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Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4

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»Lieber Zauberer,« erwiederte Gilbert, während er aufstand und seinen Hut nahm, »ich sage, daß mich Ihre Berechnung erschreckt und um so mehr nachdenken macht, als ich beim König bin.«

Gilbert machte ein paar Schritte gegen die Thüre.

Cagliostro hielt ihn zurück.

»Hören Sie, Gilbert,« sagte er. »Sie wissen, ob ich Sie liebe, Sie wissen, ob ich, um Ihnen einen Schmerz zu ersparen, fähig bin, mich selbst tausend Schmerzen auszusetzen  . . . Nun denn! glauben Sie mir  . . . hören Sie einen Rath . . .«

»Welchen?«

»Der König flüchte sich, der König verlasse Frankreich, so lange es noch Zeit ist! In drei Monaten, in einem Jahr, in sechs Wochen vielleicht wird es zu spät sein.«

»Graf, würden Sie einem Soldaten rathen, seinen Posten zu verlassen, weil Gefahr dabei wäre, auf demselben zu bleiben?«

»Wenn dieser Soldat dergestalt umzingelt, eingeschlossen, entwaffnet wäre, daß er sich nicht vertheidigen könnte, wenn besonders sein gefährdetes Leben das Leben von einer halben Million Menschen gefährdete  . . . ja, dann würde ich ihn fliehen heißen,  . . .Und Sie selbst, Sie selbst, Gilbert, werden es einst dem König rathen  . . . Der König wird Ihnen dann Gehör schenken wollen, doch es wird zu spät sein  . . . Warten Sie also nicht bis morgen; sagen Sie es ihm heute; warten Sie nicht bis heute Abend, sagen Sie es ihm in dieser Stunde.«

»Graf, Sie wissen, daß ich zu der satalistischen Schule gehöre. Es mag geschehen, was will! so lange ich irgend eine Macht über den König habe, wird der König in Frankreich bleiben, und ich werde beim König bleiben. Gott besohlen, Graf, wir werden uns im Kampfe wiedersehen.«

»Ah!« murmelte Cagliostro, »der Mensch, so verständig und klug er sein mag, kann nie seinem schlimmen Geschicke entgehen. Ich suchte Sie auf, um Ihnen zu sagen, was ich Ihnen gesagt habe; Sie haben es gehört. Wie die Weissagung von Cassandra, ist die meinige unnütz . . . Leben Sie wohl.«

»Offenherzig gesprochen, Graf,« sagte Gilbert, der aus der Schwelle des Salon stehen blieb und Cagliostro fest anschaute, »haben Sie hier, wie in Amerika, die Prätension, mich glauben zu machen, Sie lesen die Zukunft der Menschen aus ihrem Gesichte?«

»Gilbert, so sicher, als Du am Himmel den Weg liesest, welchen die Sterne beschreiben, während der große Hause glaubt, sie seien unbeweglich oder sie irren aufs Gerathewohl umher.«

»Hören Sie  . . . man klopft an die Thüre.«

»Es ist wahr.«

»Sagen Sie mir das Schicksal desjenigen, welcher an die Thüre klopft, wer es auch sein mag; sagen Sie mir, welchen Todes er sterben muß, und wann er sterben wird.«

»Gut,« erwiederte Cagliostro, »öffnen wir selbst.«

Gilbert ging an das Ende des Corridors, von dem wir gesprochen, mit einem Herzklopfen, das er nicht bewältigen konnte, obgleich er sich sagte, es sei albern von ihm, diesen Charlatanismus im Ernste zu nehmen.

Die Thüre wurde geöffnet.

Ein Mann von ausgezeichneter Tournure, hoch gewachsen, in dessen Gesicht sich das kräftige Gepräge eines starken Willens erkennen ließ, erschien auf der Schwelle und warf aus Gilbert einen raschen Blick, der nicht von Unruhe frei war.

»Guten Morgen, Marquis,« rief Cagliostro.

»Guten Morgen, Baron,« erwiederte dieser.

Dann, da Cagliostro bemerkte, daß sich der Blick des Eintretenden wieder auf Gilbert richtete, sagte er:

»Marquis, der Herr Doctor Gilbert, einer meiner Freunde . . . Mein lieber Gilbert, der Herr Marquis von Favras, einer meiner Kunden,«

Die zwei Männer begrüßten sich.

Dann wandte sich Cagliostro an den Fremden und sprach: »Marquis, wollen Sie in den Salon gehen und mich dort einen Augenblick erwarten.«

Der Marquis grüßte zum zweiten Mal, als er an Cagliostro und Gilbert vorüberging, und verschwand.

»Nun?« fragte Gilbert.

»Sie wollen wissen, welchen Todes der Marquis sterben wird?«

»Haben Sie sich nicht anheischig gemacht, es mir zu sagen?«

Cagliostro lächelte aus eine seltsame Art; dann, nachdem er sich vorgeneigt hatte, um zu sehen, ob man nicht horche, sagte er:

»Haben Sie je einen Edelmann henken sehen?«

»Nein.«

»Nun, da dies ein seltsames Schauspiel ist, so finden Sie sich aus der Grève an dem Tage ein, wo man den Marquis von Favras henken wird.«

Hiernach geleitete er Gilbert zur Hausthüre zurück und sprach:

»Hören Sie, wenn Sie zu mir kommen wollen, ohne zu klingeln, ohne gesehen zu werden und ohne einen andern Menschen als mich zu sehen, so drücken Sie an diesen Knopf von rechts nach links und von unten nach oben, so  . . . Gott befohlen, entschuldigen Sie mich, man muß diejenigen, welche nicht lange zu leben haben, nicht lange warten lassen.«

Und er entfernte sich und ließ Gilbert verblüfft durch diese Dreistigkeit, welche sein Erstaunen erregen, aber seine Ungläubigkeit nicht besiegen konnte.

VI
Die Tuilerien

Mittlerweile setzten der König, die Königin und die königliche Familie ihre Fahrt nach Paris fort.

Diese Fahrt ging aber so langsam, verzögert durch die Gardes du corps, welche zu Fuß marschirten, durch die gepanzerten Poissarden, welche auf ihren Pferden ritten, durch diese Männer und Weiber der Halle, welche aus den mit Bändern geschmückten Kanonen saßen, durch diese hundert Wagen der Abgeordneten, durch diese zwei bis drei hundert Wagen voll Korn und Mehl, die sie in Versailles genommen und mit herbstlich gelbem Blätterwerk bedeckt hatten, daß erst um sechs Uhr der königliche Wagen, der so viel Schmerzen, so viel Haß, so viel Leidenschaften und so viel Unschuld enthielt, bei der Barrière ankam.

Unter Weges hatte der junge Prinz Hunger bekommen und zu essen verlangt.

Die Königin hatte dann umhergeschaut; nichts konnte leichter sein, als sich ein wenig Brod für den Dauphin zu verschaffen, da jeder Mann vom Volke einen Laib an der Spitze seines Bajonnets trug.

Sie suchte Gilbert mit den Augen.

Gilbert war, wie man weiß, Cagliostro gefolgt.

Wäre Gilbert da gewesen, so würde die Königin nicht gezögert haben, von ihm ein Stück Brod zu verlangen.

Aber die Königin wollte nicht eine solche Bitte an einen von den Männern vom Volke richten, vor denen sie einen Abscheu hatte.

So drückte sie den Dauphin an ihre Brust und sagte weinend zu ihm:

»Mein Kind, wir haben kein Brod; warte bis heute Abend, heute Abend werden wir vielleicht bekommen.«

Der Dauphin streckte sein Händchen gegen die Männer aus, welche Brode an der Spitze ihrer Bajonnete trugen, und erwiederte:

»Die Leute dort haben.«

»Ja, mein Kind, doch dieses Brod gehört ihnen und nicht uns, und sie haben es in Versailles geholt, weil sie, wie sie sagen, seit drei Tagen in Paris keines mehr hatten.«

»Seit drei Tagen!« versetzte das Kind; »sie haben also seit drei Tagen nicht gegessen, Mama?«

Gewöhnlich forderte die Etiquette, daß der Dauphin seine Mutter Madame nannte, doch der Knabe hatte Hunger wie ein einfaches Armenkind, und da er Hunger hatte, so nannte er seine Mutter Mama.

»Nein, mein Sohn,« antwortete die Königin.

»Dann müssen sie sehr Hunger haben!« sagte das Kind mit einem Seufzer.

Und es hörte auf, sich zu beklagen, und suchte zu schlafen.

Das arme königliche Kind, das mehr als einmal, ehe er starb, vergebens, wie es so eben gethan, Brod verlangen sollte!

An der Barrière hielt man abermals an, diesmal nicht um auszuruhen, sondern um die Ankunft zu feiern.

Diese Ankunft sollte durch Gesänge und Tänze gefeiert werden.

Ein seltsamer Halt, beinahe so bedrohlich in seiner Freude, als es die andern in ihrem Schrecken gewesen waren.

Die Poissarden stiegen in der That von ihren Pferden, das heißt, von den Pferden der Gardes du corps ab und banden an die Sattelbogen die Säbel und Carabiner. Die Damen und die Starken der Holle stiegen von ihren Kanonen ab, die nun in ihrer entsetzlichen Nacktheit erschienen.

Dann bildete man einen Reigen, der den Wagen des Königs umschloß und ihn von der Nationalgarde und den Deputirten trennte – ein furchtbares Emblem dessen, was später geschehen sollte!

Dieser Reigen, den sie in guter Absicht und um der königlichen Familie ihre Freude zu bezeigen, bildeten, sang, schrie, brüllte; die Weiber umarmten die Männer, die Männer ließen die Frauen springen, wie bei jenen cynischen Kirchmessen von Teniers.

Dies geschah beinahe bei Einbruch der Nacht, an einem düsteren, regnerischen Tage, so daß der Reigen, nur durch die Lunten der Kanonen und einige Stöcke Feuerwerk beleuchtet, in seinen Nuancen von Licht und Schatten phantastische, beinahe höllische Tinten annahm.

Nach einer halben Stunde des Schreiens, Singens, Tobens, Tanzens im Kothe, ließ das Gefolge ein ungeheures Hurrah erschallen: Alles, was eine geladene Flinte hatte, Männer, Weiber und Kinder, schoß in die Luft, ohne sich um die Kugeln zu bekümmern, welche nach einem Augenblick wie schwere Schlossen platschend in die Wasserlachen fielen.

Der Dauphin und seine Schwester weinte».

Sie hatten so sehr Angst, daß sie ihren Hunger darüber vergaßen.

Man folgte der Linie der Quais und kam zu dem Platze des Stadthauses.

Hier hatte das Militär ein Carre gebildet, um keinen andern Wagen, als den des Königs, keine andere Person, als die, weiche zur königlichen Familie oder zur Nationalversammlung gehörten, zum Stadthause zuzulassen.

Die Königin erblickte nun Weber, ihren vertrauten Kammerdiener, ihren Milchbruder, der ihr von Wien gefolgt war; er strengte sich gewaltig an, um das Verbot zu übertreten und in das Stadthaus einzudringen.

Sie rief ihn.

Weber eilte herbei.

Als er in Versailles sah, daß sich die Nationalgarde die Ehre des Tages erfreute, hatte sich Weber, um sich einiges Ansehen zu geben, mit dessen Hilfe er der Königin nützlich sein könnte, als Nationalgardist gekleidet und seiner Uniform die Decoration eines Officiers vom Generalstab beigefügt.

 

Der Stallmeister der Königin hatte ihm ein Pferd geliehen.

Um keinen Verdacht zu erregen, hatte er sich den ganzen Weg entlang bei Seite gehalten, wohlverstanden mit der Absicht, sich der Königin zu nähern, sollte sie seiner bedürfen.

Von der Königin erkannt und gerufen, eilte er also herbei.

»Warum versuchst Du es, das Verbot zu übertreten?« fragte ihn die Königin, welche die Gewohnheit, ihn zu duzen, beibehalten hatte.

»Um Eurer Majestät nützlich zu sein.«

»Du wirst mir im Stadthause sehr unnütz sein, während Du mir anderswo nützlich sein kannst.«

»Wo dies, Majestät?«

»In den Tuilerien, mein lieber Weber, in den Tuilerien, wo uns Niemand erwartet, und wo wir, wenn Du uns nicht vorangehst, weder ein Bett, noch ein Zimmer, noch ein Stück Brod finden werden.«

»Ah!« sagte der König, »das ist ein vortrefflicher Gedanke, der Gedanke, den Sie da haben, Madame.«

Die Königin hatte deutsch gesprochen, und der König, der das Deutsche verstand, aber nicht sprach, hatte englisch geantwortet.

Das Volk hatte auch gehört, aber nicht verstanden. Diese fremde Sprache, gegen welche es einen instinctartigen Haß hegte, machte, daß es um den Wagen her ein Gemurre vernehmen ließ, welches in ein Brüllen überzugehen drohte, als sich das Carré vor dem Wagen der Königin öffnete und hinter demselben schloß.

Bailly, eine von den Popularitäten jener Zeit, Bailly, den wir schon bei der ersten Fahrt des Königs haben erscheinen sehen, – damals, wo die Bajonnete der Flinten und die Mündungen der Kanonen unter Blumensträußen verschwanden, die bei der zweiten Fahrt vergessen wurden, – Bailly erwartete den König und die Königin am Fuße eines für den Empfang improvisirten Thrones: ein schlecht befestigter, schlecht zusammengefügter, unter dem Samme, der ihn bedeckte, krachender Thron, ein wahrer Gelegenheitsthron!

Der Maire von Paris sagte ungefähr zum König bei dieser zweiten Erscheinung, was er bei der ersten gesagt hatte.

Der König antwortete;

»Ich komme immer mit Vergnügen und Vertrauen in die Mitte der Einwohner meiner guten Stadt Paris.«

Der König hatte leise, mit einer durch den Hunger und die Müdigkeit erloschenen Stimme, gesprochen.

Bailly wiederholte den Satz ganz laut, damit ihn Jeder hörte.

Nur vergaß er, geschah es absichtlich oder unwillkürlich, die zwei Worte: und Vertrauen.

Die Königin bemerkte es.

Ihre Bitterkeit war glücklich, eine Stelle zu finden, um durchzubrechen.

»Verzeihen Sie, Herr Maire,« sagte sie laut genug, daß diejenigen, welche sie umgaben, keines von ihren Worten verloren, »Sie hörten schlecht, oder sie haben ein kurzes Gedächtniß.«

»Wie beliebt, Madame?« stammelte Ballly, indem er gegen die Königin das Astronomenauge wandte, das, so gut am Himmel und so schlecht auf der Erde sah.

Jede Revolution hat bei uns ihren Astronomen und gräbt auf dem Wege dieses Astronomen verrätherischer Weise die Grube, in die er fallen soll.6

Die Königin erwiederte:

»Mein Herr, der König hat gesagt, er komme immer mit Vergnügen und Vertrauen in die Mitte der Einwohner seiner guten Stadt Parts; da man aber bezweifeln kann, ob er mit Vergnügen hierher kommt, so soll man wenigstens erfahren, daß er mit Vertrauen kommt.«

Dann stieg sie die drei Stufen des Thrones hinauf und setzte sich neben den König, um die Reden der Wähler zu hören.

Weber, vor dessen Pferde sich die Menge, vermöge seiner Uniform eines Officiers vom Generalstab öffnete, eilte in den Palast der Tuilerien.

Seit langer Zeit war dieses königliche Logis der Tuilerien, wie man es früher nannte, – ein Logis erbaut von Catharina von Medicis, einen Augenblick von ihr bewohnt, dann aufgegeben und mit dem Louvre vertauscht von Karl IX., von Heinrich III., von Heinrich IV»von Ludwig XIII., später mit Versailles vertauscht von Ludwig XIV, von Ludwig XV. und von Ludwig XVI, – nur ein Aushilfsgebäude der königlichen Paläste, wo Leute von Hofe wohnten, in das aber der König und die Königin vielleicht nie einen Fuß gesetzt hatten.

Weber untersuchte die Appartements, und da er die Gewohnheiten des Königs und der Königin kannte, so wählte er dasjenige, welches die Gräfin von der Mark bewohnte, um, das der Herren Marschälle von Noailles und von Mouchy.

Die Besitznahme des Appartement, welches die Gräfin von der Mark sogleich verließ, hatte ihre gute Seite: es war ganz bereit, um die Königin mit ihren Meubles, mit ihrer Wäsche, ihren Vorhängen und ihren Teppichen, welche Weber kaufte, zu empfangen.

Gegen zehn Uhr hörte man das Geräusch des Wagens Ihrer Majestäten, welche zurückkehrten.

Alles war bereit, und seinen erhabenen Gebietern entgegenlaufend, rief Weber:

»Bedient den König!«

Der König, die Königin, Madame Royale, der Dauphin, Madame Elisabeth und Andrée traten ein.

Herr von Provence war in das Palais Luxembourg zurückgekehrt.

Der König schaute unruhig umher, als er aber in den Salon eintrat, sah er durch eine halbgeöffnete Thüre, welche auf eine Gallerie ging, das Abendbrod am Ende dieser Gallerie aufgetragen.

Zu gleicher Zeit wurde die Thüre vollends geöffnet, und ein Huissier erschien und meldete:

»Der König ist bedient.«

»Oh! welch ein Mann von Mitteln ist dieser Weber!« sprach der König mit einem Ausruf der Freude. »Madame, Sie werden ihm in meinem Auftrage sagen, ich sei sehr zufrieden mit ihm.«

»Sire, ich werde nicht unterlassen, es ihm zu sagen,« antwortete die Königin.

Und mit einem Seufzer, welcher den freudigen Ausruf des Königs erwiederte, trat sie in den Speisesaal ein.

Die Gedecke des Königs, der Königin, von Madame Royale, vom Dauphin und von Madame Elisabeth waren gelegt.

Es war aber kein Gedeck für Andrée vorhanden.

Von seinem Hunger gedrängt, hatte der König diese Unterlassung nicht bemerkt, in der übrigen’s nichts Verletzendes lag, da sie dem Gesetze der strengsten Etiquette entsprach.

Doch die Königin, der nichts entging, bemerkte mit dem ersten Blick.

»Der König wird erlauben, daß die Gräfin von Charny mit uns zu Nacht speist,« sagte die Königin.

»Wie?« rief der König, »wir speisen heute in Familie, und die Gräfin von Charny gehört zur Familie.«

»Sire,« erwiederte die Gräfin, »ist es ein Befehl, den mir der König gibt?«

Der König schaute die Gräfin mit Erstaunen an und antwortete:

»Nein, Madame, es ist eine Bitte, die der König an Sie richtet.«

»Dann,« sprach die Gräfin, »bitte ich den König, mich zu entschuldigen; ich habe keinen Hunger,«

»Wie! Sie haben keinen Hunger?« rief der König, der nicht begriff, daß man um zehn Uhr Abends, nach einem so anstrengenden Tag, und wenn man seit zehn Uhr Morgens nicht mehr gegessen, keinen Hunger haben konnte.

»Nein, Sire,« sagte Andrée.

»Ich auch nicht,« sprach die Königin.

»Ich auch nicht.« versetzte Madame Elisabeth.

»Oh! Sie haben Unrecht, Madame,« sagte der Königs »vom guten Zustand des Magens hängt der gute Zustand des übrigen Körpers und sogar des Geistes ab; es gibt hierüber eine Fabel von Titus Livius, nachgeahmt von Shakspeare und von la Fontaine, über welche nachzudenken ich Sie auffordere.«

»Wir kennen sie, Sire,« erwiederte die Königin.

»Es ist eine Fabel, welche an einem Revolutionstage vom alten Menenius dem römischen Volke gesagt wurde. An diesem Tage war das römische Volk in einer Empörung begriffen, wie es heute das französische ist. Sie haben also Recht, Sire, ja diese Fabel entspricht ganz den Umständen.«

»Nun,« sagte der König, indem er seinen Teller darbot, daß man ihm zum zweiten Mal Suppe gebe, »bestimmt Sie diese historische Aehnlichkeit nicht, Gräfin?«

»Nein, Sire, und ich schäme mich wahrhaftig ganz, Eurer Majestät sagen zu müssen, daß ich, wenn ich ihr auch gehorchen wollte, es doch nicht könnte.«

»Sie haben Unrecht, Gräfin, diese Suppe ist in der That vortrefflich! Warum ist es das erste Mal, daß man mir eine solche vorsetzt?«

»Weil Sie einen neuen Koch haben, Sire, den der Gräfin von der Mark, deren Zimmer wir bewohnen.«

»Ich behalte ihn in meinem Dienste, und er soll zu meinem Hause gehören  . . .Dieser Weber ist wahrhaftig ein wunderbarer Mensch, Madame.«

»Ja,« murmelte traurig die Königin, »welch ein Unglück, daß man ihn nicht zum Minister machen kann!«

Der König hörte nicht, oder er wollte nicht hören; nur, da er Andrée sehr bleich dastehen sah, während die Königin und Madame Elisabeth, obgleich sie ebenso wenig aßen, als Andrée, an der Tafel saßen, wandte er sich an die Gräfin von Charny und sprach:

»Madame, wenn Sie keinen Hunger haben, so werden Sie doch nicht sagen, Sie seien nicht müde; wenn Sie sich weigern, zu essen, so werden Sie sich doch nicht weigern, zu schlafen.«

Dann sagte er zur Königin:

»Madame, ich bitte Sie, entlassen Sie Frau von Charny: in Ermangelung der Speise der Schlaf.«

Und er drehte sich gegen seine Dienerschaft um und fragte:

»Ich hoffe, daß es mit dem Bette der Frau Gräfin von Charny nicht ist, wie mit ihrem Gedeck, und daß man nicht vergessen hat, ein Zimmer für sie bereit zu halten,«

»Oh! Sire,« versetzte Andrée, »wie sollte man sich bei einer solchen Unruhe mit mir beschäftigt haben? Ein Lehnstuhl wird genügen.«

»Nein, nein,« rief der König; »Sie haben schon in der vergangenen Nacht wenig oder gar nicht geschlafen; Sie müssen heute Nacht gut schlafen; die Königin bedarf nicht nur ihrer Kräfte, sondern auch der Kräfte ihrer Freunde.«

Mittlerweile kam der Bediente, der sich erkundigt hatte, zurück und meldete:

»Herr Weber, welcher die große Gunst kennt, mit der die Königin die Frau Gräfin beehrt, glaubte den Intentionen Ihrer Majestät zu entsprechen, indem er für die Frau Gräfin ein an das der Königin anstoßendes Zimmer vorbehalten ließ.«

Die Königin bebte, denn sie bedachte, daß es, wenn nur ein Zimmer für die Frau Gräfin vorhanden sei, folglich auch nur ein Zimmer für die Gräfin und den Grafen gebe.

Andrée sah den Schauer, der die Adern der Königin durchlief.

Keine der Empfindungen, welche eine von diesen Frauen berührte, entging der andern.

»Für heute Nacht, doch nur für heute Nacht werde ich das annehmen, Madame,« sagte Andrée. »Die Wohnung Ihrer Majestät ist zu sehr beschränkt, als daß ich könnte ein Zimmer aus Kosten ihrer Bequemlichkeit haben wollen; es wird sich wohl in den Mansarden des Schlosses ein Winkelchen für mich finden.«

Die Königin stammelte ein paar unverständliche Worte.

»Gräfin,« sagte der König, »Sie haben Recht; man wird Alles dies morgen suchen und Sie so gut als nur immer möglich unterbringen.«

Die Gräfin verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem König, der Königin und Madame Elisabeth und ging hinaus.

Der König schaute ihr einen Augenblick, seine Gabel in der Höhe seines Mundes haltend, nach.

»Es ist in der That ein reizendes Geschöpf, diese Frau,« sagte er, »und der Herr Graf von Charny ist glücklich, einen solchen Phönix am Hofe gefunden zu haben.«

Die Königin bog sich in ihrem Lehnstuhle zurück, um ihre Blässe zu verbergen, nicht vor dem König, der sie nicht gesehen hätte, sondern vor Madame Elisabeth, welche darüber erschrocken wäre.

Sie war einer Ohnmacht nahe.

6Anspielung aus Arogo. D. Uebers.