Der Besuch

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Adrian Plass

Der Besuch

Adrian Plass

Der Besuch

Die Geschichte einer unverhofften Wiederkehr

Aus dem Englischen

von Christian Rendel


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sin dim Internet über http://dnb.de abrufbar.

4. Auflage 2003

© 2001 by Brendow Verlag, D-47443 Moers

Originalausgabe: in „The Final Boundary“

© by Adrian Plass

Kapitel 4 © by Merweboek, NL-Sliedrecht

Einbandgestaltung und Fotocollagen: Georg Design, Münster

Satz: AbSatz, Klein Nordende

ISBN 9783865064431

www.brendow-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Copyright

– 1 –

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– 1 –

Unsere Kirchengemeinde war eigentlich immer ganz in Ordnung. Wir machten alles, was Kirchengemeinden machten, so gut, wie es nur gemacht werden konnte, und wir sprachen mit Ehrfurcht und angemessener Dankbarkeit von unserem Gründer. Wir sagten, wie gern wir ihm begegnet wären, als er auf der Erde lebte, und wie sehr wir uns darauf freuten, ihn in ferner Zukunft einmal zu sehen.

Die unerwartete Nachricht, dass er uns jetzt, in der Gegenwart, einen ausgedehnten Besuch abstatten würde, war, gelinde gesagt, sehr beunruhigend. All unsere selbstbewussten Sprüche über »den Glauben« blieben uns im Halse stecken. Leute, die immer recht fröhlich gewirkt hatten, blickten jetzt ziemlich besorgt drein. Diejenigen, die früher betrübt gewesen waren, schienen sichtlich aufzuheitern.

Ein Mann, der immer gesagt hatte, »Der Gedanke der Versöhnung« sei »typisch jüdisch«, wurde extrem nachdenklich. Ein anderer, der einen Aufsatz mit dem Titel »Die wahre Bedeutung des Auferstehungsmythos« veröffentlicht hatte, schloss sich dem Mittwochs-Gebetskreis an und entwickelte eine viel offenere Haltung. Die Verzweifelten zählten einfach nur die Tage.

Jeder von uns, glaube ich, reagierte auf die Nachricht auf seine eigene Weise, doch was wir wohl alle gemeinsam hatten, war der Eindruck, dass unser Spiel (wenn es auch für manche ein sehr aufrichtiges und bedeutsames Spiel gewesen war) vorbei war. Wenn er kam, gab es kein So-tun-als-ob mehr. Er würde uns durchschauen.

Was mich betrifft, so freute ich mich auf sein Kommen, vorausgesetzt, es »klappte« alles – wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich war ein Organisator, ein Macher. Mein Job war es, das Gemeindeleben in Ordnung zu halten, dafür zu sorgen, dass die richtigen Leute an die richtigen Stellen gerieten und die richtigen Dinge taten, und es machte mir Spaß, diesen Job gut zu machen. Sicher, ich war keiner von den supergeistlichen Typen, aber ich lächelte und sang sonntags wie alle anderen, und die meisten Leute schienen mich zu mögen und zu respektieren. Gott? Nun ja, ich nehme an, meine Beziehung zu Gott war ein bisschen so wie eine Ehe ohne Sex – wenn ich ehrlich bin. Ich kam ihm niemals sehr nahe. Dennoch – ich gab mir redliche Mühe und war der Meinung, ich müsse mir zumindest ein kleines möbliertes Zimmer im Himmel verdient haben, wenn auch vielleicht keine Villa.

Mein Job war es also, den Besuch unseres Gründers zu organisieren, dafür zu sorgen, dass alles glatt ging und ganz allgemein die Oberaufsicht über das ganze Ereignis zu führen. Binnen kurzem hatte ich ein Programm für den Tag seiner Ankunft auf die Beine gestellt und sogar schon geregelt, bei wem er untergebracht werden würde. Darüber gab es ein paar kleine Rangeleien. Jemand sagte, es sollte jemand sein, der zu Hause genauso sei wie in der Kirche, worauf ein anderer erwiderte, in dem Falle müsse er in ein Hotel gehen, doch am Ende entschied ich einfach, wer es sein würde, und damit hatte es sich.

Mein Hauptproblem war, dass ich ihn nicht im Voraus kontaktieren konnte, um die Vorbereitungen abzusprechen. Im Grunde wusste ich nur, dass er am Sonntag zum Abendgottesdienst eintreffen würde, aber ich machte mir keine Sorgen. Nach meiner Erfahrung war es Besuchern sehr lieb, sich einfach in einen klaren Ablauf einzufügen, und ich ging davon aus, dass gerade er keinen Wert darauf legen würde, das sorgfältig ausbalancierte Boot eines anderen ins Schaukeln zu bringen. Ist es nicht komisch, wenn man zurückblickt und sich daran erinnert, derartig lächerliche Gedanken gedacht zu haben? Aus meiner damaligen Sicht erschien es ganz vernünftig, und es lag mir so in Fleisch und Blut, lose Enden zu verknüpfen (selbst wenn es manchmal nichts zu verknüpfen gab), dass mir nie der Gedanke kam, dass jemand, in dem sich das Wesen und der Geist der Schöpferkraft verkörperte, vielleicht seine eigenen losen Enden mit sich bringen könnte.

Als der Tag des Besuchs näher rückte, nahm eine Art sanfter Panik von der Gemeinde Besitz. Eine Dame sagte, ein Besuch »im Fleisch« ließe ihrer Meinung nach Geschmack vermissen und drohe die Reinheit ihrer Gottesschau zu korrumpieren; ein anderer meinte, das ginge ihm »zu weit«. Ein Mann, der bisher als höchst heiligmäßiger Charakter gegolten hatte, gestand eine Reihe recht erschreckender Sünden, wodurch er in den Augen der Gemeinde erheblich an Bewunderungswürdigkeit verlor, dafür aber viel interessanter und nahbarer wurde. Eine nette alte Dame trat mir eines Abends im Gemeindesaal in den Weg und stellte mir ängstlich die Frage, die vermutlich die meisten von uns umtrieb: »Stimmt es, dass er … alles weiß, was wir denken?«

Auf Fragen wie diese wusste ich keine Antwort. Ich wollte nur, dass alles wie am Schnürchen lief und freute mich wie immer auf die Zeit, wenn alles vorüber war und wir zurückblicken und sagen konnten: »Es hat wirklich alles hervorragend geklappt« und »War das nicht der Mühe wert?« Ich fürchte, es sollte noch eine Weile dauern, bis ich lernte, Erfahrungen nicht sicher in der Vergangenheit zu verstauen, bevor sie eine Chance gehabt hatten, mich zu verändern.

Wie auch immer – endlich kam der Sonntag, und pünktlich traf er ein.

Nun, ich weiß, dass es furchtbar klingt, so etwas zu sagen, aber zuerst sah es so aus, als würde es eine schreckliche Enttäuschung werden – ein Reinfall. Er war nicht ganz das, was wir erwartet hatten. Irgendwie zu … real. Auch seine Ankunft war merkwürdig. Nach meiner Planung sollte sie ein großes Ereignis werden – vielleicht lag ich falsch, aber ich hoffte auf so eine Art großen Auftritt.

Alles war fertig, jeder war an seinem Platz, als wir plötzlich merkten, dass der Mann, auf den wir warteten, schon da war und still in der letzten Reihe saß. Um ehrlich zu sein, ich hätte ihn gar nicht erkannt, aber glücklicherweise erkannte ihn jemand anderes und bat ihn, nach vorn zu kommen.

Nun, ich dachte gerade: »Großartig, dann können wir ja jetzt anfangen«, aber ich hatte noch nicht einmal zu ihm gesprochen, als er sich schon zur Gemeinde umdrehte und sagte (das werden Sie jetzt nicht glauben):

»Hätte vielleicht jemand ein Sandwich für mich?« Nun, einige Leute lachten, aber eine alte Dame ging geradewegs nach hinten in die Küche und machte ihm ein Sandwich und eine Tasse Tee, und als sie ihm die Sachen brachte, setzte er sich einfach auf die Altarstufen und verzehrte sie ohne das geringste Zeichen der Verlegenheit.

Das warf mich völlig aus der Bahn. Ich hatte eine Kopie des Programms in meiner Hand, aber als ich mich weit genug zusammengerissen hatte, um auf ihn zuzutreten, stand er auf, drehte sich um und sah mich an, und ich konnte es ihm einfach nicht geben. Ich kann den Blick nicht beschreiben, mit dem er mich ansah. Beinahe hätte ich losgeheult und auf ihn eingeschlagen. Das klingt lächerlich, nicht wahr, aber unter seinem Blick kam ich mir vor wie ein Idiot, und ich gebe zu, dass ich mich auch auf eine seltsame Weise schämte. Aber warum nur?

Jedenfalls wandte er sich wieder der Gemeinde zu und sah sie an, als hielte er in einer Menschenmenge nach einem Freund Ausschau. Er schien nach einem bekannten Gesicht zu suchen. Dann winkte ihm jemand zu, und an dieser Stelle wurde die Sache schlicht und einfach albern. Er rannte den Gang hinab und legte seine Arme um diese Frau in der vierten Reihe, und sie fing an zu weinen, und er sagte etwas zu ihr, das niemand von uns verstehen konnte, und dann standen noch ein paar andere Leute auf und gingen zu ihm hinüber, bis sich eine richtige kleine Menschenmenge gebildet hatte, mit ihm in der Mitte.

Es war bizarr. Wissen Sie, da saßen Leute immer noch auf ihren Plätzen und schauten nach vorn, offensichtlich verlegen und unsicher, was sie tun sollten, während drüben an der Seite diese kleine Menschentraube lachte und weinte und einen Riesenlärm veranstaltete. Dann … hörte der ganze Lärm auf. Ganz plötzlich, als er seine Hand hob, herrschte absolute Stille.

 

Drüben auf der anderen Seite der Kirche saß ein junger Bursche wie gelähmt da, den Blick starr nach vorn gerichtet. Sein Gesicht war weiß, seine Hände krampften sich auf den Knien zusammen, und er schien sich durch schiere Willensanstrengung zusammenzuhalten. Dann kamen diese wenigen Worte, die ihn irgendwie aus seiner Starre zu erlösen schienen.

»Mach dir keine Sorgen.« Das war alles. Einfach

»Mach dir keine Sorgen«, und schon schoss dieser junge Bursche quer durch die Kirche und kam auf den Knien schlitternd zum Halten. Und dann fing alles wieder an – der Lärm meine ich –, und dann gingen sie alle hinaus. Sie gingen einfach … hinaus.

Ich folgte ihnen zur Tür und schaffte es tatsächlich, seinen Jackenärmel zu erwischen.

»Entschuldigung«, sagte ich, »ich dachte, wir würden alle zum Gottesdienst zusammenbleiben.«

»Natürlich«, sagte er und lächelte, »bitte komm mit uns.«

Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte.

»Aber wir halten den Gottesdienst normalerweise in der Kirche ab.«

»Möchtest du nicht lieber mit mir kommen?«

Nun, das hätte ich tatsächlich lieber getan, aber ich wusste nicht, wohin er ging. Ich hatte gedacht, er würde sich bei uns einfügen, und jetzt schien er so … planlos.

»Wohin gehst du?«, fragte ich.

Er blickte die Straße hinauf und hinab (und jetzt kommt noch etwas, das Sie nicht glauben werden), deutete über die Straße und fragte: »Wie ist es in dieser Kneipe da drüben?«

»Da geht es ehrlich gesagt ein bisschen rau zu«, sagte ich, und ich wusste sowieso, dass zwei oder drei von den Leuten, die bei ihm waren, aus Prinzip keinen Fuß in eine Kneipe setzen würden. Zumindest dachte ich, dass ich das wüsste, denn sie folgten ihm alle hinein; junge Burschen, alte Jungfern, alte Männer – der ganze Haufen. Ich war sprachlos.

Eine halbe Stunde lang stand ich neben dem Kirchenportal, und ungefähr um halb acht kam er wieder heraus, und ich schwöre Ihnen, es folgten ihm mehr Leute heraus als hinein. Alle schwärmten sie zurück über die Straße zur Kirche, und er sagte zu mir: »Dürfen wir jetzt wieder hinein?«

Und so kamen sie alle wieder hinein und setzten sich. Was heißt, sie setzten sich – sie hockten sich auf die Rückenlehnen, ließen sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, lümmelten sich auf die Heizkörper, wie es ihnen gerade passte, und er fing an, zu ihnen zu sprechen. (Alle, die in der Kirche geblieben waren, waren inzwischen gegangen, einschließlich der Dame, bei der er untergebracht werden sollte.)

Und jetzt kommt das, was ich nicht verstehe. Er hatte mir meinen Gottesdienst verdorben, alles war schief gegangen, und ich kam mir wie ein Idiot vor, doch ich wollte nichts mehr, als mich auf den Boden zu setzen und ihm zuzuhören – und ich hatte das Gefühl, dass er genau das von mir wollte.

Aber ich tat es nicht. Ich ging nach Hause.

Wissen Sie, ich hatte nicht mehr geweint, jedenfalls nicht richtig, seit ich ein kleiner Junge gewesen war, aber an jenem Abend saß ich zu Hause und heulte mir die Augen aus dem Kopf. Dann, ganz plötzlich, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich stürmte aus dem Haus und rannte zurück zur Kirche. Alles war so still, als ich dort ankam, dass ich dachte, es müssten alle weg sein, doch als ich eintrat, saß er allein dort. Ein warmes Lächeln lag auf seinem Gesicht.

»Du hast dir Zeit gelassen«, sagte er. »Ich habe auf dich gewartet. Ich übernachte heute bei dir.«

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