Der Grashalm

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Der Grashalm
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Adrian Plass

Der Grashalm

Die kleine Geschichte einer großen Entscheidung

Aus dem Englischen von Christian Rendel


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1

2

3

4

5

6

7

Weitere Bücher

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-870-5

© 2009 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Originalausgabe in »Father to the Men«. © by Adrian Plass

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Colourbox

Satz: Satzstudio Hans Winkens

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

Vorwort

Es war ein Schock. Ich hatte diese Geschichte (auf Englisch hieß sie ursprünglich »Father To The Man«) seit Jahren nicht gelesen und ich hatte vergessen, wie schmerzhaft autobiografisch sie ist. Ich habe nicht vor, mich zu quälen, indem ich diese Verbindungen zu meinem vorigen Leben in dieser Einleitung seziere. Aber ich werde zugeben, dass ich laut aufschrie, nachdem ich meine Lektüre beendet hatte und das Buch wirklich und wahrhaftig in die Ecke warf, um mich von der soghaften Wirkung dieser erfundenen Erinnerungen zu erholen. Es war schrecklich.

Die Beweise erfolgloser Selbsttherapie will ich einmal beiseitelassen und muss doch sagen, dass die Themen, um die es in der Geschichte geht, mich paradoxerweise gefesselt haben. Die Meisten von uns bewegen sich (wenn überhaupt) spiralförmig vorwärts und aufwärts. Dabei kommen sie immer wieder auf die gleichen Fragen und Sorgen zurück und können hoffentlich jedes Mal eine zusätzliche dünne Schicht des Verstehens ansammeln. Bei mir jedenfalls ist das so, obwohl die Spirale manchmal ein Kreis wird und es keine nach oben gerichtete Bewegung gibt. Spielen Sie nie Swingball mit dem Teufel.

Ein Thema ist Alkohol. Die Geschichte ist darin getränkt. Mich hat immer der Rat fasziniert, den Paulus den Ephesern gibt: betrunken zu sein, nicht durch Wein, sondern durch den Heiligen Geist. Interessanterweise wird Betrunkenheit auch von Jesus im Lukasevangelium als eines von drei Dingen erwähnt (Liederlichkeit und Angst sind die anderen zwei), die wir aus guten und praktischen Gründen sorgfältig vermeiden sollten, weil sie unsere Herzen niederdrücken würden. Vermutlich war es Paulus und Jesus bewusst, dass die Wirkung des Alkohols, sogar nicht einmal notwendigerweise im Übermaß, eine der feinsten Täuschungen ist, die sich die dunkle Seite ausgedacht hat.

Guter Rotwein und deutsches Bier sind ziemlich weit oben auf meiner Liste der besten, köstlichsten Dinge, die die Welt so im Angebot hat, aber heutzutage trinke ich nur noch sehr gemäßigt. Was noch wichtiger ist, ich glaube nicht mehr an diese verführerische Lüge, es sei möglich, Frieden und Heilung auf dem Grund des nächsten Glases zu finden. Schließlich löst Alkohol keine Probleme. Paul, die Hauptfigur in dieser Geschichte, beginnt so langsam, das zu lernen.

Das zweite Hauptthema der Geschichte hat mit Wahrheit und Offenheit in Beziehungen zu tun. Paul hält wichtige Aspekte seiner selbst von seiner Frau und seinem bestem Freund fern. Er will und kann auch fast nicht riskieren, sich ehrlich mit zwei der bedeutsamsten Menschen in seinem Leben auseinanderzusetzen. Natürlich gibt es keine Regeln darüber, aber diejenigen von uns, die sich mit solch einem Handicap identifizieren, wissen sehr gut, dass es Zeiten gibt (wenn wir Aufregung oder Kummer oder tatsächlich einen Sturm positiver Gefühle erleben oder auch alles drei auf einmal), in denen es für uns und all diejenigen, die, wie Paul Tournier sagt, ständig wie ein kleines Boot um eine Insel kreisen und einen Landeplatz suchen, wunderbar vorteilhaft wäre, wenn wir es riskierten. Diese Kommunikationslähmung verursacht Schmerz, Verwirrung, Verzerrung und manchmal eine tragische Verschwendung von strahlenden Möglichkeiten. Diese Herausforderungen entmutigen, aber unser glückloser Held muss das Problem anpacken oder sich der Aussicht eines schlimmen Verlustes stellen.

Das dritte Thema ist Bekehrung, in diesem Fall zum Christentum. Es scheint sogar noch weniger Regeln über diesen seltsamen Prozess zu geben, der unveränderlich verlangt, dass wir irgendwann in eine neue und häufig ebenso drohende Vielfalt der Verwirrung und Unklarheit eintreten. Sein Selbstbild mit allgemeinen Stereotypen von Leuten, die zur Kirche gehen, zu vergleichen, wirkt auf Paul verstörend und bedrohlich. Aber er hat einen Blick auf einen winzigen Lichtpunkt in weiter Entfernung erhascht und der Pfad, dem er folgen muss, um diesen Punkt zu erreichen, ist nicht dunkler als der Ort, an dem er sich befindet. Wird er die Reise vollenden? Werden Sie es? Werde ich es?

Möge Gott uns alle segnen, die wir zusammen reisen.

Adrian Plass

1

Es war sehr schwierig, Schlaf zu finden, nachdem ich an jenem Abend meinen Sohn so abwesend und unglücklich gesehen hatte.

Um zwei Uhr morgens lag ich immer noch wach, nachdem ich Biggles and the Black Peril zur Hälfte durchgelesen hatte, um mich von der furchtbaren Trostlosigkeit in Dans Augen abzulenken, als er Gute Nacht gesagt hatte. Violet hatte es schon immer gehasst, wenn ich meine alten Kinderbücher als emotionale Teddybären benutzte, aber ich wusste keinen anderen Weg, mit dem hohlen Gefühl der Panik fertig zu werden, das mit der Nacht einsetzte.

Schließlich, ausgelaugt von Müdigkeit und der ständigen Anstrengung, den Anblick von Dans Augen aus meinem Bewusstsein fernzuhalten, überließ ich Biggles, Algy, Ginger und Bertie ihren eigenen Weltrettungsbemühungen und döste ein. Es schienen nur Sekunden vergangen zu sein, als ich von dem Geräusch der sich öffnenden Schlafzimmertür wach wurde.

»Papa«, sagte eine dünne, ängstliche Stimme vom anderen Ende des Zimmers her.

Ich setzte mich auf. Meine Tochter, im Halbdunkel nur undeutlich zu sehen, stand in der Tür, einen ihrer Plüschfreunde fest im Arm umklammert. Ihre Füße, zwei kleine, ausgefranste Enden, waren hell erleuchtet von einem schmalen Strahl gelben Lichtes von der Straßenlaterne vor dem Flurfenster. Curly war noch nicht so groß, dass man ihr nicht hätte helfen können, noch lange nicht. Ich konnte ihr alles geben, was sie in dieser Nacht brauchte.

»Hallo, mein Schatz«, sagte ich leise, »was machst du denn hier?«

»Ich bin aufgewacht und hatte ein bisschen Angst, weil es so dunkel war, Papa.«

»Dann komm zu Mama und Papa ins Bett, Liebling. Dann haben wir keine Angst mehr vor der blöden Dunkelheit, oder?«

Die Füße verschwanden, als Curly die zwei Meter bis zum Bett tappte, mit einer helfenden Hand von mir heraufkletterte und sich in die Lücke zwischen Violet und mir stürzte wie ein Soldat, der ins Schützenloch hechtet.

»Ist das Curly?«, murmelte Violet schläfrig. »Alles in Ordnung, mein Liebling?«

»Nur ein bisschen Angst, Mami«, sagte Curly, wobei sie zum Sprechen ihren Daumen aus dem Mund nahm und ihn hinterher wieder hineinsteckte.

»Nun, aber jetzt ist alles gut, nicht wahr, Curly-Maus?«

Curly nickte lebhaft auf dem Kissen, als Violet sie auf den Hinterkopf küsste, bevor sie sich wieder umdrehte, um weiterzuschlafen. Ich lag noch eine Weile wach und sah zu, wie der Schlaf und die Geborgenheit die Furcht aus dem Gesicht des kleinen Mädchens vertrieben. Schließlich hörten die Saugbewegungen auf, Curlys Daumen fiel aus ihrem Mund, und sie begann tief und gleichmäßig zu atmen. Wieder einmal war die Dunkelheit besiegt.

Es könnte Danny sein, der da liegt, dachte ich, während ich in dem Licht, das durch das verhangene Fenster über dem Kopfende des Bettes hereindrang, Curlys unbekümmertes Gesicht studierte – es könnte genauso gut Danny sein, der da liegt. Viele Male war es Danny gewesen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war; als er noch ganz offen verletzlich und ängstlich gewesen war wie seine Schwester heute Nacht; als Violet und ich noch in der Lage gewesen waren, so ziemlich jedes Problem, das ihm begegnen konnte, mit einem Kuscheln oder einer Ablenkung oder einer jener akademischen Erklärungen, die er so sehr liebte, zu lösen; als er noch Danny gewesen war und nicht Dan und sein Leben so glücklich war, dass ich mir wirklich nicht hatte vorstellen können, wie er je etwas anderes als zufrieden würde sein können, wenn er älter wurde. Ich hatte so viel von mir selbst in dieses Kind hineingegeben – das Beste, was ich hatte. Mich selbst ohne Manipulationen und die Schmollerei und die unmerkliche Vernachlässigung, deren ich in all meinen anderen Beziehungen fähig gewesen war. Wie konnte es sein, dass er jetzt nicht glücklich war, wo ich ihm damals doch so viel mitgegeben hatte? Würde ich das alles mit Curly noch einmal erleben, wenn sie älter war? Kummer und Schmerz durchliefen mich in Wellen, während ich darauf wartete, dass der Schlaf kam.

 

2

Es fällt mir sehr schwer, Danny zu verzeihen, dass er unglücklich ist.«

Das war die Bemerkung, die den folgenden Tag so einen schlechten Anfang nehmen ließ, und ich schätze, ich wusste, wenn ich ehrlich bin, dass sie bei Violet überhaupt nicht gut ankommen würde. Sie war seit halb sieben auf und mit einem völlig begeisterten Kind beschäftigt. Curlys Augen sprangen jeden Morgen auf wie platzende Blasen. Sie sah keinen Sinn darin, auch nur einen Moment eines dieser wunderbaren Tage, die wie durch Zauberei immer wieder aufs Neue entstanden, mit Dösen oder wach im Bett liegend zu vergeuden. Außerdem war heute einer ihrer beiden Spielgruppentage, und Valerie, die Leiterin, hatte den Kindern versprochen, dass sie am Donnerstag mit Fingerfarben malen dürften. Heute war Donnerstag. War für eine Freude! Curly hatte ihre Freude bereits seit zweieinhalb Stunden mit Mami geteilt, als ich mich mit verquollenen Augen hinunter in die Küche schleppte. Violet hing über der Zeitung von gestern und einem deprimierend aussehenden Stück Toast, als ich mein Eröffnungs-Statement abgab. Sie blickte nicht einmal auf, als sie antwortete.

»Es macht mir nichts aus, mit Curly aufzustehen und Dan in die Schule zu schicken, während du da oben deine Leichenimpression aufführst, aber ich bin nicht bereit, für dich das Publikum zu spielen, wenn du daherredest wie so ein drittklassiger Oscar Wilde. Falls du mich überzeugen möchtest, dass du ein Schriftsteller bist, dann wäre mein Tipp, dass das überzeugendste Argument dafür ein Blatt Papier wäre, auf dem tatsächlich etwas geschrieben steht. Du hast heute immer noch ein paar Stunden zum Arbeiten übrig, falls du dir nur halb so viel Zeit zum Frühstücken nimmst wie gestern.«

Ich wäre beinahe umgefallen. Violets Fähigkeit, mich mit Worten in zwei Hälften zu schneiden, wenn sie es wirklich darauf anlegte, war schon immer zu viel für mich gewesen. Diverse Repliken schossen mir hintereinander durch den Kopf. Ich wollte sie darauf hinweisen, dass ich geredet hatte wie ein viertklassiger Gilbert Chesterton, nicht wie ein drittklassiger Oscar Wilde. Ich wollte ihr sagen, dass ich eine brillante Idee für einen humoristischen Roman hätte, so gut entwickelt, dass ich schon heute mit der Niederschrift beginnen könnte. Am meisten jedoch wollte ich ihr sagen, dass ich wirklich etwas gemeint hatte mit dem, was ich gerade gesagt hatte. Es stimmte, dass ich einige Zeit damit verbracht hatte, mir meine Worte zurechtzulegen, während ich mich wusch und anzog und mein Biggles-Buch versteckte, aber das nur deshalb, weil ich das Gefühl hatte, meine Verletzlichkeit mit etwas Würde umkleiden zu müssen. Hätte ich meine Gefühle in ihrer rohen, unverschleierten Form herausgelassen, so hätte es vielleicht damit geendet, dass ich mich auf dem Boden gewälzt und mir die Augen ausgeheult hätte. Niemand hatte mich je so gesehen, und Violet würde nicht die Erste sein. Dennoch wollte ich, dass sie wusste, dass ich mich wirklich schlecht fühlte. Ich steckte eine Scheibe Brot in den Toaster.

»Ich wollte nicht einfach nur eine clevere Bemerkung machen, Violet, ich war wirklich unglücklich gestern Abend, weißt du.«

Violet lehnte sich zurück und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, bevor sie antwortete.

»Dan ist ein vollkommen normaler Teenager, Paul. Gestern Abend hat er uns spüren lassen, dass er gerade ein paar vollkommen normale Probleme durchmacht, die vollkommen normale Fünfzehnjährige nun einmal durchmachen. Es ist nichts Tragisches dabei, wenn er manchmal ein bisschen bedrückt ist. Er wächst heran und verändert sich; das ist alles.«

»Das weiß ich, aber …«

»Wovon du in Wirklichkeit redest, das bist du selbst. Du kannst nicht akzeptieren, dass deine Beziehung zu ihm sich ebenfalls verändert. Du kannst nicht mehr alle Probleme für ihn lösen, und ich kann es auch nicht. Warum sollten wir auch erwarten, das zu können? Du willst doch nicht, dass er sein Leben lang in einer Art vorpubertärer Abhängigkeit bleibt, oder? Oder vielleicht willst du das. Ich will es jedenfalls nicht!«

»Natürlich will ich nicht …«

»Im Übrigen braucht Dan dich und mich im Grunde jetzt noch mehr als vorher. Er ist unsicher, wer er ist und wohin er unterwegs ist. Was er braucht, ist, dass wir als Stütze im Hintergrund für ihn da sind, nicht, dass wir uns selbst bemitleiden, weil er es nicht mehr schafft, uns so glücklich zu machen wie früher. Tut mir leid, dass ich dich nicht in Ruhe unglücklich sein lasse, aber ich glaube, du musst dich um Dans willen der Wirklichkeit stellen.«

Violet wäre erstaunt gewesen, wenn sie gewusst hätte, wie nahe ich in diesem Moment daran war, emotional zusammenzubrechen, wie nahe sie daran war, all die Gefühle der Verlassenheit und des Verlustes zu hören zu bekommen, die mir den Frieden raubten, seit Dan sich entschlossen hatte, seine Reise ohne meine enge, vertraute Begleitung fortzusetzen, und wie ohnmächtig wütend ich darüber war, dass die Schlacht zwischen Erwachsenem und Kind, die in mir tobte, meinem Sohn den Vater raubte, den er im Moment so sehr brauchte.

»Wie auch immer«, sagte Violet, »ich muss zur Arbeit. Dein Toast ist fertig. Bis später.«

»Und mit wem?«, fragte ich niemanden Besonderes, als sich die Haustür hinter meiner Frau schloss, »rede ich jetzt darüber, dass ich mich elender fühle als je zuvor in meinem Leben?«

Da ich in meiner eigenen Unfähigkeit, mich mitzuteilen, gefangen war, erschien es mir unmöglich, dass eine solche Frage sich jemals zufriedenstellend beantworten lassen würde.

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