Nur auf LitRes lesen

Das Buch kann nicht als Datei heruntergeladen werden, kann aber in unserer App oder online auf der Website gelesen werden.

Buch lesen: «Die Cabane und die Sennhütte», Seite 12

Schriftart:

»O! tödten Sie mich! tödten Sie mich !« rief Marius heftig, indem er mit seinen krampfhaften Händen in sein Haar griff; »befreien Sie mich von diesem Dasein, welches mir verhaßt ist, und ich werde Sie segnen, und mein letzter Seufzer soll ein Glückwunsch für Sie sein.«

Der Bettler hielt erstaunt an; es lag ein solcher Ausdruck der Wahrheit in der Stimme unseres Marius, daß es unmöglich war, den geringsten Zweifel zu hegen.

»Wahrhaftig!« rief der Bandit; »was geht denn in Deinem Gehirne vor? Hölle und Teufel! ich glaube während der Verfolgung hierher hat sich Deine Bouffole in ihrem Häuschen verrückt; aber das ist nicht meine Sache. Ich sehe dort unten sich Lichter bewegen; die Luft der Küste ist diese Nacht nicht gesund für mich. Guten Abend, Mann!«

»Sie sollen indessen nicht eher fort, als bis Sie mich angehört haben!« sagte Marius, indem er sich neben dem Banditen aufrichtete und seinen Arm ergriff.

Dieser machte eine gewaltsame Bewegung, um sich frei zu machen; aber der junge Mann drehte ihm die Hand mit einer Gewalt um, die seinem Gegner beweisen mußte, daß die Wunde, die er erhalten, dem Nichts von seiner Stärke genommen, der ihn so eifrig verfolgt hatte; er unterdrückte einen Schrei, den ihm der Schmerz entlockte, und beugte sich zur Erde, um ihm zu entgehen.

»Teufel! das ist eine Faust, die dem Ehre macht, dem Sie sie verdanken, junger Mann! Lassen Sie mich jetzt los, ich will thun, was Sie wollen. Ich habe immer sagen hören, daß man den Kindern und Narren Nichts abschlagen dürfe – nur wollen wir uns ein wenig niederbücken, wenn es Ihnen gefällig ist; denn an der Küste aufrecht zu stehen, wenn so viele Jagdhunde meine arme Person verfolgen, ist ein wenig gefährlich.«

Und ohne die Antwort unseres Marius zu erwarten, setzte sich Pierre Manas hinter einem Felsen nieder und gab dem jungen Manne ein Zeichen, ein Gleiches zu thun; aber Marius blieb stehen und schwieg.

»Nun, was wollen Sie, zum Henker?« fragte der Bandit. »Sie sind das gerade Gegentheil des kleinen Tambours von Cassis, welchem man zwei Sous geben mußte, um auf seine Eselshaut zu schlagen, und vier Sous, um sie schweigen zu lassen. Sie hatten Lust zu plaudern; ich willige ein, Sie mit dem rothen Lappen spielen zu lassen, und jetzt sind Sie stumm, wie eine Sardelle.«

»Pierre Manas,« sagte Marius, indem er seine Gemüthsbewegung zu beherrschen suchte, »hören Sie mich an.«

Der Bettler erbebte und richtete seine Augen, die im Dunkeln wie zwei glühende Kohlen funkelten, auf Marius.

»Sie wissen meinen Namen?« murmelte er mit dumpfer und drohender Stimme.

»Pierre Manas,« fuhr der junge Mann fort, »Sie sind ein schlechter Gatte und ein schlechter Vater gewesen, Sie haben Ihre Frau und Ihr Kind verlassen.«

»Hölle und Teufel!« rief der Bettler, »wolltest Du vielleicht meine Beichte hören?«

Und er brach in ein cynisches Lachen aus.

Marius fuhr fort:

»Sie haben eben ein neues Verbrechen zu denen hinzugefügt, welche bereits Ihr Leben verunreinigt haben.«

»Es ist Deine Schuld, mein Täubchen,« versetzte der Bettler; »wenn Du mir nur ein Zwanzigfrankenstück gegeben hättest, würde ich auf den Gedanken verzichtet haben, zu der Demoiselle zu gehen; aber was sollte ein Mensch mit Deinen ärmlichen vierzig Sous anfangen? Als ich Niemand im Zimmer fand, füllte ich so gut ich konnte meine Taschen wegen der menschenfreundlichen Absichten, die sie gegen mich kund gegeben, als jener Dummkopf im Nebenzimmer es ein wenig dreist fand, daß ich den Secretair durchsuchte. Du siehst wohl, daß das Verbrechen Dir zur Last fällt, und wenn Du nicht ganz ohne Gewissen bist, wirst Du anstatt meiner Buße thun.«

»Pierre Manas,« fuhr der junge Mann mit feierlicher Stimme fort, »der Augenblick ist nahe, wo Sie der menschlichen Justiz für alle Ihre Verbrechen Rechenschaft ablegen müssen. Macht Sie das nicht zittern? Dringt nicht die Furcht vor der schrecklichen Strafe, die Ihrer wartet, in Ermangelung der Gewissensbisse in Ihre Seele?«

»Je nach Umständen,« antwortete der Bandit.

»Hören Sie,« fuhr Marius fort, »so groß auch Ihre Verhärtung sein mag, so können Sie doch eine Fügung der Vorsehung in dem, was diesen Abend geschehen ist, nicht verkennen; ein Anderer hätte Ihnen nachlaufen, ein Anderer als ich, der ich Sie nicht gefangennehmen kann und will, könnte Sie in seiner Macht haben; aber nein, mich und keinen Anderen hat Gott gewählt; also will Ihnen der Herr die Möglichkeit der Reue lassen. Benutzen Sie die Gelegenheit, Pierre Manas.«

»Pfit! – ha, ha! die Reue, mein Knäbchen! Wenn ich mein Brod auch noch so sehr mit Reue reibe, so wird sie ihm doch nicht so viel Geschmack geben, wie eine Zehe Knoblauch.«

»Ueberlegen Sie, was ich eben gesagt habe, Pierre Manas,« versetzte Marius, den die Unverschämtheit des Banditen empörte und der die tiefste Entmuthigung empfand. Ich verspreche Ihren Namen zu verschweigen; ja ich verspreche Ihnen noch mehr: um Sie zu retten, werde ich bis zur Lüge gehen; ich werde ein Signalement von dem Mörder angeben, welches einige Tage lang den Verdacht von Ihnen ablenken wird; benutzen Sie dies, um zu fliehen, die Grenze zu überschreiten und auszuwandern.«

»Das ist es gerade, was ich zu thun beabsichtige,« versetzte der Elende; »das hat mich bestimmt, es koste, was es wolle, meinen Schatz in Sicherheit zu bringen.«

Und indem Pierre Manas diese Worte sagte, suchte er grinsend in der Tasche eines Pantalon; aber ohne Zweifel fand er darin nicht, was er suchte, denn sein ganzer Körper blieb unbeweglich, während seine Hand mit einer krampfhaften Aufregung über alle Theile seiner Kleidung dahinfuhr.

»Ich habe es verloren!« rief er mit einer entsetzlichen Verwünschung.

Dann packte er Marius bei der Kehle und rief:

»Du hast es mir gestohlen! Gestehe, daß Du es mir gestohlen hat, Schelm und Heuchler, der Du bist!«

Der junge Mann wehrte sich nicht und suchte nicht diesem Drucke zu entgehen, ungeachtet des Schmerzes, den ihm die Nägel des Mörders, die in ein Fleisch eindrangen, verursachten.

»Durchsuchen Sie mich,« sagte er mit erstickter Stimme.

Diese Ruhe zeigte Pierre Manas, daß er sich hinsichtlich unseres Marius geirrt habe; daß er das gestohlene Geld verloren haben müsse, daß es ihm aber nicht genommen sein könne.

Er erschöpfte sich also in Verwünschungen über das Schicksal, hörte aber nicht auf, den jungen Mann wegen des Verlustes seiner Beute zu beschuldigen.

Dieser ließ in der Ruhe seines Schmerzes der Verzweiflung des Bettlers Zeit, zu verdampfen.

»Alles läßt sich wieder gut machen,« sagte er dann. »Ich bin nicht reich, aber ich habe einige Ersparnisse gemacht; morgen will ich sie Ihnen zustellen, um es Ihnen möglich zu machen, Frankreich zu verlassen.«

»Wahrhaftig!« rief Pierre Manas, »es ist bei alledem doch ein glücklicher Abend! Und diese Ersparnisse, wie viel wägen sie?«

»Wenn man Alles giebt, was man hat, bleibt dem, welcher empfängt, nicht das Recht, mehr zu verlangen.« antwortete Marius, der ungeachtet des Bandes, welches ihn an diesen Mann knüpfte, einen unüberwindlichen Abscheu gegen ihn hegte.

»Du hast Recht, mein Knäbchen. Aber sage mir doch, aus welchem Grunde interessierst Du Dich für mein Schicksal? Wenn Du ein Weib wärest, würde ich glauben, daß ich mich noch in dem Alter befinde, eine Leidenschaft einzuflößen,« fuhr er mit frechem Gelächter fort.

»Was liegt Ihnen an der Ursache, die mich zum Handeln bestimmt, wenn ich nur zu Ihrem Vortheil handle? Morgen sollen Sie Ihr Geld haben; ist das nicht. Alles, was Sie bedürfen?«

»Es ist so gut gesagt, daß es gedruckt zu werden verdiente.«

– Dann rief er, als ob ihm ein plötzlicher Gedanke eingefallen wäre: »In welchem Alter sind Sie?«

Der junge Mann begriff oder sah die Frage vorher und schauderte.

»Im sechsundzwanzigsten Jahre,« antwortete er.

Seine männliche Physiognomie gestattete ihm, sich um einige Jahre älter zu machen, so daß das Alter, welches er sich beilegte, als wahrscheinlich erschien.

»Sechsundzwanzig Jahre; da kann es nicht sein, wie ich dachte,« murmelte Pierre Manas leise, doch nicht so leise, daß unser Marius es nicht hörte.

Dann blieb der alte Bandit einige Minuten nachdenkend.

Während dieses Nachdenkens des Bettlers empfand der junge Mann eine heftige Seelenqual.

Er fragte sich, ob er, so verhärtet durch Verbrechen der Urheber seines Lebens auch sei, das Recht habe, ihn zu verleugnen, sich einen Liebkosungen zu entziehen, kurz zu schweigen; war es nicht möglich, daß die Seele des Pierre Manas, wenn er seine Frau und seinen Sohn wiederfände, sich neuen Gefühlen öffnen könnte? Seine Stellung, als er das Alter dessen, mit dem er sprach, mit dem Alter verglich, in welchem sein verlassener Sohn stehen mußte, bewies, daß noch nicht alles Vatergefühl in ihm erloschen sei; war es nicht erlaubt, zu glauben, daß man mit diesem Hebel diese so tief gefallene Seele wieder aufrichten könne? Einen Augenblick gerieth Marius in Versuchung, sich ihm zu Füßen zu werfen und ihm zuzurufen: »Mein Vater!«

Aber die Erinnerung an Milette kam ihm wieder in den Sinn. Er sah die Folgen vorher, welche diese Anerkennung für sie haben könne; er willigte ein, sich selbst aufzuopfern, aber er konnte sich nicht entschließen, seine Mutter vielleicht unnöthigerweise aufzuopfern.

»Woran denken Sie?« fragte er fast zärtlich Pierre Manas, als er sah, daß dieser noch fortwährend schwieg.

»Ei! zum Henker!« versetzte brutal der Bandit, »woran ich denke, mein Knäbchen? Ich denke an das Mittel, welches Du anwenden könntest, um mir dieses Geld zukommen zu lassen; denn Du hast es vermuthlich nicht bei Dir.«

Alle Täuschungen des jungen Mannes hinsichtlich der moralischen Besserung des alten Verbrechers verschwanden bei diesen Worten.

»Nein,« antwortete er trocken; »aber Sie dürfen mir nur sagen, wo ich Sie morgen auf den Hügeln treffen kann, und ich will Ihnen selber dieses Geld bringen.«

»Ah! ich sehe, wohin Sie kommen wollen, mein Schelm,« antwortete Pierre Manas; »Sie wollen mich einfangen lassen, nicht wahr? Gestehen Sie es sogleich.«

»Wenn dies meine Absichten wären, Unglücklicher,« antwortete der junge Mann, »so haben Sie erkannt, daß ich stärker bin, als Sie; ich dürfte Sie also nur bei der Kehle nehmen und Sie so festhalten, bis die Zollbeamten, die ich abrufen kann, herbeigekommen.«

»Es ist wahr; aber beim Teufel! warum sind Sie denn so gut gegen mich gesinnt?«

»Dies ist nicht die Frage. Zu welcher Stunde werde ich Sie morgen auf den Hügeln finden?«

»O! nicht auf den Hügeln. Nach der kleinen Affaire von diesem Abend ist es ein Kaninchengehege, worauf sie alle ihre Frettwieselloslassen werden; ich will es lieber mit Marseille versuchen. Wenn Sie also das Unrecht wieder gut machen wollen, welches Sie mir angethan, indem Sie mich genöthigt, beiläufig den Schelm zu tödten, welcher mich gestört, als ich in dem Zimmer Ihrer guten Freundin beschäftigt war, so werden Sie mich morgen zwischen zwölf und ein Uhr auf dem neuen Platze finden.«

»Auf dem neuen Platze am Hafen?« rief Marius erstaunt, daß Pierre Manas daran dachte, sich an dem besuchtesten Orte von Marseille zu zeigen.

»Ei! ohne Zweifel,« antwortete dieser; »es ist die Stunde, wo der Platz mit Packträgern und Matrosen angefüllt ist. Nur wenn der Fisch allein ist, kann man ihn leicht fangen.«

»Es sei,« antwortete Marius, »also morgen zwischen zwölf und ein Uhr.«

»Sie haben wohl etwas Geld bei sich,« sagte Pierre Manas dann mit dem schleppenden und näselnden Tone des Bettlers; »geben Sie es mir, mein Täubchen, das wird mir ein wenig Geduld einflößen.«

Marius zog seine Börse aus der Tasche und ließ sie zu den Füßen des Mörders fallen.

Dieser hob sie auf und wog sie in der Hand.

»Ah! zum Henker!« sagte er mit einem Seufzer, »sie ist lange nicht so schwer, wie es die der Demoiselle war. Offenbar war es eine angenehmere Bekanntschaft, als die Ihrige, mein Täubchen; jetzt müssen Sie sich zuerst entfernen.«

»Adieu!« sagte Marius, der kein anderes Wort in seiner immer mehr verzweifelten Seele finden konnte. »Noch nicht Adieu, zum Henker! Auf Wiedersehen, und zwar auf morgen. Verkaufen Sie mich nicht; Sie haben gesehen, daß ich das Messer ziemlich hübsch zu handhaben weiß, und wenn Sie versuchen, mich zu verrathen, und wären Sie auf dreißig Schritte Entfernung und zwischen zehn Gensdarmen, so schwöre ich Ihnen, in Ihr Herz zu treffen.«

Von Schmerz erfüllt, entfernte sich Marius so rasch, daß er nur die Hälfte von den Drohungen hörte, die der Bettler in Form des Dankes an ihn richtete.

Uebrigens kam ein verwirrter Lärm von dem Dorfe her; Fackeln und Laternen verbreiteten um die Sennhütte ihren düsteren und dampfenden Schein. Dieses Schauspiel der allgemeinen Aufregung erinnerte den jungen Mann an Madeleine, und der Gedanke an diejenige, welche er liebte, gab ihm ein wenig Muth wieder. Obgleich die Unterredung, die Milettens Sohn eben mit seinem wirklichen Vater gehabt, die unbestimmten Hoffnungen, die er vielleicht noch in Betreff der so sehnlichst gewünschten Verbindung hegte, aus seinem Herzen verbannt hatte, so fühlte sich doch dieses Herz nicht weniger erfrischt, als er von dem Schauspiele dieser Erniedrigung zu der traurigen und letzten Pflicht, die ihm zu erfüllen übrig blieb, überging, das heißt, das Mädchen, welches er liebte, zu trösten, ehe er sie auf immer verließ.

Er beeilte also einen Schritt.

Als er sich näherte, erkannte er mit Ueberraschung, daß all’ dieses Geschrei nicht aus dem Garten der Sennhütte ertönte, und daß sich dort nicht alle diese Lichter bewegten, sondern auf der Besitzung des Monsieur Coumbes.

Er drang mit vor Aengstlichkeit klopfendem Herzen in die Cabane ein, indem er sich mit einiger Mühe einen Weg durch die Gruppen der Bewohner von Montredon bahnte, die viele Bemerkungen über den Mord machten, wovon ihr Ort eben der Schauplatz gewesen; dann trat er in das Haus ein.

Die beiden unteren Zimmer waren mit Fremden und Polizeiagenten angefüllt. Auf dem Rande des Divan saß Monsieur Coumbes, den Kopf geneigt, blaß, stumm, unbeweglich, als wäre er vom Blitze getroffen, die beiden Hände mit Handfesseln versehen, zwischen zwei Gensdarmen,

Fünftes Kapitel
Ohne Jemand retten zu wollen, vollendete Monsieur Coumbes doch seinen Kreuzgang

Wir wollen einige Schritte zurückthun und erklären, was geschehen ist. Monsieur Coumbes hatte vermuthet, wenn Marius in den Garten der Riouffes eindringe und dort den Bruder, den er nicht suchte, anstatt der Schwester treffe, die er suchte, so würden Erklärungen, Drohungen und Beleidigungen daraus erfolgen, welche das kriegerische Verhältniß erneuern würden, welches geherrscht, ehe die Liebe gekommen, wie der ehemalige Packträger sagte, und die Angelegenheiten vollends verwickelt habe; er rechnete darauf, daß in Folge des Streites, der nicht ausbleiben konnte, die verhaßten Heirathspläne der beiden jungen Leute natürlich aufgegeben werden müßten.

Als ein wahrer Capuletti wies Monsieur Coumbes jede Verbindung eines der Seinigen mit den Montechi’s zurück. Die dramatische Verwickelung, die auf das harmoniche Einverständniß folgen sollte, welches ihm zum Trotz zwischen den beiden jungen Leuten eingetreten war, erfreute ihn schon zum voraus, und in der That, diente diese Verwickelung seinem eingewurzelten Hasse gegen das Haus Riouffe; dann schmeichelte diese Verwickelung auch angenehm seiner Eigenliebe. So kindisch diese Combinationen waren, welches auch die Rolle war, die der Zufall in ihrer geschickten Gruppierung übernehmen mußte, so war doch Monsieur Coumbes nicht weniger zufrieden gestellt von der politischen Tiefe, womit er sein Gewebe gezogen und den Brief Madeleinens verleugnet hatte; er hatte sich dennoch für einen Bramarbas gehalten, jetzt betrachtete er sich als einen Nebenbuhler der Talleyrand und Metternich; seine Eitelkeit, getäuscht durch die Mißernten seines Gartens, fühlte sich durch alle kleinen Baumzweige entschädigt, die ihm in die Hände fielen.

Aber wie Jeder weiß, ist ein Triumph nur unter der Bedingung vollständig, wenn man ihn in Person genießt. Nachdem Monsieur Coumbes sich selber diesen Grundsatz gebildet hatte, verzichtete er für diesen Abend darauf, sein Fahrzeug aufs Wasser zu bringen, und hatte sich entschlossen, ein unsichtbarer, wenn auch nicht gleichgültiger Zuschauer von der Scene zu sein, die er voraussah, und die er so geschickt hervorgerufen hatte.

Als ihn Alle auf dem Meere glaubten, hatte er im Gegentheile einen Felsvorsprung erklettert, von wo er den Garten seines Feindes übersehen konnte, und er wartete mit jener Geduld, deren glückliches Vorrecht ihm zwanzig Jahre der Uebung in der Kunst der Angelfischerei gesichert hatte.

Auf diesem Posten begann indessen die Leidensgeschichte des Monsieur Coumbes nicht, die wir in der Ueberschrift des gegenwärtigen Kapitels angekündigt; die ersten Augenblicke, die er auf der Spitze eines Felsens mit der Beobachtung zubrachte, erschienen ihm selbst ziemlich angenehm. Seine Phantasie hatte das Gebiß zwischen die Zähne genommen, wie das Pferd des Don Quixote; er ritt unter rosen- und azurfarbigen Wolken. Wenn die Einbildungskraft einmal auf das Gebiet des Traumes gekommen ist, hält sie nicht mehr an; Monsieur Coumbes sah die Zerstörung der Sennhütte, eines Carthago; er zweifelte fast nicht mehr, daß Monsieur Jean Riouffe, wenn er die Pläne der Mißheirath seiner Schwester erfahre, diese zwingen werde, ihre Wohnung zu verlassen, und er sah schon die Dornen und Disteln von dem Nordwestwinde bewegt, welche auf den Ruinen dieser verabscheuten Mauern hervorsprossen würden.

Während er sich dieser lachenden Aussichten erfreute, kletterte zuerst Pierre Manas, der sich bisher in dem Fichtenwalde verborgen gehalten, über die Mauer, um den Einbruch zu beginnen.

Wir haben es den Banditen unserem Marius selber erzählen hören; die Thüre des Bureau des Hauses Riouffe und Schwester hatte sich dann für ihn ein wenig geöffnet, und er hatte von Pyramiden von Banknoten und von Cascaden von Gold und Silber gehört. Zum Unglück hatte er die Auskunft bekommen, daß ein Commis, ein wilder Drache, diesen Garten der Hesperiden bewache, daß ein Portier und ein Bureaudiener im Bereiche der Stimme schliefen, bereit, dem Commis mit bewaffneter Hand zu Hilfe zu kommen. Pierre Manas hatte sich also auf die Sennhütte beschränkt, indem er vermöge der Logik eines Geistes schloß, daß ein so breiter Metallstrom seine Nebenflüsse haben müsse. Nun aber war Pierre Manas voll Philosophie: er begnügte sich also damit, aus den Nebenflüssen zu trinken, da er nicht aus dem Hauptstrome trinken konnte. Der Vortheil der Sache mußte geringer sein, aber die Gefahren waren auch geringer; der Bandit glaubte auf’s Genaueste zu wissen, daß Mademoiselle Riouffe in ihrer Sennhütte zu Montredon mit ihrer Magd allein sei, und er hatte darauf gerechnet.

In der That ging das Unternehmen zu Anfang zum Entzücken. Pierre Manas öffnete ohne Geräusch die Glasthüre, die von dem Parterre in den Garten führte, zog seine Fußbekleidung aus, nahm seine Schuhe in die Hände, stieg die große Treppe hinauf und schlich sich in das Zimmer, an dessen Fenster er am Abend vorher Mademoiselle Riouffe erkannt hatte, und welches, wie er sogleich vermuthet hatte, das des jungen Mädchens war. Eine wohlgefüllte Börse, die er sich aus der ersten Schublade, die er öffnete, aneignete, bewies ihm, daß er sich nicht geirrt. Zum Unglück, wenn man eine gute Speculation gemacht hat, will man sie immer noch besser machen. So war es auch diesmal: indem er umhertappte, kamen die Hände des Pierre Manas mit einem Secretair in Berührung, der ihm beim bloßen Antasten eine wahre Goldmine zu enthalten schien; seine Finger zuckten und theilten seinem Gehirn einen Schwindel mit; er hatte wohl an der Ecke des Hauses ein erleuchtetes Fenster gesehen, aber er vermuthete, daß dieses Fenster das des Zimmers sei, wo die Dienerin schlief; dann rechnete Pierre Mamas auf eine erprobte Geschicklichkeit. Wenn dieses Frauenzimmer unglücklicherweise hereinkommen sollte, desto schlimmer für sie; warum mischte sie sich auch in Dinge, die die Nichts angingen? Pierre Manas hatte in diesem Falle sichere Mittel, ihr Schweigen aufzuerlegen: er nahm einen Meißel aus seinem Arsenal und übte einen starken Druck auf die Klappe des lockenden Secretairs. Dies war kein Möbel, welches sich ohne Geräusch verletzen ließ; seine Bretter gingen mit einem furchtbaren Krachen auseinander, und Jean Riouffe, welcher las, indem er die Rückkehr seiner Schwester erwartete, erschien anstatt der Dienerin, welche Pierre Manas erwartete.

Das Geschrei des Bruders Madeleinen’s, als der Bandit ihn zweimal mit seinem Messer traf, gelangte nicht direct bis zu Monsieur Coumbes, dessen Observationsposten, wie wir gesagt haben, sich hinter dem Hause befand; er hörte nur ein gewisses Geräusch, welches irgend einen Streit ankündigte. Er stellte sich vor, daß der Kampf hitzig sei; sein Interesse verdoppelte sich, er spitzte aufmerksamer die Ohren, und das war Alles. Aber einige Augenblicke später, als Marius die Spuren des Mörders verfolgte, gab das Gefühl der Gefahr, welcher ihr Bruder ausgesetzt war, Madeleine ihre Kraft wieder; sie stürzte auf das Haus zu, indem die Dienerin und der Kutscher, die sie mitgebracht, ihr folgten.

Ein schreckliches Schauspiel erwartete sie in der ersten Etage. Jean Riouffe lag in seinem Blute schwimmend am Boden in Madeleinen’s Zimmer. Das junge Mädchen konnte ein solches Schauspiel nicht ertragen, sie fiel bewußtlos auf den Körper ihres Bruders, ohne zu bemerken, daß er noch athmete. Die Dienerin und der Kutscher eilten auf den Balkon, der Eine rief Mord, die Andere schrie um Hilfe. Bei diesem Geschrei, welches ankündigte, daß die Komödie in eine Tragödie ausgeartet sei, begann Monsieur Coumbes sich viel weniger zu ergötzen, als er es beabsichtigt hatte. Es war ihm nicht der Gedanke gekommen, daß das Zusammentreffen der beiden jungen Leute so beklagenswerthe Folgen haben könne.

Er glaubte einen Kampf, ein Duell wenigstens gesäet zu haben, und siehe da, er erntete einen Mord. Er hoffte eine Prahlerei in diesem Zusammentreffen und mit der Rolle des Zeugen, wohl verstanden, in ein helles Licht stellen zu können, wovon er so laut und so oft gesprochen, daß er endlich daran glaubte. Aber die zweifelhafte Tapferkeit des Monsieur Coumbes wurde sogleich Lügen gestraft, was ihm auf immer seine marseiller Prahlerei verleidete.

Als er die Dienerin den Leuten von Montredon, welche herbeiliefen, zurufen hörte:

»Man hat Monsieur Riouffe ermordet!« empfand er das erstarrende Gefühl, welches ein Reisender empfinden muß, welcher sich in den Alpen verirrt hat, wenn eine Schneelawine auf seinen Kopf niederfällt; ein kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, seine Haare sträubten sich, seine Zähne klapperten laut, seine schwankenden Kniee wichen unter ihm; er glitt den steilen Abhang hinunter, auf dessen Gipfel er sich niedergelassen, und rollte bis in die Tiefe.

Dieser Fall, die Erschütterung, die darauf folgte, die Verletzungen, die der kostbaren Haut des Monsieur Coumbes verursacht wurden, indem er die Unebenheiten des Felsens berührte, vollendeten die Verwirrung seiner Ideen. Von einem panischen Schrecken ergriffen, erhob er sich, vergaß, seinen Hut aufzuheben und entfloh so schnell in der Richtung einer Cabane, wie seine Gemüthsbewegung es ihm gestatten konnte.

Seine Aufregung war so heftig, daß er die Zollbeamten nicht sah, welche auf zwei Schritte an ihm vorüberkamen, indem sie ihren Posten verließen, um auf den Schauplatz zu laufen, wo eben die schreckliche Katastrophe geschehen war. Aber dagegen bemerkten die Zollbeamten, die selber keinen Grund hatten, verstört zu sein, diesen Mann, welcher mit bloßem Kopfe, schnaubend und außer Athem von der Seite herbeigelaufen kam, wo aller Wahrscheinlichkeit nach eben ein Mord begangen worden war.

Dieser Mann konnte. Niemand anders als der Mörder sein: sie begannen ihn also zu verfolgen. Als Monsieur Coumbes sich verfolgt sah, verdoppelte er seine Anstrengungen, und da die Aufregung seines Laufes eine Verwirrung noch vermehrte, berührte er seine Thüre mit jener Trunkenheit des Schiffbrüchigen, welcher Rettung findet, als er nur den Tod erwartete. Er überschritt die Schwelle und schloß fiel mit Heftigkeit vor der Nase der Zollbeamten, die schon die Hand ausstreckten, um ihn zu ergreifen. Ein Fußstoß stürzte dieses zu gebrechliche Vertheidigungsmittel ein und die Agenten der Staatsgewalt faßten den Kragen des ehemaligen Packträgers in dem Augenblick, als dieser strauchelte, indem er an den Fuß der Leiter anstieß, welche Marius an die Mauer angelehnt hatte. Bei der Berührung der rohen Hände, die ihn in seinem Laufe aufhielten, verlor Monsieur Coumbes die wenige Vernunft, die ihm der Schwindel gelassen. Er warf sich den Zollbeamten zu Füßen, rang die Hände und rief:

»Gnade, Gnade, meine Herren! ich will Ihnen Alles sagen, ich will den Mörder angeben.«

Mehr bedurfte es nicht. Die, welche ihn gefangen genommen hatten, gingen vom Zweifel zur Gewißheit über. Ungeachtet des Geschreies und der Betheurungen des unglücklichen Monsieur Coumbes band man ihm die Hände. Hierauf kamen die Nachbaren herbeigelaufen; unter ihnen befanden sich die Gäste des Kaffeehauses zu Bonneveine, wo Monsieur Coumbes eine übertriebenen Prahlereien vorgetragen. Auch war die unabänderliche Antwort dieser, als man ihnen sagte, daß Monsieur Coumbes Monsieur Jean Riouffe getödtet habe: »Das wundert uns nicht; wir wußten wohl, daß die Geschichte so enden würde.«

Monsieur Coumbes amüsierte sich also immer weniger, und in Wahrheit nicht ohne Grund. Indessen erholte er sich ein wenig von dieser entsetzlichen moralischen Ermattung. Der Einfluß des häuslichen Heerdes auf ähnliche Organisationen, wie die des Monsieur Coumbes, ist beträchtlich. Wie groß auch die Schwäche sei, welche ihnen eigen ist, so finden sie doch eine gewisse Stärke, wenn sie in den Kreis zurücktreten, den das Gesetz und das Gefühl heiligen. Die Mauern, wovon sie jedes Einzelne kennen, die sie vor der Sonne, vor dem Regen, vor dem Ungewitter geschützt, theilen diese belebende Energie, welche die Erde dem Antäus gab: sie werden fähig, sie zu vertheidigen. Todtenblaß, mit erloschenen Augen, mit unterdrücktem Athemzuge sah Monsieur Coumbes wie durch ein Gewölk, was um ihn her vorging. Ein unbedeutender Umstand im Vergleich mit den Ereignissen, deren Opfer er eben geworden war, machte, daß er seine Sinne und die Stärke sich zu vertheidigen wiederfand. Durch die Thüre, welche die Abundzugehenden halb offen gelassen, erblickte er einen jungen Neugierigen, der, um die Scene zu beherrschen und den Verbrecher nach Gefallen zu betrachten, sich an einen Ast des famosen Feigenbaumes hing, welcher sich unter der Last des kleinen Burschen bog und beinahe zerbrochen wäre.

Dieser Angriff auf sein Eigenthum erschien ihm entsetzlicher, als die Verachtung und üble Behandlung, deren Opfer er war.

»Ah! böser Affe!« rief er, »wenn Du nicht augenblicklich heruntersteigt, verspreche ich Dir eine reichliche Zutheilung von Schlägen! Entferne Dich von dort, sage ich Dir.«

Dann wendete er sich zu Denen, die ihn bewachten, und sagte:

»Es ist eine Schande, einen Unschuldigen so zu binden, wie Sie es thun, während der ganze Pöbel des Landes sein Eigenthum verwüstet und eine Bäume zerbricht.«

Dieser Ausdruck »Pöbel« veranlaßte ein lebhaftes Gemurmel unter der Versammlung.

Man dachte nicht daran, den loszulassen, der ihn aussprach, obgleich Milette verzweiflungsvoll ihre Bitten zu den Vorstellungen ihres Herrn hinzufügte. Diese kleine Explosion des Zornes machte auf Monsieur Coumbes die Wirkung, die ein Aderlaß auf einen Verwundeten hervorbringt; sie erfrischte sein Gehirn und er begann seine Lage richtiger anzusehen. Er zitterte noch immer; er war nicht mehr wie ehemals im Stande, die Aufregung seines Nervensystems zu unterdrücken. Aber anstatt vergebens seine Bitten zu verschwenden, begann er wahrscheinliche Gründe für seine Unschuld anzugeben und sprach zum ersten Mal den Namen Marius aus. Wenn Milette von Schrecken ergriffen wurde, als sie von der schrecklichen Beschuldigung hörte, die gegen ihren Herrn erhoben wurde, so kannte ihre Verzweiflung keine Grenze, als sie hörte, wie Monsieur Coumbes die ganze Verantwortlichkeit des Verbrechens auf den jungen Mann warf.

Diese Verzweiflung gab sich bei ihr nicht durch Geschrei und Thränen kund, wie es bei einer Frau aus dem Norden hätte geschehen können. Nein, ihre ruhige und sanfte Physiognomie wurde drohend, ihre Augen füllten sich mit Blitzen, ihre Nasenflügel erweiterten sich, ihre Lippen bebten, sie vergaß in einem Augenblick die zwanzig Jahre der respektvollen Untergebenheit, in welcher sie gelebt hatte, so wie ihre tiefe Zuneigung und Erkenntlichkeit für Monsieur Coumbes, öffnete sich einen Durchgang durch die dreifache Reihe von Neugierigen, welche diesen Letzteren umgaben, stellte sich in der Mitte des Kreises vor ihn hin und rief, als hätte sie ihren eigenen Ohren nicht getraut:

»Im Namen Gottes, unseres Herrn, was sagen Sie da, mein Herr? Wiederholen Sie es, ich muß nicht recht gehört haben.«

Monsieur Coumbes senkte seine Stimme bei dieser Frage, die dem Ausbruch des mütterlichen Unwillens voranging; der menschliche Respect und der moralische Sinn kämpften einen Augenblick gegen seinen Egoismus an; aber der Instinct der Selbsterhaltung, so mächtig bei ihm, gewann schnell die Oberhand.

»Meiner Treu!« sagte er, »jeder für sich in dieser Welt. Wenn er sagt, er hat ihn in einem Streite getödtet, wird er sich in eine Untersuchung verwickeln; es ist seine Sache, und nicht die meine. Marius ist am Ende nicht mein Sohn.«

Monsieur Coumbes sah Milette starr an, als er diese letzten Worte sprach; er hoffte, daß die Scham des Weibes der Mutter Schweigen auferlegen werde.

»O nein, er ist nicht Ihr Sohn,« versetzte Milette außer sich und mit volltönender Stimme, »und weil er nicht. Ihr Sohn ist, würde er, welches Verbrechens man ihn auch beschuldigte, nicht so feig sein, dieses Verbrechen auf einen anderen Unschuldigen zu schieben. Nein, er ist nicht. Ihr Sohn, und weil er nicht Ihr Sohn ist, hat er zu viel Herz, um seinen Nächsten zu ermorden, sei es nun mit dem Messer oder mit Worten.«

Monsieur Coumbes machte eine Bewegung bei jeder dieser Ausrufungen, als hätte ihn jede ins Gesicht getroffen. Aber als Milette ausgeredet hatte, brüllte er: