hier zu thun war, und daß dieses Leben, das erlosch wie eine Lampe, die einen Rest von Oel verzehrt, durch keine menschliche Anstrengung gerettet werden konnte.

 

Der Doctor war sehr erfreut, als er das Mädchen angekommen fand.

Er nahm die große Frage in Angriff, die mit Billot nicht zu verhandeln gewagt hatte, die der Sacramente.

Billot war, wie man weiß, ein wüthender Voltairianer.

Der Doctor war kein Mann von exemplarischer Frömmigkeit; nein, ganz im Gegentheil: mit dem Geiste der Zeit verband er den Geist der Wissenschaft.

War aber die Zeit noch beim Zweifel»so war die Wissenschaft schon bei der Verneinung.

Unter Umständen, wie die in denen er sich befand, hielt er es indessen für Pflicht, die Verwandten zu warnen.

Die frommen Verwandten benutzten die Warnung und ließen den Priester holen.

Die gottlosen Verwandten befahlen, wenn der Priester sich zeige, ihm die Thüre vor der Nase zu schließen.

Catherine war fromm.

Sie wußte nichts von den Zwistigkeiten, welche Zwistigkeiten zwischen Billot und dem Abbé Fortier stattgehabt, oder sie legte vielmehr kein großes Gewicht darauf.

Sie beauftragte Frau Clément, sich zum Abbé Fortier zu begeben, um ihn zu bitten, er möge ihrer Mutter die Sterbesacramente bringen. Pisseleu, das ein zu kleines Dörfchen war, um seine besondere Kirche und seinen eigenen Pfarrer zu haben, gehörte zu Villers-Coterets. Man beerdigte sogar auf dem Kirchhofe von Villers-Coterets die Todten von Pisseleu.

Eine Stunde nachher ertönte das Abendmahlglöckchen vor dem Thore des Pachthofes.

Das heilige Sacrament wurde auf den Knieen von Catherine empfangen.

Doch kaum war der Abbé Fortier in die Stube der Kranken eingetreten, kaum hatte er bemerkt, daß die, für welche man ihn rief, ohne Sprache, ohne Blick, ohne Stimme war, da erklärte er, er gebe die Absolution nur denjenigen, welche beichten können; und wie sehr man auch in ihn drang, er nahm das Abendmahl wieder mit.

Der Abbé Fortier war ein Priester von der finstern erschrecklichen Schule; er wäre der heilige Dominicus in Spanien und Valverde in Mexico gewesen.

Man konnte sich an keinen Andern wenden, als an ihn: Pisseleu gehörte, wie gesagt, zu seinem Kirchspiele, und kein Priester der Gegend hätte es gewagt, in seine Rechte überzugreifen.

Catherine war ein frommes und zartes Herz, zugleich aber voll Vernunft: sie machte sich aus der Weigerung des Abbé Fortier nur den Kummer, den sie sich machen mußte, und hoffte, Gott werde nachsichtiger gegen die arme Sterbende sein, als es sein Diener war.

Dann fuhr sie fort in Erfüllung ihrer Tochterpflichten gegen ihre Mutter, ihrer Mutterpflichten gegen ihr Kind, und sie theilte sich völlig zwischen dieser jungen Seele, die ins Leben eintrat, und dieser müden Seele, die sich daraus entfernen sollte.

Acht Tage und acht Nächte verließ sie das Bett ihrer Mutter nur, um an die Wiege ihres Kindes zu gehen.

In der Nacht vom achten auf den neunten Tag, während Catherine am Bette der Sterbenden wachte, welche wie eine in eine Tiefe hinabgleitende Barke sich allmälig in die Ewigkeit versenkte, öffnete sich die Thüre von Frau Billot, und Pitou erschien auf der Schwelle.

Er kam von Paris, von wo er nach seiner Gewohnheit am Morgen abgegangen war.

Als sie ihn sah, schauerte Catherine.

Einen Augenblick befürchtete sie, ihr Vater sei gestorben.

Aber die Physiognomie von Pitou, ohne gerade heiter zu sein, war doch nicht die eines Menschen, der eine Trauerkunde bringt.

Es ging in der That immer besser bei Billot; seit vier bis fünf Tagen stand der Doctor für ihn, und am Morgen der Abreise von Pitou sollte der Kranke vom Hospital des Gros-Cailou nach dem Hause des Doctors gebracht werden.

Sobald Billot in Gefahr zu sein aufgehört, hatte Pitou seinen, förmlichen Entschluß, nach Pisseleu zurückzukehren, erklärt.

Nicht für Billot befürchtete er mehr, sondern für Catherine.

Pitou hatte den Augenblick vorhergesehen, wo man Billot mittheilen würde, was man ihm noch nicht hatte mittheilen wollen: den Zustand, in welchem sich seine Frau befand.

Es war seine Ueberzeugung, in diesem Augenblicke, so schwach er war, werde Billot nach Villers-Coterets abreisen. Und was würde geschehen, wenn er Catherine im Pachthofe fände?

Der Doctor Gilbert hatte Pitou nicht verborgen, welchen Eindruck auf den Kranken die Erscheinung von Catherine und ihr Aufenthalt von einem Augenblick an seinem Bette hervorgebracht.

Diese Erscheinung war offenbar im Grunde seines Geistes geblieben, wie im Grunde des Gedächtnisses, wenn man aufwacht, die Erinnerung an einen bösen Traum bleibt.

So wie die Vernunft bei ihm zurückgekehrt, hatte der Kranke Blicke umher geworfen, welche nach und nach von der Unruhe zum Hasse übergegangen waren.

Ohne Zweifel erwartete er jeden Augenblick, die unselige Vision wiedererscheinen zu sehen.

Er hatte übrigens kein Wort gesagt; nicht ein einziges Mal hatte er den Namen von Catherine ausgesprochen; doch der Doctor war ein zu tiefer Beobachter, um nicht Alles errathen, Alles gelesen zu haben.

Er hatte dem zu Folge, sobald Billot in der Wiedergenesung begriffen, Pitou nach dem Pachthose abgeschickt.

Es war dessen Aufgabe, Catherine von da zu entfernen. Pitou hatte, um zu diesem Resultate zu gelangen, noch zwei bis drei Tage vor sich, denn der Doctor wollte es vor ein paar Tagen noch nicht wagen, die schlimme Kunde, welche Pitou gebracht, dem Wiedergenesenden zu eröffnen.

Pitou theilte Catherine seine Befürchtungen mit aller Bangigkeit mit, die ihm selbst der Charakter von Billot einflößte, doch Catherine erklärte, sie werde sich, und sollte sie ihr Vater am Bette der Sterbenden tödten, nicht entfernen, ehe sie ihrer Mutter die Augen zugedrückt habe.

Pitou seufzte tief über diesen Entschluß, doch er fand kein Wort, um ihn zu bekämpfen.

Er blieb also da, bereit, im Nothfalle zwischen dem Vater und der Tochter ins Mittel zu treten.

Es vergingen noch zwei Tage und zwei Nächte: das Leben der Mutter Billot schien Athem um Athen zu entfliehen.

Schon seit zwei Tagen aß die Kranke nicht mehr; man erhielt sie nur dadurch, daß man ihr von Zeit zu Zeit einen Löffel voll Sirup in den Mund flößte.

Man hätte nicht glauben sollen, ein Körper könne mit einer solchen Unterstützung leben . . . Dieser arme Körper brauchte freilich so wenig! In der Nacht vom zehnten auf den elften Tag, in dem Augenblick, wo jeder Athem bei ihr erloschen zu sein schien, schien sich die Kranke wiederzubeleben, die Arme machten einige Bewegungen, die Lippen rührten sich, die Augen öffneten sich groß und starr.

»Meine Mutter! meine Mutter!« rief Catherine.

Und sie stürzte nach der Thüre, um ihr Kind zu holen.

Es war, als zöge Catherine die Seele ihrer Mutter mit sich fort: als fiel den kleinen Isidor in ihren Armen haltend zurückkam, hatte die Sterbende eine Bewegung gemacht, um sich nach der Seite der Thüre zu wenden, Die Augen waren ganz weit offen und starr geblieben.

Bei der Rückkehr von Catherine schleuderten die Augen einen Blitz, gab der Mund einen Schrei von sich, streckten sich die Arme aus.

Catherine fiel mit ihrem Kinde vor dem Bette ihrer Mutter auf die Kniee.

Da bewerkstelligte sich ein seltsames Phänomen: die Mutter Billot erhob sich auf ihrem Kiffen und streckte langsam die Arme über dem Kopfe von Catherine und ihrem Sohne aus; dann sprach sie mit einer Anstrengung ähnlich der des jungen Sohnes von Krösus:

»Meine Kinder, ich segne Euch!«

Und sie sank auf ihr Kissen zurück, ihre Arme bogen sich, ihre Stimme erlosch.

Sie war todt.

Am Sarge der Mutter.


Nur ihre Augen allein waren offen geblieben, als ob die gute Frau, weil sie sie nicht genug zu ihren Lebzeiten gesehen, ihre Tochter noch von jenseits des Grabes hätte anschauen wollen.