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Buch lesen: «Die Cabane und die Sennhütte», Seite 11

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Drittes Kapitel
Das Geständniß

Als Marius die Cabane wieder erreichte und seine ohnmächtige Mutter auf seinen Armen hineintrug, war Monsieur Coumbes noch nicht zurück.

Er legte sie auf den großen Divan nieder, der ihr als Bett diente, und suchte sie wieder zu sich zu bringen.

Nach einigen Minuten öffnete Milette die Augen; aber ihr erster Gedanke galt nicht ihrem Sohne; ihre Glieder zitterten krampfhaft, ihre Zähne klapperten, ihre schreckenvollen Blicke schweiften über alle Theile des Zimmers dahin. Sie suchten dort Jemand, und zu gleicher Zeit zitterte die arme Frau vor Schrecken, ihn dort zu erblicken.

Als sie sich überzeugt hatte, daß Marius allein sei, fuhr sie mit der Hand über ihre Stirn, als wollte sie ihre Erinnerungen zurückrufen, und als sie sich klarer und deutlicher in ihrem Kopfe darstellten, brachen die Thränen wieder hervor und ihr Schluchzen verdoppelte sich.

»Sie bringen mich zur Verzweiflung, Mutter!« rief Marius. »Es scheint mir, als ob Alles, was vorgeht, ein Traum ist. Ich suche vergebens und kann nicht entdecken, was Ihren Geist auf diese Weise zerrüttet.«

»Die Hand Gottes! die Hand Gottes!« wiederholte Milette, als ob sie mit sich selber redete.

»Sammeln Sie Ihre Gedanken, Mutter, ich beschwöre Sie! Beruhigen Sie sich.«

»Die Hand Gottes!« sagte wieder die arme Frau.

»Sie wollen also, daß ich auch den Verstand verliere?« rief der junge Mann sich die Haare ausraufend. »Erklären Sie mir dieses Geheimniß. Warum zittern Sie, vielgeliebte Mutter? Worin besteht dieser Fehler, wovon Sie so eben sprachen? Von welcher Art er auch sein möge, ich werde die Last mit Ihnen tragen; wenn es eine Schmach ist, wollen wir sie mit einander theilen und ich werde Sie nicht weniger segnen. Sagen Sie, Mutter, warum lagen Sie zu meinen Füßen, als dieser Elende uns störte?«

Diese Erinnerung an den Bettler verdoppelte Miletten’s Qualen; sie faltete die Hände und erhob sie mit einem Ausdruck unaussprechlicher Verzweiflung zum Himmel.

»Warum hast Du es zugegeben, mein Gott? Warum hast Du es zugegeben?« rief sie; »und Du, mein armes Kind, was hast Du gethan?«

»Womit beschäftigen Sie sich, meine Mutter? Ich habe einen unverschämten Kerl hinausgetrieben, der, zum Lohn für einen Dienst, den ich ihm geleistet, sich nicht entblödet hat, Sie zu beleidigen, das ist Alles. Lassen Sie sehen, wir haben nur noch sehr wenig Zeit für uns. Der Vater kann jeden Augenblick zurückkehren. Beeilen Sie sich, Mutter, damit ich Sie tröste, beeilen Sie sich, damit ich mit Ihnen leide. Was ist geschehen? Reden Sie.«

»Ah! Du weißt nicht, was es einer Mutter kostet, vor ihrem Kinde zu erröthen. Aber dieser Mann, der eben gekommen, dieser Unglückliche, sage mir, was ist aus ihm geworden?«

»Ei! was liegt Ihnen daran? Um Sie handelt es sich, und nicht um ihn, liebe Mutter.«

Milette antwortete nicht; sie verbarg ihr Gesicht zwischen ihren Knieen.

Das Schweigen der armen Milette vermehrte die Aengstlichkeit des jungen Mannes, indem es eine Ungewißheit verdoppelte. Er hatte weder den Respekt, noch die Zärtlichkeit übertrieben, die er für die empfand, welche ihm das Leben gegeben. Ernster, nachdenkender, als man es gewöhnlich in seinem Alter ist, hatte er die Größe dieses so bescheidenen und demüthigen Lebens schätzen können; er hatte sie bewundert, wie er ihr in der stoichen Resignation nachgeahmt, mit welcher sie sich der wunderlichen Laune desjenigen gefügt, welchen er für seinen Vater hielt, in der engelgleichen Milde, mit welcher sie die Grillen dieses Letzteren ertrug. Milette war für ihren Sohn eine Heilige, der Verehrung der ganzen Erde würdig; er konnte sich nicht vorstellen, welche Handlung diese Seele, bis dahin so ruhig und so rein, in diesem Grade beunruhigen konnte.

Aber bei diesem Schweigen fielen ihm, als er von dem Bettler sprach, als er sich des heftigen Eindrucks erinnerte, den die Erscheinung desselben auf seine Mutter hervorgebracht, einige Worte wieder ein, die während des Kampfes zu seinen Ohren gedrungen waren, und er begann zu denken, daß dieser Mann wohl an dem Unglücke, welches Milette niederbeugte, Antheil haben könne, und vermöge einer instinctmäßigen Scham versuchte er sie nicht weiter zu befragen.

Er setzte sich auf den Rand des Divans, nahm die Hand seiner Mutter in seine Hände, und so blieben. Beide einige Sekunden stumm und unbeweglich sitzen.

Die arme Frau brach zuerst dieses Schweigen, welches ihr endlich noch schwerer zu ertragen war, als Marius.

»Es war also nicht das erste Mal, daß Dir dieser Mann begegnet ist?« sagte Milette mit zitternder Stimme.

»Nein, Mutter, schon ein Mal; ich traf ihn auf den Hügeln.«

Dann erzählte Marius seiner Mutter, was er für den Bettler gethan, indem er ihr den Antheil, welchen Mademoiselle Riouffe an dieser Handlung der Menschenliebe genommen, und die Gegenwart dieser auf dem Vorgebirge verschwieg.

»Der arme Unglückliche,« murmelte Milette, als er ausgeredet hatte.

»Kennen Sie ihn, liebe Mutter?« sagte Marius schaudernd. Die Frau des Pierre Mamas zauderte einen Augenblick; sie sammelte allen ihren Muth, aber sie fand nicht genug in ihrer Seele, um das Entsetzen zu überwinden, welches ihr dieses Geständniß verursachte: sie schüttelte verneinend den Kopf.

Marius konnte nicht glauben, daß je eine Lüge aus dem Munde seiner Mutter kommen könne; er seufzte tief als wäre ein Herz von einer schweren Last befreit worden.

»Nun, desto besser,« sagte er, »denn was heute geschehen ist, bestätigt meinen Verdacht von neulich, und ich bin fest überzeugt, daß ich, indem ich ihn rettete, der Gesellschaft einen sehr schlimmen Dienst geleistet.«

»Marius!«

»Und daß dieser vorgebliche Bettler nur ein Bandit ist.«

»Marius!«

»Im Begriff, ein neues Verbrechen zu begehen.«

»O! schweig, schweig!«

»Warum sollte ich schweigen, Mutter?«

»O! wenn Du wüßtest, wen Du schmähst! Wenn Du wüßtest, an wen Deine Worte sich richten!« rief Milette bestürzt.

»Liebe Mutter, wer ist dieser Mann? Nennen Sie ihn – es muß sein. Da es sich um unsere Ehre handelt, welche ich allein das Recht habe, zu vertheidigen, so ist es mir erlaubt zu gebieten, und ich gebiete!«

Dann erschrocken über die Bestürzung, womit Millette die gewöhnlich zärtliche Stimme ihres Sohnes strenge und drohend werden hörte, fuhr dieser fort:

»Nein, ich gebiete nicht; meine Bitten und meine Thränen, sind sie nicht allmächtig für Sie? Ich weine und flehe. Ich werfe mich meinerseits zu Ihren Füßen und beschwöre Sie. Mutter, erklären Sie mir, durch welchen entsetzlichen Zufall kann irgend eine Beziehung zwischen Ihnen, so verständig, so anständig, so tugendhaft, und diesem scheußlichen Menschen vorhanden sein?«

»Du sollst. Alles hören, mein Kind; aber schweig, ich bitte Dich noch ein Mal darum; sprich nicht so. Du sagtest mir noch eben: eine Mutter ist ein göttliches Wesen für ihr Kind; wie jenes ist sie unfehlbar. Nun, Marius, auch diesen Mann mußt Du beklagen und sein Elend erleichtern; das Unrecht, welches er begangen haben mag, darauf hast Du nicht das Recht, die Augen zu richten; von seinen Verbrechen mußt Du ihn freisprechen; verabscheuenswürdig für die Welt, muß er für Dich geheiligt bleiben, dieser Mann.«

»Liebe Mutter!«

»Dieser Mann ist Dein Vater, Marius!«

Diese letzten Worte erstarben auf Miletten’s Lippen, welche darnieder geschmettert auf den Divan zurückfiel, nachdem sie dieselben ausgesprochen. Marius war todtenblaß geworden, als er sie gehört; er blieb einige Augenblicke wie vernichtet; dann warf er sich Miletten um den Hals, schloß sie in seine Arme, drückte sie an sein Herz, bedeckte ihr Gesicht mit Liebkosungen und Thränen, und rief:

»Sie sehen wohl, meine Mutter, daß ich Sie noch liebe!« —

Einige Augenblicke hörte man nur das Geräusch der Küsse und das Schluchzen der Mutter und des Sohnes. Darauf erzählte Milette Marius, was unsere Leser schon wissen. Als sie diesen traurigen Bericht beendet hatte, häufig von den Krämpfen ihrer Verzweiflung unterbrochen, blieb er nachdenkend an den Divan angelehnt, den Kopf auf seine Hand gestützt, während Milette ihre Stirn auf seiner Schulter ruhen ließ, um sich diesem noch mehr zu nähern, welcher, wie sie fühlte, ihre einzige Stütze werden würde.

»Mutter,« sagte er in ernstem und zärtlichem Tone, »Sie dürfen nicht mehr weinen. Ihre Thränen sind eben so viele Anklagen gegen den, welcher uns dieses schlimme Geschick bereitet hat, und es ist mir nicht gestattet, mich ihm anzuschließen. Ich kann das Schicksal des Pierre Manas, meines Vaters, nur beklagen. Ihre Schuld wird sehr leicht sein, wenn Gott sie in die Wagschale legen wird, worin er alle unsere Handlungen abwägt. Er wird nicht strenger gegen Sie ein, als er es gegen einen Engel sein würde, der wie Sie gefehlt hätte, davon halte ich mich überzeugt. Was Ihren Sohn betrifft, dem Sie alle Schmerzen Ihres Lebens mitgetheilt haben, er achtet und liebt Sie noch hundertmal mehr, als er es vorher gethan, weil er weiß, daß Sie unglücklich sind; fassen. Sie also Muth.«

Marius erhob sich und ging einige Schritte durchs Zimmer.

»Morgen, Mutter,« sagte er, »werden wir zwei Pflichten zu erfüllen haben.«

»Welche?« fragte Milette, die den jungen Mann mit einer fast religiösen Aufmerksamkeit anhörte.

»Die erste wird sein, dieses Haus zu verlassen.«

»Wir wollen abreisen?«

»Sein Sie ruhig, Mutter, über Ihr künftiges Schicksal; ich bin stark und muthig, und bei dem Pflichtgefühl, welches Sie meiner Seele so tief eingeprägt haben, können Sie sich ohne Furcht auf mich verlassen und dürfen von jetzt an nur auf Ihren Sohn rechnen.«

»O! ich verspreche es Dir, mein Sohn.«

»Dann,« fuhr der junge Mann mit dumpfer Stimme fort, »müssen wir den aufsuchen – von dem wir gesprochen haben.«

»O, mein Gott!« rief Milette vor Schrecken erbebend. »Glauben Sie nicht, Mutter, daß ich Sie verurtheilen will, Ihr Schicksal von Neuem mit dem zu vereinen, der so strafbar gegen Sie gehandelt hat. Nein; aber er leidet; er hat keinen Zufluchtsort, kein Brod vielleicht, und er ist mein Vater, und ich muß die Früchte meiner Arbeit zwischen Ihnen und ihm theilen. Dann, wer weiß?« fuhr Marius fort, »werden ihn meine Bitten vielleicht dahin führen, mit einem beklagenswerthen früheren Leben zu brechen und zu einem regelmäßigeren Leben zurückzukommen.«

Marius sprach dies. Alles ohne besonderen Nachdruck, einfach, aber mit einer Energie, die zugleich die Festigkeit und Erhebung eines Charakters offenbarte. Die Bewunderung, die Milette für ihren edlen Sohn empfand, machte, daß sie ihre Schmerzen ein wenig vergaß.

Ein Schmerz blieb indessen scharf und stechend zurück.

Milette hatte nie die socialen Theorien zu ergründen gesucht; aber ohne daran zu denken, was sie that, hatte sie dieselben überwunden. Von ihrem Manne verlassen, hatte es ihr geschienen, als könne die Gesellschaft sie nicht ohne Stütze lassen. Als diese Stütze sich ihr darstellte, glaubte sie so ergeben, so unterwürfig, so treu gegen den sein zu müssen, der ihr die Hand gereicht hatte, wie sie es in der von Gott und Menschen geheiligten Verbindung gewesen. Daher war sie dahin gekommen, die Unrechtmäßigkeit ihrer Stellung zu bezweifeln. Sie hatte es erst in der letzten Zeit eingesehen, als das Gesetz, welches für Marius die Wohlthaten dieser ungiftigen Verbindung nicht gelten lassen konnte und in ihm Niemand anders sehen wollte, als den Sohn des Pierre Manas, ihr deutlich die Unannehmlichkeiten davon gezeigt.

Aber wenn ihre Vernunft dem einleuchtenden Zeugnisse nachgegeben hatte, war es nicht so mit ihrem Herzen. Milette hatte nie für Monsieur Coumbes, was man Liebe nennt, empfunden. Das Gefühl, welches sie für ihn hegte, läßt sich nur erklären, wenn man es Anhänglichkeit nennt, ein unbestimmtes Gefühl mit wenig schätzbaren und immer verschiedenen Ursachen, aber ein unendlich mächtigeres Gefühl, als das erste, weil es nicht wie jenes diesen Stürmen unterworfen ist, welche Wolken an dem schönsten Horizonte zurücklassen, und weil die Zeit, das Alter und die Gewohnheit es erhöhen und es im Gegensatze zu dem anderen steigern.

Nachdem sie zwanzig Jahre bei ihm gewohnt hatte, kam, ungeachtet der seltsamen Art und Weise, die Monsieur Coumbes in einer Zärtlichkeit zeigte, ungeachtet seines Egoismus, eines thörichten Stolzes, seiner Verachtung, seiner Grillen und seines Geizes, Miletten’s Zuneigung für ihn in ihrer Seele gleich nach derjenigen, welche die ihrem Sohne widmete.

So resigniert sie erschien, drückte sie der Gedanke, das Haus des ehemaligen Packträgers zu verlassen und diesen nicht wiederzusehen, nieder; sie konnte sich nicht vorstellen, daß es möglich sei.

»Aber,« sagte sie furchtsam und nach vielem Zaudern zu ihrem Sohne, »wie sollen wir es machen, Monsieur Coumbes unseren Entschluß mitzutheilen?«

»Ich werde es übernehmen, liebe Mutter.«

»Mein Gott, was wird aus ihm werden, wenn er allein ist?«

Der junge Mann las in der Seele seiner Mutter; er sah, was dieses Opfer ihr kostete.

»Mutter,« sagte er respectvoll aber fest, »ich werde nie vergessen, was ich meinem Wohlthäter verdanke: mein Leben lang werde ich mich erinnern, daß er mich als Kind auf einen Knieen geschaukelt hat; daß ich seit zwanzig Jahren ein Brod gegessen habe; am Abend und am Morgen soll sein Name in meinen Gebeten genannt werden, und ich hoffe, daß Gott mich nicht sterben lassen wird, ohne daß ich bewiesen habe, wie viel Erkenntlichkeit und Liebe für diesen Mann in meinem Herzen ist; aber ich halte es nicht für möglich, daß wir unseren Aufenthalt in diesem Hause verlängern.«

Dann, als er sah, daß Miletten’s Thränen sich bei diesem Ausspruche verdoppelten, fügte er hinzu:

»Es ziemt mir nicht, länger bei Ihren Entschlüssen zu verweilen, meine gute Mutter; ich begreife, daß es Ihnen schmerzlich sein muß, ein Haus zu verlassen, worin Sie so glücklich gewesen sind, um ein ungewisses Dasein zu beginnen; – ich begreife, daß es grausam für Sie sein muß, auf eine Freundschaft zu verzichten, die Ihnen lieb war; ich bin bereit, mich Ihrem Willen zu fügen; fürchten Sie nicht, daß ich murre oder mich beklage. Wenn Sie hier bleiben, werde ich des Glückes beraubt sein, Sie zu umarmen, aber mein Herz wird voll von Ihnen bleiben und ganz Ihnen gehören.«

Milette umarmte ihren Sohn mit einer Begeisterung, welche andeutete, daß sie über ihre Unentschlossenheit und ihr Bedauern gesiegt habe.

»O! liebe Mutter! glauben Sie mir, Sie können nicht mehr leiden, als ich.«

Und sich aus ihren Armen reißend, stürzte er sich aus dem Zimmer, als hätte er seiner Mutter das Schauspiel einer Aufregung entziehen wollen, welcher seine moralische Energie unterlag.

Bis dahin hatte er nicht an Madeleine gedacht.

Aber die letzten Worte seiner Mutter hatten in seiner Seele das Bild des jungen Mädchens hervorgezaubert.

In Gegenwart dieses Bildes hatte sich das Gefühl von der Lage, die ihm bereitet war, seinem Geiste dargestellt.

Als der Sohn, nicht des Monsieur Coumbes, des ehrsamen, geachteten und reichen Bürgers, sondern als der Sohn des Pierre Manas, einmal gewiß, aber vielleicht mehrmals, von der menschlichen Justiz bestraft, konnte er nicht mehr ohne Niedrigkeit oder Thorheit an eine Verbindung mit Mademoiselle Madeleine Riouffe denken.

Dieser Gedanke war es, der ihm eben eine entsetzliche Erschütterung verursachte. Er rollte sich auf dem Sande im Garten, er griff mit den Nägeln in den Boden, er schleuderte seine Verwünschungen und ein Schluchzen in die Nacht hinaus. Der Fall war zu tief und zu unvorhergesehen, um nicht sehr schmerzlich zu sein. Einige Augenblicke konnte er sich keine Rechenschaft ablegen von dem, was in seinem Kopfe vorging; Madeleinen’s Name war der einzige, den eine Lippen aussprechen konnten.

Dann nahmen nach und nach seine Ideen eine bestimmte Richtung und Form an; er erröthete, sich seiner Verzweiflung überlassen zu haben; er beschloß, gegen dieselbe anzukämpfen.

»Ich will ein Mann sein,« dachte er, »und wenn ich leiden muß, will ich als Mann leiden. Ich hatte zu meiner Mutter von zwei Pflichten gesprochen, die wir zu erfüllen hätten; ich finde noch eine dritte auf meiner Rechnung; nämlich Mademoiselle Madeleine die Wahrheit zu gestehen und ihr ihr Wort zurückzugeben.«

Ein letztes Schluchzen unterdrückend, die Thränen zurückhaltend, die gegen seinen Willen noch aus seinen Augen drangen, suchte Marius die Leiter und legte sie an die Mauer.

Als er auf der letzten Sprosse angekommen war, warf er einen Blick auf die Sennhütte: eins von den Fenstern in der ersten Etage war erleuchtet.

»Sie ist da,« sagte er zu sich selbst, und sich auf die Höhe der Mauer setzend, zog er seine Leiter nach sich und ließ sie in den Garten der Mademoiselle Riouffe hinunter, in welchen er entschlossen hinunterstieg, obgleich sein Herz von sehr verschiedenen Gefühlen erfüllt war, als an dem Abend, da er diesen Weg genommen hatte, um sich zu einer ersten Zusammenkunft mit dem jungen Mädchen zu begeben.

Viertes Kapitel
Pierre Mamas schreitet auf seine Weise ein

Die Sennhütte der Mademoiselle Riouffe war mit der Cabane des Monsieur Coumbes parallel gebaut; der Garten umgab sie von allen Seiten; nur hatte dieser Garten eine Ausdehnung von etwa zweihundert Fuß von der Straße aus, das heißt von der Seite der Eingangsfronte des Hauses, während nur vierzig Fuß für den Theil übrig blieben, der nach dem Meere gerichtet war. Die Leiter, deren sich Marius bei seinem nächtlichen Erklimmen bediente, lag gewöhnlich unter einem Schuppen, der an die Cabane angebaut war; der junge Mann stellte fie an einen Theil der Mauer, wo die Zweige des Feigenbaumes eine Operationen ein wenig deckten; aber in der Aufregung, deren Beute er war, dachte er nicht daran, seine gewohnten Vorkehrungen zu treffen, und er legte fie gegen den Winkel der Mauer, welche nach der Küste gewendet war, gerade ein wenig oberhalb der Pforte, die von der Cabane nach dem Meere führte, durch welche Monsieur Coumbes nothwendig passieren mußte, wenn er am Abend zurückkehrte.

Vermöge des gefaßten Entschlusses, diejenige, die er liebte, getreulich in das Geheimniß einzuweihen, welches er eben erfahren, ihr das von ihr erhaltene Versprechen zurückzugeben, ihr nicht die Verzweiflung zu verbergen, welche ihm diese Entsagung so theurer Hoffnungen verursachte, aber zu gleicher Zeit auf stoische Weise seine Pflicht als rechtschaffener Mann zu erfüllen, die, welche er liebte, in dem Entschlusse zu bestärken, welchen ein Geständniß nicht verfehlen könne ihr einzuflößen, hatte er die Absicht, wenn er Madeleine nicht im Garten träfe, wo sie ihn gewöhnlich erwartete, in das Haus einzudringen, um zu ihr zu gelangen. Bei einer fieberhaften Aufregung hatte er es jetzt eben so eilig, diese Trennung zu bewerkstelligen, als er einige Stunden vorher den Wunsch gehegt hatte, ihr die Versicherung zu erneuern, daß Nichts in der Welt ihn bewegen könne, diejenige zu vergessen, welche sich aus eigenem Antriebe mit ihm verlobt hatte.

Als er von der Mauer heruntergestiegen war, ging er also auf die Sennhütte zu, ohne sich die Mühe zu geben, das Geräusch einer Fußtritte auf dem Sande zu mäßigen; aber als er nahe bei dem unteren Stock war, glaubte er hinter den Mousselinvorhängen einen Schatten zu bemerken. Er blieb stehen. Die Dunkelheit war tief; aber gerade deshalb hatte er in diesem von einem inneren Lichte erleuchteten Rahmen erkannt, daß dieser Schatten nicht der Madeleinen’s war. Er bedachte, daß er in seiner Ungeduld und Unruhe vor der Stunde ihrer früheren Zusammenkünfte eingetreten sei, und daß, wenn Madeleine zufällig irgend einen fremden Gast im Hause habe, seine Gegenwart sie in Verlegenheit setzen könne.

Dieser Gedanke änderte den Entschluß unseres Marius und bestimmte ihn, ehe er an die Thüre der Sennhütte klopfte, sich wohl zu versichern, daß Madeleine allein sei.

Aber von dem Punkte aus, wo er sich befand, konnte er nur die Seitenfronte der Wohnung sehen.

Er erreichte also seinen Ausgangspunkt wieder, machte eine Oeffnung in den Cypressen, welche Monsieur Jean Riouffe ursprünglich längs der Mauer gepflanzt hatte, die ihm mit Monsieur Coumbes gemeinschaftlich war, und schlich sich hinter diese doppelte Mauer von Grün und Steinen.

Diesem engen Wege folgend, kam er bis an das Ende des Gartens nach der Seite des Weges von Montredon nach Marseille, dann durchbrach er von Neuem die Mauer von Cypressen und befand sich an der entgegengesetzten Fronte in der Mitte der Gebüsche von Lorbeer und Spindelbaum, welche diesen Theil des Gartens einnahmen.

Die Sennhütte war jetzt vor ihm und er übersah die ganze Fronte, die nach dem großen Wege gerichtet war.

Man hörte kein Geräusch im Innern der Wohnung; nur ein Fenster im ersten Stock war erhellt, aber dieses Fenster gehörte nicht dem Zimmer Madeleinens an.

Marius wußte nicht, was er von allen diesen auf fallenden Erscheinungen denken sollte, und seine schon ungeordneten Gedanken verwirrten sich mehr und mehr.

In diesem Augenblick begann er das dumpfe Rollen eines Wagens zu hören, welcher im Trabe auf dem Wege von Marseille daherkam. Das Geräusch nahm zu und der Wagen hielt vor dem Gitterthore an. Aber die Sennhütte nahm in diesem Augenblick die ganze Aufmerksamkeit des jungen Mannes in Anspruch.

In der That ging etwas nicht weniger seltsames, als was er bis zu diesem Augenblick gesehen hatte, in dem Hause vor.

Er hatte das Licht sich bewegen sehen, welches er gleich Anfangs bemerkt hatte; es fuhr wie der Blitz hinter den Fensterscheiben des Fensters des Corridor dahin, und da dieses Fenster keine Vorhänge hatte, so konnte Marius erkennen, daß das Licht von einem Manne getragen wurde; dann schimmerte dieses Licht einen Augenblick in Madeleinen’s Zimmer, wo es plötzlich erlosch. Dann wurde. Alles finster; aber aus diesem Zimmer kam ein verwirrtes Gemurmel, ein seltsames Geräusch, welches er sich nicht erklären konnte.

Plötzlich wurde eine Scheibe des Fensters zerschmettert, und bei dem unheimlichen Klirren des zerbrechenden Glases erfolgte ein schrecklicher Schrei des heftigen Schmerzes und ein verzweifelter Ruf.

»Madeleine!« rief Marius, aus seinem Versteck hervorstürzend.

»Großer Gott! was geht denn hier vor?« rief von der anderen Seite des Gebüsches eine Stimme, die der junge Mann für die des jungen Mädchens erkannte, für die er zitterte. Es war offenbar Madeleine, die eben aus dem Wagen gestiegen war, das Gitterthor geöffnet hatte und in den Garten eintrat.

Als Marius die Gewißheit erlangt hatte, daß es nicht seine Geliebte war, die von der Gefahr bedroht wurde, vergaß er Alles, selbst diesen Schrei des Schmerzes, der noch die Luft erschütterte, und lief zu ihr.

Als er in den bleichen Lichtkreis trat, den die Laterne des Kutschers warf, war er so bleich, seine Züge waren so verstört, daß Madeleine einen Schritt zurücktrat, als wollte sie bei dem Kutscher und der Kammerjungfer, die sie in diesem Augenblick begleiteten, Schutz suchen. Ein zweiter Schrei, weniger stark, aber schmerzlicher, als der erstere, denn er glich einem Stöhnen, gelangte bis zu der kleinen Gruppe.

»Marius! Marius!« rief Madeleine, »was geschieht denn meinem Bruder?«

»Ihrem Bruder?« rief Marius mit Erstaunen, denn vermöge der Entwendung des Briefes durch Monsieur Coumbes wußte er nicht um die Gegenwart Jean Riouffes in Montredon.

»Ja, ja, meinem Bruder! meinem Bruder! sage ich Ihnen! Er ist es, den man ermordet! Laufen Sie, ich beschwöre Sie, eilen Sie ihm zu Hilfe!«

Marius machte in seiner Bestürzung nur einen Satz in der Richtung der Sennhütte; aber wir haben gesagt, daß die Strecke dorthin beträchtlich war. Er hatte eben den Fuß auf den Grasplatz gesetzt, der unter den Fenstern seinen grünen Teppich ausbreitete, als er an einem der Winkel des Balkons, der das ganze Haus umgab, den Umriß eines Mannes erblickte. Dieser Mann überstieg die Balustrade, hielt sich mit den Händen daran fest, ließ sich hinuntergleiten, beugte sich bis auf den Boden hinunter, erhob sich wieder und verschwand hinter den Cypressen.

»Mörder!« rief Marius.

Und er eilte, den zu verfolgen, welcher offenbar das Verbrechen begangen hatte.

Als der Mörder einmal hinter den Cypressen war, hatte ihn Marius unglücklicherweise aus den Augen verloren; aber er hatte die Zeit, welche der Verbrecher verloren hatte, um sich von der Erschütterung seines Falles zu erholen, benutzt, sich ihm zu nähern; er hörte das Geräusch einer Schritte und ein schweres Athmen.

Sie liefen. Beide in der Richtung weiter, die der junge Mann genommen hatte, als er die Sennhütte beobachten wollte und in der düsteren Allee der Cypressen weiter ging. So kamen sie zu dem Orte, wo Marius sich befand, als der erste Schrei ertönte.

Dort hörte Marius Nichts mehr; aber plötzlich sah er den, welchen er verfolgte, auf der Höhe der Mittelmauer; dann sich anklammernd an die Unebenheiten der Mauer, gelangte er auch mit einiger Anstrengung hinauf. Der Mann war schon in den Garten des Monsieur Coumbes hinuntergesprungen, und als er gerade in gleicher Höhe mit dem Fichtenwalde der Cabane war, sah Marius, wie der Flüchtling sich unter den Fichten versteckte. Ohne einen Augenblick zu verlieren, ließ sich der junge Mann auf den Boden hinunter. Der Fichtenwald war leicht zu durchforschen. Marius durchschritt ihn mit zwei oder drei Sätzen; als er aber, am anderen Ende angekommen, Niemand sah, war er einige Augenblicke unschlüssig und blickte um sich.

Dieser Blick zeigte ihm die Pforte nach der Straße hin weit offen; jetzt zweifelte er nicht mehr, daß der, welchen er verfolgte, diese Richtung genommen habe; er bemerkte in der That einen Schatten, der um die Ecke der Einzäunung der Cabane bog und außerhalb der Pforte weiter eilte.

Dieser Schatten war ihm um die ganze Breite der Einzäunung voraus.

Die Verfolgung begann wieder.

Der Flüchtling hatte den unebenen Boden am rothen Vorgebirge erreicht, wo er sich ohne Zweifel hinter einem Felsen zu verbergen dachte. Marius errieth seine Absicht, und anstatt in gerader Linie auf ihn zuzugehen, nahm er eine schräge Richtung, so daß er seinem Gegner den Weg zum Meere abschnitt.

Nach Verlauf von fünf Minuten erkannte er, daß er im Laufen diesem Manne sehr überlegen sei, und daß er ihn bald erreichen werde.

In dem Augenblicke, als Beide sich in gleicher Höhe befanden und nur von einigen zwanzig Schritten getrennt waren, Marius dem Meere und der Mörder den Häusern näher, blieb dieser Letztere plötzlich stehen. Der junge Mann stürzte sich auf ihn los und rief:

»Ergieb Dich, Elender!«

Aber kaum hatte er fünf oder sechs Schritte zurückgelegt, als eine Art Blitz pfeifend die Luft durchschnitt und die Klinge eines Messers Milettens Sohne in den Schenkel fuhr.

Dieses Messer, welches der Bandit in seinem Aermel verborgen hielt, war eben von ihm wie ein Wurfspieß geschleudert worden. Ohne Zweifel hatte ihn die Anstrengung des Laufes verhindert, sich dieser Waffe mit der den Leuten der Provence eigenen Geschicklichkeit zu bedienen, so daß die Wunde leicht war.

Marius stürzte sich mit solcher Gewalt auf diesen, welcher ihn zu ermorden versucht hatte, daß Beide über den Sand dahinrollten. Mit einer äußersten Anstrengung versuchte der Mann sich aufzurichten; aber die ungewöhnliche Stärke unseres Marius gestattete ihm, seinen hingestürzten Gegner festzuhalten und sich seiner rechten Hand zu bemächtigen, mit welcher er vergebens ein anderes Mordinstrument zu ergreifen versuchte.

»Tod und Hölle!« rief der Mörder, als er sich von der Vergeblichkeit seiner Anstrengungen überzeugt hatte, »keine Dummheit, mein Täubchen! Ich ergebe mich, und da ich mich ergebe, nehme ich Ihnen das Recht, mich zu tödten, und habe es mit der Guillotine abzumachen; wir wollen einander loslassen!«

Beim Tone dieser Stimme fühlte Marius, wie sein Blut in seinen Adern erstarrte; einige Secunden hielt sein Athem völlig an; er wurde gewiß blässer, als der, den er unter seinem Knie hielt.

»Nein, es ist unmöglich,« murmelte er, mit sich selber redend.

Seine Hand auf die Stirn des Banditen drückend, warf er ihm den Kopf zurück, um ihn aus dem Schatten zu bringen, den er selber warf, und die matte Helle der Sterne darauf fallen zu lassen.

Er sah dieses scheußliche Gesicht, welches durch den Schrecken noch scheußlicher wurde, welcher ungeachtet seiner affectirten Renommisterei das Herz des Elenden schlagen machte, lange an; dann in Folge dieser Prüfung blieb er einige Augenblicke in seinen Schmerz versenkt, als ob seine Vernunft nicht zugeben wolle, was seine Augen ihm bezeugten, und als ob er noch zweifeln könne. Darauf stieß er einen Seufzer aus, schrecklicher vermöge der inneren Qualen, die er zu erkennen gab, als es der Todesschrei gewesen war, der eben aus der Sennhütte ertönte; dann ließen seine Muskeln von selber nach, seine Hände öffneten sich und sein Körper, als wäre er von einer automatischen Kraft in Bewegung gesetzt, entfernte sich von dem Körper, den er niederdrückte.

In der That war dieser Mann der Bettler von den Hügeln, es war Pierre Manas, es war sein Vater!

Sobald dieser sich von dem Drucke frei fühlte, dessen Gewalt er kennen gelernt hatte, war er auch schon auf gesprungen und bereit, zu entfliehen.

»Hölle und Teufel!« sagte er, indem er dieses Nachlassen dem Messerwurfe zuschrieb, den er seinem Gegner zugetheilt hatte, »ich habe zu früh gesprochen, und es wird diesmal noch nicht sein. Es scheint, als hat das Messer die Lebensorgane getroffen, und als zittert die Hand des alten Mannes eben so wenig aus der Ferne, als in der Nähe. Guten Abend, mein kleines Täubchen! meinen Gruß an den Herrn Polizeicommissarius und die Herren Gensdarmen, wenn Sie noch so lange in dieser Welt verweilen; mein Compliment an den Herrn in der Sennhütte dort. unten, wenn Sie in die andere Welt kommen; was mich betrifft, ich will mich an die Luft setzen.«

»Entfliehen Sie nicht,« antwortete ihm Marius, dessen Worte zitternd waren, wie die eines Fieberkranken in seinen heftigsten Anfällen; »fliehen Sie nicht! Sein Sie ruhig, ich bin es nicht, der Sie ausliefern wird.«

»Gute Farbe, aber noch nicht dunkel genug, für ein altes Retourpferd, wie ich, um sich fangen zu lassen. Leben Sie wohl, mein Täubchen! Gute Gesundheit wünsche ich Ihnen. Vernünftigerweise sollte ich Dir noch eine Ader öffnen, zu der, die ich Dir eben geöffnet, und Dich nicht eher verlassen, als bis Deine Zunge von dem Kitzel zu plaudern geheilt ist; aber wenn man nicht viel spricht, ist man ein ehrlicher Mann. Du hast mir neulich Abends dort an der Küste einen Dienst geleistet; ich verschone Dich, und wir sind quitt, und ich nöthige Dich nicht, mich wiederzusehen.«