Der Schattendoktor

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Der Schattendoktor
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Adrian Plass

Der Schattendoktor

Roman

Aus dem Englischen von Christian Rendel


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-960-3

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Originaltitel: The Shadow Doctor

First published by Hodder & Stoughton, London

Copyright © 2017 by Adrian Plass

Aus dem Englischen übersetzt von Christian Rendel

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia Stefan Körber

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de

Dieses Buch, wahrscheinlich das schwierigste, das ich je geschrieben habe, ist meinen Freunden Liz, Ren und Chase gewidmet. Sie haben mich unterstützt und inspiriert.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1. Flamme

2. Alice

3. Der Brief

4. Kontakt

5. Lernen, wie man fliegt

6. Das schwarze Pflaster

7. Das Frühstück

8. Paul

9. Tunbridge Wells

10. Fragen und Antworten

11. Die Frau, die dachte, sie würde explodieren

12. »The Wayfarer«

13. Lose Enden

14. Der Tausendfüßler

15. Das Rätsel der Zwiebel

16. Ein enttäuschter Sieger

17. Ein winziges Fleckchen Blau

18. Zurück in die Zukunft

19. Wenn man vom Teufel träumt

20. Die Geisel

Weitere Bücher

Prolog

Um zwei Uhr morgens trat der Mann aus seinem Haus und schloss sorgfältig die Tür hinter sich ab. Nachdem er sich ein paar Schritte weit entfernt hatte, blieb er stehen, steckte seine behandschuhten Hände in die Taschen und neigte seinen Oberkörper nach hinten, um zum klaren Nachthimmel emporzuschauen. Lauter Haufen winziger, explodierender Nadelspitzen bedeckten das Firmament. Die endlosen Reihen der Bäume, die das kleine Haus sorgsam bewachten, standen aufmerksam und dunkel da. Das Licht der Sterne schien sie nicht zu beeindrucken.

Mit einem leichten Frösteln setzte sich der Mann in Bewegung und ging rasch den Schräghang seines kleinen Gartens hinunter, über die holprige Rasenfläche, an dem nicht mehr bewohnten Hühnergehege und dem Gemüsebeet vorbei auf eine Lücke zwischen den Bäumen zu, wo ein schmaler Weg den Zugang zum verborgenen Herzen des Waldes gewährte. Kein Zögern. Er kannte jeden Grashalm auf diesem Weg. Er hatte keine Angst, sich zu verlaufen.

Das war es nicht, wovor er sich fürchtete.

Fünfzehn Minuten später machte er an einer Stelle halt, wo der Weg notgedrungen einen weiten Bogen um einen riesigen Kalksteinfelsen machen musste, dessen Form an eine Kröte erinnerte. Nach einem Schlag mit der flachen Hand auf die Oberfläche des Steins bog er an der Außenseite des Bogens ab und bahnte sich geduckt seinen zielsicheren Weg durch das Dickicht mehr oder weniger waagerechter Zweige, bis er einen anderen Weg erreichte, oder eher so etwas wie einen Trampelpfad. Er tastete sich behutsam ein Stück weiter und betrat schließlich eine nahezu kreisförmige Lichtung.

Der Mann stellte sich in die Mitte dieser kleinen freien Fläche, schlang die Arme um seinen Oberkörper und hob seinen Blick hinauf zu dem natürlichen Planetarium über seinem Kopf.

Eine Minute verstrich. In ihm rührte sich etwas und baute sich auf. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Als der qualvolle Schrei endlich aus ihm herausbrach, prallte er gegen die seelenlos unerbittlichen Stämme der Bäume ringsum und zurück zu der einsamen Gestalt.

»Ich habe Angst! Es ist zu viel – ich schaffe das einfach nicht mehr!«

Es gab keine Antwort auf seinen verzweifelten Schrei. Geräusche gab es genug, aber keine, die an ihn gerichtet waren. Der Mann kannte die Stimmen des Waldes gut. Die flüsternde, ächzende Sprache der Bäume. Kleine Kreaturen, die in ihren eigenen kleinen Welten ihre Qual oder ihre Verzückung hinausschrien. Er bemerkte den gedämpften Flügelschlag einer Eule, die mit ihren gezackten Flügelkanten beinahe lautlos dahinglitt auf ihrer Jagd nach Kleintieren und Vögeln auf dem Waldboden. Er erkannte das laute, bauchrednerhafte Tschilpen des Ziegenmelkers, für ihn der mysteriöseste und faszinierendste Bewohner dieser Welt im Zwielicht. All diese Stimmen waren ihm vertraut. Er hatte keine Furcht vor ihnen, ebenso wenig wie vor der Dunkelheit.

Das war es nicht, wovor er sich fürchtete.

Sein Gespür für die gewöhnlichen Geräusche der Nacht war so fein, dass das Knacken eines Zweiges am Rand der Lichtung ihn überrascht herumfahren ließ. Kein Rätselraten. Er brauchte nicht zu überlegen, was für ein Gewicht nötig war, um genau so ein Geräusch hervorzubringen. Aber es war eine Störung. Es war ein Schock.

Es gab nur eine Person, die ihm in den Wald gefolgt sein konnte.

1. Flamme

Nach einer langen Fahrt aus dem Süden und einem geplatzten Termin war Jack Merton eines regnerischen Morgens in Ripon gestrandet, einem Taschenformatstädtchen in Yorkshire. Am Ende einer uneben gepflasterten Gasse, die sich von dem winzigen Stadtzentrum wegschlängelte, ragte plötzlich die Kathedrale St. Peter vor ihm auf. Er überquerte die Minster Road und drückte sich durch den Westeingang, um dem lästigen Dauernieselregen zu entrinnen. Friede legte sich auf ihn, als er das Kirchenschiff betrat. Es war eine Art heilsamer Schock. Viel mehr als nur der Unterschied, ob man im Regen oder im Trockenen war. Die Naht zwischen dem einen und dem anderen Zustand war unmöglich auszumachen. Es hatte etwas Magisches.

»Zauberhaft«, flüsterte er genießerisch vor sich hin.

Die Liebe zu englischen Kathedralen hatte Jack schon als kleiner Junge von seinem Vater beigebracht bekommen. Sie offenbarten Unzulänglichkeit durch Übermaß, hatte dieser immer gesagt. In dieser hier kam er sich vor, als stünde er im Innern einer riesigen Glocke, erfüllt von einem sanften, freundlichen Licht und einer Heerschar von Schatten in allen Grautönen, mühelos gemischt von hauchzart bis tiefdunkel. Nun nicht mehr gestrandet, sondern einfach anwesend, ließ sich Jack wie in einem Traum durch das Gebäude treiben, bis er auf ein kleines Alpenmassiv aus gusseisernen Kerzengestellen am Fuß einer Säule gegenüber der Südwand stieß.

Der bloße Anblick der Kerzen beunruhigte ihn ein wenig. Seit er mit sechzehn Jahren gläubig geworden war, hatte Jack sich bemüht, seinen Gebeten nicht durch derlei grobstoffliche Symbole eine greifbare Dimension zu geben, so verführerisch hypnotisch der Anblick und der Gedanke einer schmelzenden Flamme auch erscheinen mochten. In seinen Kreisen herrschte allgemeine Übereinstimmung, dass Spiritualität nur dann wirklich echt sein konnte, wenn sie sich abseits der Welt der »Dinge« abspielte. In letzter Zeit freilich war ihm die Widersprüchlichkeit dieses Denkens undeutlich bewusst geworden. In der Gemeinde, die er seit einigen Jahren besuchte, war zum Beispiel der Wein bei der Kommunion durch Kirschsaft ersetzt worden, aber soweit Jack sehen konnte, haftete den geweihten Elementen nach wie vor eine gesunde Gegenständlichkeit und Sichtbarkeit an.

 

In einem Anfall von Unabhängigkeit warf er nun eine Pfundmünze in den Schlitz unter den Gestellen, entnahm eines der ungebrauchten Teelichter aus einem danebenstehenden Karton und entzündete es vorsichtig an einer brennenden Kerze. Als der Docht aufflammte, entfuhr ihm ein jammervolles Schluchzen, das er sogleich als kleinen Hustenanfall tarnte.

Auf unerklärliche Weise fühlte sich das Schluchzen wie ein Gebet an. Unverschämterweise galt es ihm selbst. So bruchstückhaft und dennoch so aus tiefstem Herzen hatte er Gott noch nie angefleht. Einige Sekunden lang beobachtete er die brennende Kerze und genoss sie wie einen persönlichen Erfolg. Vielleicht würde sich ja, überlegte er, die kaum merkliche, aber unbestreitbar zufällige Bewegung der winzigen Flamme als Symbol der Befreiung erweisen – als Chance auf etwas Neues, wenn er nur den Mut hatte, danach zu greifen. Aber was konnte das bedeuten? Er hatte, jetzt und hier, nicht die leiseste Ahnung.

Vierzehn Tage später würde er den Brief seiner Großmutter öffnen und lesen. Er sollte sein Leben verändern.

2. Alice

Jacks Großmutter war drei Monate zuvor gestorben, wenige Tage vor ihrem neunzigsten Geburtstag. Die Pflegerin von Golden Hands, Barbara, die Alice werktags jeden Morgen beim Aufstehen half, hatte die alte Dame gefunden, das Gesicht auf den Händen ruhend, die Wangen so rosig und die Miene so friedlich wie eh und je. Barbara hatte ein paar Tränen vergossen. Die witzige, schlagfertige Alice war ihr sehr ans Herz gewachsen. Schwer zu akzeptieren, dass sie in dieser Welt nie wieder erwachen würde.

Jack hatte seine Oma immer geliebt und geschätzt. Sie vergötterte ihn und erzählte mit Vorliebe herum, ihr Enkel sei ein gutaussehender junger Mann mit einem Schuljungenschädel und bezaubernden Lächeln, den man ohne Weiteres mit dem Schauspieler Matt Damon verwechseln könnte. Sie war ein helles, nie verlöschendes Licht in den dunkleren Korridoren in Jacks Leben, besonders seit er nach dem Tod seines Vaters allein auf der Welt zurückgeblieben war. Wann immer sie ihn sah, war sie außer sich vor Freude, immer war sie freundlich, immer großzügig. Gut unterhalten konnte man sich mit ihr auch. Eigentlich mehr als gut. Der Witz und der Scharfsinn, die Alice Merton im Gespräch an den Tag legte, machten ihrem innerlich unsicheren Enkel Mut, sich behutsam mit der einen oder anderen Wahrheit über sich selbst auseinanderzusetzen, die keinesfalls für die Öffentlichkeit bestimmt war.

An seinen Großvater William erinnerte Jack sich kaum. Auf dem Sekretär im Wohnzimmer der Parterrewohnung, in die Oma gezogen war, als sie die Treppen nicht mehr bewältigen konnte, standen Fotos von ihm. Sie zeigten einen großen, rustikalen, hellwachen Mann mit zerzausten Haaren, einem zuversichtlichen Lächeln, der auf fast jedem der Bilder seinen Arm schützend um die Schultern seiner Frau legte. Jack war immer amüsiert darüber gewesen, dass Omas weitgeöffnete Augen und das Strahlen auf dem ovalen Porträt ihres Gesichts atemlos zu schwärmen schienen: »Ich kann mein Glück kaum fassen!« Eines Tages hatte er ihr bei Tee und selbstgebackenem Battenbergkuchen, der seltsamerweise mit einem alarmierenden Schuss Rum getränkt war, von seinem Eindruck erzählt.

Tränen schimmerten in den Augen der alten Dame. Sie beugte sich hinüber, um nach einer der in Silber gerahmten Fotografien zu greifen, und betrachtete sie ein paar Momente lang mit schiefgelegtem Kopf. Dann legte sie sie mit der Vorderseite nach unten auf ihren Schoß und tupfte sich mit einem Taschentuch, das sie aus ihrem Ärmel zupfte, die Tränen ab.

»Tut mir leid, Oma«, sagte Jack mit leicht stockender Stimme. »Ich wollte dich nicht traurig machen.«

»Ach du liebe Zeit, nein, du hast mich nicht traurig gemacht, Schätzchen«, erwiderte sie und beugte sich vor, um ihrem Enkel sanft das Knie zu tätscheln. »Daran ist er schuld, der liebe alte Egoist. Einfach so zu sterben und sich aus dem Staub zu machen.«

»Vermisst du ihn denn noch?«

Alice nippte an ihrem Tee. Ein Funkeln machte sich in ihren Augen bemerkbar. Was für alberne Fragen die jungen Leute manchmal stellten.

»Er war sehr gut im Bett.«

Jack starrte hilflos auf seinen Kuchen. Noch nie hatte er einen Battenbergkuchen so interessant gefunden, ob mit Schuss oder ohne. Diese Farben. Diese faszinierende Geometrie.

Sie erbarmte sich.

»Entschuldige, Jack. Ich meine nicht bloß Sex. Obwohl, den vermisse ich natürlich auch, weißt du? Diese vertraute Nähe. Nein, ich meine, er war buchstäblich gut – ein guter Mensch, sogar im Bett.«

Ihre Stimme wurde weich.

»Sie waren die … die Buchstützen meines Lebens.«

»Was?«

»Küsse. Kleine Küsse. Er küsste mich jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen, und er küsste mich jeden Abend kurz vor dem Einschlafen. Wie Buchstützen, die dafür sorgen, dass alles sicher an seinem Platz bleibt. Jeden Morgen. Jeden Abend.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Darf ich dir etwas über meinen Mann erzählen, Jack?«

Der junge Mann rutschte unbehaglich hin und her. Alice schmunzelte und klopfte mit den Fingern auf das Foto auf ihrem Schoß, als könnte es den Witz verstehen.

»Nein, keine Sorge. Nichts Schlüpfriges, das verspreche ich dir. Es geht um etwas, was dein Großvater einmal gesagt hat. Das war ungefähr drei Monate vor seinem Tod, als er schon sehr krank war. Wir hatten einen sehr netten Nachbarn namens Steve, als wir damals in Nutley wohnten, gleich hinter dem Hügel, ein paar Häuser nach dem indischen Restaurant. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht, aber ich glaube, du bist ihm sogar das eine oder andere Mal begegnet. Wir schreiben uns immer noch zu Weihnachten. Er war einer von diesen großartigen Notsanitätern, wie man sie im Fernsehen sieht. Er war so nett. Wenn es mit seinen Schichten passte, kam er manchmal nach dem Tee vorbei, um mit William zu plaudern. Eines Abends erzählte er uns, ein Kassierer im Supermarkt sei an diesem Tag sehr grob zu seiner Frau gewesen.

›Ich war ziemlich sauer, aber ich wusste nicht, was ich unternehmen sollte‹, sagte er. ›Dann dachte ich: William fällt bestimmt etwas ein. Also, stell dir vor, jemand macht deiner Alice das Leben schwer. Wie würdest du damit umgehen?‹

Mein armer lieber Mann war inzwischen schon bettlägerig und konnte sich kaum noch rühren, aber – ja, was soll ich sagen? Es war wie eine kleine Auferstehung. Er packte mit beiden Händen die Seitengeländer seines Bettes. Die Haare standen in alle Richtungen wie bei einem Windrotor. ›Was ich tun würde?‹, bellte er. ›Ich würde herausfinden, wo der Kerl wohnt, und dann würde ich hingehen, ihn heraus auf die Straße rufen und ihm einen Kinnhaken verpassen!‹

Und ich schwöre dir, Jack, um ein Haar hätte er sich aus dem Bett gestemmt und genau das getan. Er war ein altmodischer Mann. Ein getreuer Ritter. William war alles für mich. Ob ich ihn noch vermisse?« Ihr Blick verlor sich für einen Moment in der Ferne, während sie das Foto unter gekreuzten Armen an ihre Brust drückte. »Mir ist das Glück ausgegangen, Jack – mir ist das Glück ausgegangen.«

Die einzigen Misstöne zwischen Jack und Alice hatten sich ergeben, wenn sie auf seine Glaubensüberzeugungen zu sprechen kamen – oder nicht zu sprechen kamen, besser gesagt. Für Jack war das ein heikles und verstörendes Thema. Eigentlich hatte er nie recht gewusst, wie Oma über solche Dinge dachte, aber sie war eine tragende Wand seines Lebens. Mit ihrer Anerkennung und Ermutigung hatte sie ihm stets Kraft gegeben. Dazu kam die Furcht, ihr könnte eine Ewigkeit voller Freude entgehen, wenn sie nicht die Wahrheiten begriff, die ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren. Es war wie ein juckendes evangelistisches Ekzem, an dem er herumkratzte, bis er wund war.

Dabei erhob sie nicht einmal Einwände gegen das, was er ihr sagte. Keineswegs. Sie lachte ihn auch nicht aus wegen seiner Gedanken und seiner Begeisterung. Nein, sie reagierte gar nicht, und gerade das fand er so frustrierend und verwirrend. Sie saß einfach nur da und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Ratlose Besorgnis. Das war es, was bei diesen Gelegenheiten aus ihrer Miene sprach. Eines Tages bat er sie, ihm ehrlich zu sagen, warum sie kaum eine Regung zeigte, wenn er ihr von dem erzählte, was ihm wichtig war. Alice schüttelte nur den Kopf und blinzelte entschuldigend. Sie erinnerte Jack an Daphne aus der Quizsendung Eggheads, wenn ihr eine Antwort nicht einfällt. Eine Art Antwort gab sie ihm aber doch.

»Du musst mir verzeihen, Jack, wirklich. Es ist nur so, dass – also, wenn du über diese Dinge sprichst, dann höre ich ganz genau auf die Worte, ehrlich, aber sosehr ich mich auch bemühe, es kommt mir immer so vor, als ob ich dich gar nichts sagen hörte …«

Jack verstummte. Ihm blieb innerlich die Luft weg vor Schmerz und Verblüffung. Das war eine beängstigende Abweichung von der Norm, die zwischen Jack und Oma herrschte. Von diesem Moment an kamen alle Gespräche über das Thema zum Erliegen. Dieser einmalige Stolperstein in ihrer Beziehung hing von diesem Tag an immer in der Luft, wenn sie sich sahen, und manifestierte sich von Zeit zu Zeit in einem unbehaglichen Herumrutschen oder ausweichenden Blicken beiderseits. An ihrer gegenseitigen Zuneigung änderte er kaum etwas, aber er war unbestreitbar da. Alice und Jack verloren nie wieder ein Wort über den Glauben. Nach dem Tod seiner Großmutter war diese unerledigte Sache vom ersten Moment seiner quälenden Trauer an ein Stein im Schuh von Jacks Genesung.

Alice hinterließ ihrem einzigen Enkel eine ganze Menge Geld. Das würde hilfreich sein, vielleicht eine Art Kissen, auf dem er sein Haupt betten konnte, wenn alles andere scheiterte. Er stellte einen Scheck über eine fünfstellige Summe – ein Zehntel des Gesamtbetrages – für seine Gemeinde aus und steckte den Umschlag in den Briefkasten um die Ecke. Als er ihn mit einem flatternden Geräusch ins dunkle Innere fallen hörte, klopfte er sich die Hände ab. »Das wäre erledigt«, murmelte er, machte kehrt und stapfte davon.

Außerdem hinterließ Alice ihrem Enkel einen Brief.

Jack nahm sich eine Woche von seiner Arbeit im Gemeindezentrum in Bromley frei, um die Auflösung der Wohnung seiner Großmutter zu organisieren. Es war das zweite Mal, dass er die Erfahrung machte, die Habseligkeiten eines Menschen sortieren zu müssen, den er sehr geliebt hatte, und es war genauso qualvoll und unangenehm wie beim ersten Mal. Es kam ihm vor, als wäre jegliche Daseinsberechtigung von Omas Sachen gewichen, genau wie die Seele aus ihrem Körper entwichen war. Dekorationen, Bilder und Möbel hingen oder standen herum und sahen sinnlos und verlassen und grauenhaft ordentlich aus. Wie Bewohner einer unerreichbaren anderen Welt schauten Alice und ihr geliebter William von den Fotos auf dem Sekretär zu ihm herüber. Sie waren jetzt wieder vereint, da drüben auf der anderen Seite der Glasscheibe.

Am Ende einer düsteren und verschwitzten Woche war Jacks Arbeit nahezu getan. Emotional ausgezehrt schloss er zum letzten Mal Alices Wohnungstür ab und schleppte sich langsam durch die anbrechende Dunkelheit die Uferstraße entlang und den Hügel hinauf zu seinem Hotel. Weit unten zu seiner Linken schwappten die Meereswellen ans Ufer und zurück und wieder ans Ufer, wie sie es schon immer getan hatten. Zwei Zeilen aus einem Gedicht, das er einmal gehört hatte, kreisten in seinem Kopf herum und löschten nach einer Woche solch trübseliger Plackerei ohne Mühe jeden Anflug von geistlichem Optimismus aus.

Die See gibt allen Dingen ihren Unterricht.

Sie wogt und wogt und wogt, doch zu mir spricht sie nicht.

Erleichtert sah er, nachdem er aus der High Cliff in die Mount Road abgebogen war, die einladende Front des Hotels Hydro vor sich, Jacks absoluter Lieblingsunterkunft weit und breit. Das Hydro war ein ganz im edwardianischen Stil gehaltenes Haus, mit glanzvollen, prächtig möblierten Foyers und hohen Decken. Sein von Grund auf englischer Charakter wurde erfolgreich gepflegt und erhalten, wenn auch heutzutage hauptsächlich von Osteuropäern, was ihm aber, soweit Jack es sehen konnte, keinerlei Abbruch tat. In Omas Wohnung zu kampieren war nicht infrage gekommen. Die beredsame Stille in jenen hallenden Zimmern konnte einen das Gruseln lehren.

Nach dem Abendessen begab sich Jack an einen Tisch in dem großen Wintergarten, der an den Krocketplatz und den unsichtbaren Ozean dahinter angrenzte, bestellte sich eine Kanne vom stärksten verfügbaren Kaffee und nahm den Umschlag mit Alices Brief aus seiner Umhängetasche. Diesen Moment hatte er sich sozusagen aufgehoben, bis klar Schiff gemacht war. Eine Chance, die Stimme seiner Großmutter ein letztes Mal zu ihm sprechen zu hören.

 

Vorne auf dem Umschlag standen in Alices säuberlicher Handschrift die Worte: »Für meinen lieben Jack«. Er öffnete ihn mit einem leise gehauchten Seufzen, zog die gefalteten Blätter heraus, strich sie auf dem Tisch vor sich glatt und begann zu lesen.

Irgendwo draußen in der Dunkelheit, hinter dem Krocketplatz und der Straße, die daran vorbeiführte, und der unteren Hauptstraße und der Promenade und dem Kiesstrand, wogte unbeirrt die See.