Der Schattendoktor

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3. Der Brief

Mein lieber Jack,

ich grüße Dich, mein wunderbarer Enkel. Falls Du es wissen willst – ich beginne diesen Brief auf dem Klappsekretär vor meinem herrlichen großen Fenster zum Meer. Die Sonne scheint (diese Stadt soll ja angeblich so ziemlich der sonnigste Ort in Großbritannien sein, weißt Du!), der Himmel ist blauer als ein Heckenbraunellenei, und die See liegt einfach da und dümpelt vor sich hin in selbstgefälliger Schönheit, geschmückt mit ihren schönsten Edelsteinen.

Ich erinnere mich gerade daran, wie Du hier mit mir meinen sechsundachtzigsten Geburtstag gefeiert hast. Das war eine unserer schönsten Zeiten, nicht wahr? Am Morgen ließ ich mich großzügigerweise von Dir die ganze Promenade bis nach Holywell schieben, und wir fanden wieder einmal heraus, dass das immer weiter weg ist, als wir denken. Dort haben wir einen anständigen Kaffee getrunken und uns über die Trägheit in der Politik unterhalten, und viel wichtiger, über die seltsame Wirkung, die die Laute der Möwen auf die Seele haben. Weißt Du noch? Dann, nachdem ich am Nachmittag zu Hause ein Nickerchen gehalten hatte, hast Du mich zu einem frühen Abendessen in mein Lieblings-Thai-Restaurant am neuen Jachthafen ausgeführt. Ich weiß nicht mehr genau, was wir bestellt haben, nur noch, dass ich auf jeden Fall diese köstlichen Schmetterlings-Garnelen hatte, die dort immer so lecker sind. Mir läuft schon beim Schreiben das Wasser im Mund zusammen.

Was haben wir außer essen in dem Restaurant gemacht? Ach ja. Wir sind einem unserer Lieblingshobbys nachgegangen. Wir haben versucht, die Serienmörder unter den anderen Gästen zu erkennen, stimmt’s? Es gab da einen oder zwei vielversprechende Kandidaten, meine ich mich zu erinnern, besonders diesen Mann, der ganz allein am übernächsten Tisch saß. Er hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl, den Unterkiefer nach vorn geschoben, und schwenkte mit finsterer, räuberischer Miene seinen großen Kopf hin und her wie eine Rübe auf einem Stecken. Er kundschaftete wohl potenzielle Opfer aus, vermuteten wir. Doch dann kamen seine hübsche Frau und seine beiden fröhlichen Kinder herein und verdarben uns alles, indem sie ihn wie durch Zauberei in einen sympathischen, heiteren, freundlichen Menschen verwandelten, der schlechte Witze erzählte und offensichtlich von seiner Familie sehr geliebt wurde. Was für eine Enttäuschung! Dass die uns auch so den Spaß verderben mussten. Manche Leute nehmen einfach keine Rücksicht auf andere, nicht wahr? Wenn man schon wie ein Serienmörder aussieht, dann sollte man gefälligst auch einer sein. Oder aber sich mehr Mühe geben, eine positive Ausstrahlung zu haben. Das ist meine Meinung.

Wir hatten einen herrlichen Abend, Jack. Du wolltest unbedingt die Rechnung übernehmen, und ich bin natürlich eine sehr angenehme Gesellschaft. So waren wir beide zufrieden.

Es gab nur einen Moment, der ein bisschen querlief. Weißt Du noch, wie wir mit thailändischem Bier auf Deine Mutter und Deinen Vater angestoßen haben? Das war kein Problem, aber dann sagte ich etwas Unbedachtes:

»Hoffen wir, dass sie glücklich sind, wo immer sie jetzt sein mögen.«

Oder so etwas Ähnliches. Darauf trat ein klammes, furchtbares Schweigen ein, und es wurde sehr unbehaglich. Natürlich wusste ich, warum. Weder Du noch ich werden wohl je diesen abgrundtief scheußlichen Moment vergessen, als Du mich fragtest, warum ich mich offenbar nie sonderlich für das interessiere, woran Du glaubst – für Deine Hingabe ans Christentum.

Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass mir an jenem Tag der Mut fehlte, Jack. Meine Antwort auf Deine Frage war jämmerlich und nur zur Hälfte wahr. Ich glaube, ich sagte etwas in dem Sinn, ich fände keine Substanz in dem, was Du darüber sagtest oder wie Du darüber redetest, oder so etwas Ähnliches. Seither haben wir, wie Du weißt, den Kopf eingezogen, wann immer das Gespräch auch nur annähernd auf dieses Thema kam. Vielleicht war es nur ein ganz kleiner Elefant, aber er versteckte sich immer irgendwo im Zimmer. Und wahrscheinlich hast Du auch gemerkt, dass solche Viecher paradoxerweise immer größer werden, je weniger man sie füttert. Ich glaube, in dem Thai-Restaurant damals haben wir beide das Stampfen schwerer Füße gehört. Mich hat das sehr traurig gemacht.

Ich fürchte, das hier wird ein ziemlich langer Brief, aber ich muss ihn Dir aus zwei Gründen schreiben. Erstens will ich versuchen, es wiedergutzumachen, dass ich so wenig hilfreich und so feige war. Ich will Dir endlich erklären, was ich mit meiner völlig unzulänglichen Antwort damals gemeint habe. Und den zweiten Grund wirst Du vielleicht sehr seltsam und verschroben finden. Er hat mit etwas zu tun, was mir passiert ist, mit einem Erlebnis, das ich nie erwartet hätte. Ich kann mit Etiketten nicht viel anfangen und finde wirklich keine Worte, um zu erklären, wovon ich gerade spreche, also lasse ich es lieber. Sagen wir einfach, es hatte mit der Geburt (ein besseres Wort fällt mir nicht ein) von etwas Neuem zu tun. Vielleicht würdest Du es Glauben nennen. Nahegebracht hat es mir der Mann, von dem ich Dir in diesem Brief erzählen will. Im Zusammenhang mit ihm möchte ich Dir etwas vorschlagen, was Du vielleicht tun solltest.

Also, zuerst: Was habe ich Dir über die Art und Weise, wie Du zu mir von Deinem Glauben gesprochen hast, sagen wollen? Ach je, das ist nicht einfach. Ich muss es wohl einfach denken, fühlen und dann zu Papier bringen. Geh nicht weg.

Okay, ich bin wieder da. Ich habe nachgedacht und nachgefühlt, und jetzt bleibt nur noch eins zu tun. Also los. Ich hatte, wenn Du in meine Richtung über den Glauben gesprochen hast, immer das deutliche Gefühl, dass ich an dem Gespräch eigentlich gar nicht beteiligt war. Mir kam es so vor, als ob Du nur mit Dir selbst redetest statt mit mir. Mich wolltest Du nur an Bord haben, damit ich Dir irgendwie bei der Hauptaufgabe helfe, nämlich Dich selbst davon zu überzeugen, dass Du an das glaubst, was Du da sagst. Das hat mich nicht nur verwirrt. Es hat mich auch traurig gemacht. Wie warst Du nur in diese enge Gefängniszelle aus Furcht und Verwirrung geraten, in der Du immerzu hin und her tigern und laut von der tollen Freiheit erzählen musstest, die Du gefunden hattest und die alle anderen auch brauchten? Das ergab alles keinen Sinn, aber mit angstgetriebener Leidenschaft lässt sich nicht streiten. Also kniff ich. Ich hätte mich ja auch dahinterklemmen und richtig darüber nachdenken und es versuchen können. Aber das habe ich nicht, und das tut mir leid. Ich wollte es einfach nicht aufs Spiel setzen, das mit uns. Ich wollte, dass wir beide so weitermachen wie immer. Ich hoffe, lieber Jack, Du hast wie ich das Gefühl, dass uns das im Großen und Ganzen gelungen ist. Aber ich weiß natürlich genau, dass der Schatten immer da war. Bis jetzt, hoffe ich. Es tut mir wirklich leid, Jack. Bitte vergib mir.

Und mit dem Stichwort Schatten komme ich zu dem zweiten Grund, warum ich diesen Brief schreibe. Ich möchte Dir von etwas erzählen, was mir letztes Jahr passiert ist. Ein paar Dinge in dieser Geschichte sind merkwürdig und für mich einigermaßen peinlich. Du bist erst der zweite Mensch, der von meinem schrecklichen Geheimnis erfährt. Ich fürchte, Du wirst auch ein bisschen bestürzt darüber sein. Oh ja. Ich glaube, ich höre jetzt lieber auf und setze mich morgen früh wieder dran.

Da bin ich wieder. Das Frühstück ist abgeräumt, die Sonne strahlt immer noch, und ich habe keine Ausrede, es vor mir herzuschieben. Also los.

Es war Januar. Du weißt ja, wie es einem im Januar manchmal gehen kann, Jack. Das ist wie so ein Langstreckenflug. Ich habe das nur einmal gemacht, als ich mit William seinen älteren Bruder in Australien besucht habe. Ich weiß noch, wie wir am Flughafen Gatwick in die Qantas-Maschine stiegen und die Kante des Vordersitzes ganz leicht mein Knie berührte. Überhaupt nicht unangenehm, weißt Du. Nur ein ganz leichter Druck. Aber als wir auf dem Flughafen Changi in Singapur zu unserer vierstündigen »Pause« zwischenlandeten, hatte sich diese harmlose Sitzkante in einen rotglühenden Metallspieß verwandelt, der sich in mein Bein bohrte, als wollte er nach Öl suchen. Ich weiß nichts mehr von Changi, außer, wie riesig der Flughafen war und was für ein herrliches Gefühl es war, von dieser gewaltsamen Attacke auf meinen eingepferchten Körper befreit zu sein. Für William war es natürlich noch schlimmer. Er war ja viel größer und dicker als ich. Aber er beklagte sich kaum. So ein Flegel, mir das ganze Jammern allein zu überlassen. Der alte Egoist.

Jedenfalls empfinde ich den Monat Januar genauso, und ganz besonders diesen Januar im letzten Jahr. Du weißt ja, wie sehr ich Deinen Großvater geliebt habe und wie schwer es mir fiel, mich einer Zukunft ohne ihn zu stellen oder sie mir auch nur vorzustellen. Trauer ist etwas Furchtbares, Jack. Du hast es ja selbst erlebt und weißt, wovon ich rede. Ich glaube, wir haben unsere Trauer über den Tod Deines Vaters jeder auf seine Weise durchlebt, aber wir kamen gut miteinander aus, mit unserem Schweigen wie auch mit dem, was wir sagten. Es war für uns beide die richtige Art und Weise, und es funktionierte. Irgendwie haben wir es überlebt, oder?

Aber weißt Du, Trauer geht nie ganz weg. Wir lernen wohl, unser Leben ein bisschen besser zu steuern, einfach über die Runden zu kommen, einfach in den Laden an der Ecke zu gehen und eine Dose Bohnen und einen Laib Brot zu kaufen. Aber das riesige Ungeheuer mit den scharfen Zähnen lauert immerzu irgendwo hinter einem Baum oder hinter der nächsten Ecke, um uns anzuspringen und zu packen und uns daran zu erinnern, dass tief im Innern der Schmerz in Wirklichkeit nie weniger geworden ist.

 

Trotzdem war ich Ende Dezember sehr zufrieden mit mir. Statt über Weihnachten zu Hause zu sitzen und niedergeschlagen zu sein, hatte ich alle möglichen konstruktiven Pläne für Besuche bei und von Leuten gemacht, die ich mag (unter anderem von Dir, Jack), und Sachen zu unternehmen, für die ich mich schick machen und ein Taxi nehmen und mich richtig ins Zeug legen musste. Es schien sehr gut zu funktionieren. Ich machte nur einen Fehler.

Ich ging nämlich an Silvester, dem schlimmsten Abend des Jahres für viele Leute wie mich, auf eine Seniorenparty in eine anglikanische Kirche in der Stadtmitte von Eastbourne. Ich hätte mir ausrechnen können, wie abgrundtief furchtbar das sein würde. Schüchternes Geplauder bei einem halben Glas warmem Weißwein, eingehende Erörterungen des Zustands unserer Beine, eine Runde Silvester-Bingo, bei der ich einen gehäkelten Eierwärmer gewann, der noch nicht ganz fertig war, und allgemeine gespielte Aufregung um zehn Uhr, als das Programm vorsah, dass wir uns nun gegenseitig auf die Wangen küssen und so tun sollten, als wäre es Mitternacht. Ich weiß nicht, ob Du schon einmal miterlebt hast, wie alte Leute sich unter solchen Umständen gegenseitig küssen, Jack. Senior/in A hält mit beiden zitternden Händen vorsichtig Senior/in Bs Kopf fest, damit dieser nicht durch den Druck des Speckschwartenkusses herunterkugelt und zu Boden stürzt wie eine dieser Steinkugeln, die manchmal die Gartentorpfosten vornehmer Häuser schmücken.

Ich weiß, das hört sich gemein an. Es waren ja nette Leute, und es war natürlich auch alles furchtbar gut gemeint. Aber für mich war diese Ablenkung nun einmal ein Fehler, und es ging völlig nach hinten los. Sie fiel um wie ein bleierner Dominostein, der beim Fallen all die kleinen Säulen der Zufriedenheit mit sich riss, die ich mühsam um die ganze Weihnachtszeit herum aufgebaut hatte. Na ja, sehr stabil können sie wohl von Anfang an nicht gewesen ein. Als ich später am Abend auf dem Rücksitz eines teuren Taxis unterwegs zurück nach Hause war, bohrte sich der Schmerz eines Lebens ohne William so erbarmungslos in mich hinein, dass ich mich krümmte und kaum atmen konnte. Der lange Marsch meines einsamen Lebens fühlte sich an, als würde er ewig andauern, und nichts deutete darauf hin, dass ich je an einem besseren Ort ankommen oder dass der Schmerz je weniger werden würde.

Wurde er auch nicht. Es wurde im Verlauf dieses öden Monats immer schlimmer. Ich geriet in einen dieser Teufelskreise, aus denen man einfach nicht herauskommt. Je niedergeschlagener ich wurde, desto weniger Lust hatte ich, Leute zu sehen, die mir wichtig sind, und je weniger Kontakt ich zu Leuten hatte, die ich liebe, desto tiefer baumelte ich über dem Abgrund wie dieser arme Kerl in der Geschichte von Edgar Allan Poe. Sei nicht böse, Jack. Du bist ein Schatz, was immer Du auch glaubst. Ich weiß genau, dass Du alles hättest stehen und liegen lassen und zu mir gekommen wärst, wenn Du etwas davon gewusst hättest, aber weißt Du, ich hatte einfach überhaupt keine Zuversicht mehr. Ich kauerte elend in einer kleinen, finsteren Welt ohne William. Mehr gab es nicht. Mehr war ich nicht.

Jack, verzeih mir, wenn Dich das schockiert und verletzt, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht mehr leben wollte. Ich wusste zwar nicht, wie ich meinem Leben ein Ende setzen sollte, aber ich war entschlossen, dass ich es bald erledigen würde. Wenn auch nur die geringste Chance bestand, wieder mit meinem geliebten Mann vereint zu sein, dann war dafür kein Preis zu hoch. Und wenn jenseits des Grabes doch überhaupt nichts war, dann war es auch egal. Der Schmerz würde endlich vorbei sein, und die Leere würde mich verschlucken.

Dann passierte es.

Es war ein Donnerstag, und das Wetter an jenem Tag war das genaue Gegenteil von dem, was ich durchs Fenster vor mir sehe, während ich diesen Brief schreibe. Regen und Wind hatten seit dem frühen Morgen auf die Küste eingepeitscht. Als ich um sechs Uhr abends den Vorhang meines Wohnzimmers zur Seite zog, war der Himmel draußen so schwarz wie die Lücke in meinem Leben. Der Sturm schleuderte den Regen in mächtigen Fontänen auf das Pflaster auf der anderen Straßenseite. Abgesehen von den verwaschenen Scheinwerferstrahlen einiger vereinzelter Autos sah ich nur die Lichter der hübschen pastellfarbenen Lampen, die im vorigen Jahr entlang der Promenade aufgestellt worden waren, und selbst ihre massiven Mäste schienen von dem Sturm ordentlich durchgeschüttelt zu werden.

Ich beschloss, vor dem Abendessen noch einen Spaziergang zu machen. Wieso nur? Was hat die verrückte Alice nur geritten? Frag nicht. Einfach durchgeknallt, nehme ich an. Im Radio habe ich irgendwann mal von einem Stamm in Afrika gehört, dessen junge Männer einen langen, harten Initiationsritus durchlaufen müssen, bevor sie als Erwachsene gelten. Einer der Stammesältesten wurde gefragt, warum ihnen all diese schmerzhaften Strapazen auferlegt würden. Seine Antwort war absolut verblüffend.

»Wenn sie das nicht machen würden«, sagte er, »würden sie wahrscheinlich ihre Dörfer niederbrennen, nur, um die Hitze zu spüren.«

So ähnlich war es wohl ein bisschen, als ich da hinaus in den Sturm ging, Jack. Ein mächtiger, brüllender Stimulus, um ein klaffendes Vakuum zu füllen. Und überhaupt, wieso denn nicht? Da gab es nichts zu fürchten. Wenn ich hinunter zum Strand ging und eine Sturmbö der Stärke zehn mich packte und hinaus in den Ärmelkanal schleuderte, würde ich nur Dankbarkeit empfinden. Überfahren zu werden hätte mir genauso gut gepasst, solange das Auto nur groß genug war und ordentlich Tempo draufhatte. Allerdings zog ich mich passend für das Wetter an. Was hätte meine Mutter dazu gesagt, wenn ich nicht meinen Regenmantel angezogen hätte. Lach nicht. Solche praktischen, banalen Gewohnheiten sind schwer totzukriegen. Und außerdem ging es mir schon immer gegen den Strich, meine liebe Mutter zu verärgern.

»Schön und gut, wenn du dich umbringen willst, Alice«, hätte sie vielleicht gesagt, »aber deshalb musst du ja nicht gleich in so ein scheußliches Wetter hinausgehen, ohne dich ordentlich einzupacken.«

Ich schaffte es, die Straße zu überqueren, ohne irgendwelche Verkehrsstörungen auszulösen, und kämpfte mich dann, sehr mühsam wegen meiner blöden Beine, die Promenade entlang bis zu dem alten viktorianischen Musikpavillon, der schon immer eines meiner Lieblingsplätzchen war, wenn es stürmte. Neben dem Pavillon, auf der seezugewandten Seite, stand ein solider Holzunterstand, von dem man hinaus aufs Meer blickte. Ich war ziemlich sicher, dass die Bank im Innern weit genug hinten stand, um den Insassen Schutz vor dem schlimmsten Wetter zu bieten. Durchgepustet und durchnässt, wie ich war, schleppte ich mich keuchend in den Unterstand, immer noch mit der Hand die Regenkapuze vor dem Gesicht zusammenkneifend, und ließ mich, so schwer, wie es einem Federgewicht wie mir möglich ist, triefend und zerzaust auf die Bank niederfallen. Ich schob mir die Kapuze zurück in den Nacken, blinzelte gegen die Feuchtigkeit in meinen Augen an und schüttelte meine Haare aus. Dabei fiel mein Blick nach links, und plötzlich bemerkte ich einen dunklen Schatten drüben auf der anderen Seite des Unterstandes. Ich war nicht allein. Was für ein Schreck! Ich glaube, ich habe sehr hörbar aufgeschrien.

Am anderen Ende der Bank saß ein Mann.

Menschen sind schon komische Geschöpfe, nicht wahr, Jack? Ich jedenfalls. Der Gedanke, aufs Meer hinausgetrieben oder von einem Bus überfahren zu werden oder mich mit Tabletten vollzustopfen, bis Bewusstlosigkeit und Tod mich überkommen – das alles schienen mir akzeptable Mittel zu sein, um den Schmerzschalter auf »Aus« zu stellen. Aber mich hier plötzlich allein einem fremden Mann gegenüberzusehen, an einem Ort, wo nicht damit zu rechnen war, dass irgendein anderer Mensch auftauchte, das ließ mir die Angst in alle Glieder fahren. Wenn schon, dann wollte ich meinem Leben selbst ein Ende machen, meine Güte. Von jemand anderem gemeuchelt zu werden, davon war bei der Brainstorming-Sitzung nie die Rede gewesen, nicht einmal als winzige Fußnote ganz unten in der Ecke der Flipchart.

Mein erster Gedanke war, mich schleunigst aus dem Staub zu machen. Das tat ich aber nicht, und zwar aus drei Gründen. Erstens konnte ich das gar nicht. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, mich schleunigst irgendwohin zu bewegen. Zweitens, wer weiß, was ich damit auslöste, wenn ich mich jetzt bewegte? Womöglich würde er aufspringen und mich packen. Mein dritter Gedanke war, dieser Mann, wer immer er auch war (mehr als den schattenhaften Umriss einer männlichen Gestalt konnte ich nicht erkennen), konnte keinesfalls damit gerechnet haben, mitten im Januar während eines fürchterlichen Wolkenbruchs in einem Unterstand am Strand von Eastbourne Gesellschaft zu bekommen. Ich war diejenige, die hier plötzlich aufgetaucht war. Ich war der Eindringling. Trotzdem saß mir die Angst im Nacken, so sehr, dass mir nichts anderes einfiel, als mich wie eine Bilderbuch-Engländerin zu benehmen.

»Guten Abend«, sagte ich höflich. Ich sprach laut gegen die brausende Kakophonie des Windes an und gab mir alle Mühe, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

Als ich das sagte, wandte er den Kopf langsam in meine Richtung. Obwohl ich keine Einzelheiten in seinem Gesicht erkennen konnte, begann meine Furcht von diesem Moment an zu verfliegen. Keine Ahnung, warum. Ich weiß nur, dass der Haarkranz um seinen Kopf … eine gute Form hatte. Ich weiß, jetzt lachst du mich bestimmt aus, Jack. Lach nur, aber es war so. Er hatte eine ausgesprochen gute Form.

»Überhaupt nicht«, sagte er. »Es ist ein Vergnügen, etwas Gesellschaft zu haben. Es tut immer gut, einen anständigen Sturm mit anderen zu teilen.«

Seine Stimme, Jack. Voll, warm, beruhigend. Die Stimme eines gereiften Mannes, schätzte ich. Vielleicht Mitte sechzig. Ich hatte es ja schon immer mit Stimmen. William hatte eine wunderschöne Stimme, es sei denn, er war sauer und brüllte. Die Stimme dieses Mannes lud mich ein, dazuzugehören. Sie deutete an, dass ich bereits dazugehörte. Wir waren eine Gemeinschaft. Hört sich das lachhaft an? Ist es auch. Aber es war so. Wie schafft man das mit ein paar Worten? Ich seufze, während ich dies schreibe.

»Sind Sie von hier?«, fragte ich.

»Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich habe das Glück, ein kleines Landhäuschen zu besitzen, ein paar Meilen von Wadhurst entfernt, ungefähr zwischen Hastings und Tunbridge Wells. Und Sie?

»Also, ich – ach, wissen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich etwas näher rücke, damit ich nicht so brüllen muss?«

»Warten Sie, ich rücke hinüber.«

Das hätte ein bisschen beunruhigend sein können, nicht wahr, Jack? War es aber nicht. Er rutschte ein paar Handbreit näher, lehnte sich auf der Bank zurück und streckte seine Beine vor sich aus.

»Besser?«

»Viel besser, danke. Ich habe eine Wohnung drüben auf der anderen Straßenseite, nur ein kleines Stück von hier. Eine sogenannte Gartenwohnung. Ein winziger Garten. Keine Treppen. Ich kann ein paar Schritte gehen. Es war ziemlich anstrengend für mich, jetzt hier herunterzuhumpeln. Aber Treppensteigen ist nichts mehr für mich.«

Er nickte langsam, sagte aber nichts mehr. Also beschloss ich weiterzureden:

»Dann sind Sie geschäftlich in Eastbourne? Oder besuchen Sie jemanden?«

»Weder noch. Ich mache hier Urlaub.« Er deutete mit einer Hand über seine Schulter nach hinten. »Eine Woche im Sheldon am Burlington Place. Sehr schönes Frühstück. Die bereiten es dort so zu, als wollten sie es selbst essen. Und das Wichtigste, der Kaffee ist gut.«

Ich überlegte.

»Sie machen im Januar in Eastbourne Urlaub? Haben Sie Familie oder Freunde hier?«

Er schmunzelte.

»Nein, auch das nicht – außer Ihnen, hoffe ich. Sie scheinen sehr nett zu sein. Ich war noch nie in Eastbourne. Und was den Urlaub im Januar angeht – nun ja. Ich habe wohl eine Schwäche für trübes Wetter. Hat wahrscheinlich damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin. Wir alle vermissen hin und wieder auch das Trostlose. Ist das Nostalgie? Nein, nicht nur. Eine Rückkehr zu den Wurzeln vielleicht? Was auch immer, im Winter am Meer zu sein ist in einem solchen Fall genau das Richtige, finden Sie nicht? Wobei ich zugegebenermaßen ein erbärmlicher Schummler bin. Ich stehe nur zeitweise auf trübes Wetter. Im Sheldon ist es gemütlich warm, und die Handtücher sind dick und flauschig. Jede Menge brühheißes Wasser. Da lohnt sich ein Spaziergang im Sturm allein für das Vergnügen, wieder zurückzukommen.«

 

»Dann fiel Ihre Wahl rein zufällig auf Eastbourne?«

»Zufällig? Nein, überhaupt nicht. Ein Freund hat es mir empfohlen. Mein Freund George. Er kommt öfter hierher.«

Einen Moment lang kam es mir so vor, als ob er in der Dunkelheit mein Gesicht musterte.

»Erzählen Sie mir etwas von sich. Sie haben völlig recht. Es ist ein bisschen seltsam, im Winter Urlaub am Meer zu machen. Aber nicht so seltsam wie das, was Sie gerade getan haben. Was war so wichtig, dass Sie sich durch dieses scheußliche Wetter bis hierher durchgekämpft haben? Auf diesen mörderischen Stufen da oben hätten Sie leicht Schiffbruch erleiden können. Und niemand hätte es gemerkt. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Es ist ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Aber für diese Expedition muss es doch bestimmt einen sehr guten Grund gegeben haben.«

Da habe ich ein bisschen die Nerven verloren, Jack. Ich war völlig baff, oder wie auch immer man das heutzutage ausdrückt. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Also flunkerte ich. Ich sagte das, wovon ich mir wünschte, dass es die Wahrheit wäre.

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich habe den ganzen Tag über drinnen gehockt. Da wollte ich mich vor dem Abendessen noch ein bisschen durchpusten lassen und habe es meinem Mann überlassen, das Essen fertig zu machen, und bin einfach – herausgekommen. Er sagte zwar, ich solle lieber nicht gehen, aber ich fürchte, ich bin ein ziemlicher Sturkopf. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie scheußlich es hier draußen ist. Als ich dann beim Musikpavillon ankam, beschloss ich, mich hier erst einmal ein paar Minuten lang unterzustellen, bevor ich mich auf den Rückweg durch Regen und Wind mache. Und wo wir gerade davon sprechen …« Ich hob mein linkes Handgelenk und starrte lächerlicherweise in die Richtung meiner nicht vorhandenen Armbanduhr. »Ich muss dann mal los. William wundert sich bestimmt schon, wo ich bleibe.«

»William.«

»William ist mein Mann.«

»Ich glaube, der Wind hat sich ein bisschen gelegt. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten und ein bisschen helfen, wieder hinauf auf die Straße zu kommen?«

»Oh! Oh. Ja. Vielen Dank. Ja. Ich bedanke mich herzlich …«

»Verraten Sie mir Ihren Namen?«

»Ich heiße Alice. Und Sie?«

»Doc. Sie können mich Doc nennen.«

Jack legte das A4-Blatt neben seine Kaffeetasse auf den Tisch und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Er brauchte ein paar Augenblicke, um seine Empfindungen über das, was er erfahren hatte, zu sortieren. Alices Versuch, ihre Haltung zu seinem Glauben zu erklären, hatte ihn erschüttert. Wie hatte sie noch geschrieben?

»Du bist ein Schatz, was immer Du auch glaubst …«

Was sollte das heißen? Was für einen Reim sollte er sich darauf machen?

Doch vor allem die Nachricht, dass seine Großmutter ihrem Leben ein Ende hatte machen wollen und aus irgendeinem Grund bei ihm keine Hilfe gesucht hatte, traf ihn tief und erschreckte ihn auf einer sehr elementaren Ebene. Jack hatte sich nie mit der wortlosen, unausweichlichen Botschaft dieses Aktes auseinandersetzen müssen. Nun jedoch konnte er sie spüren.

»Ihr Leute, denen etwas an uns liegt. Ihr Angehörigen und Freunde und Liebhaber, die ihr uns ins Herz geschlossen habt. Ihr seid nicht genug. Wärt ihr genug, so würden wir bleiben. Wir gehen, und ihr werdet nur durch Zufall herausfinden, dass wir gegangen sind.«

Es war eine harte Logik.

»Ach, Oma!«, flüsterte Jack in seine Hände hinein. »Ich glaube, dir ist nie klar gewesen, wie sehr ich es brauchte, dass du mich brauchtest. Ich hätte es dir sagen sollen. Und du hättest es mir sagen sollen. Du hättest es mir wirklich sagen sollen …«

Er schaute wieder auf das Blatt, das vor ihm lag. Offensichtlich war die ganze Sache mit dem Suizid vorbeigegangen. Oma war eines natürlichen Todes gestorben. Das wusste er. Aber was hatte es mit diesem Vielleicht-würdest-du-es-Glauben-nennen-Erlebnis auf sich und mit diesem fremden Mann, dem sie mitten in einem Unwetter begegnet war? Und was, so fragte er sich, als er wieder zu Alices Brief griff, wollte sie ihm vorschlagen, das er vielleicht tun sollte?

Er kam kaum hinterher. Die Gedanken seiner Großmutter liefen meistens nicht in besonders geraden Bahnen, um es milde auszudrücken.

Jack steckte seinen Schlüssel in die Tasche, raffte den Umschlag und die Briefbögen zusammen, zahlte an der Theke seine Rechnung und ging auf sein Zimmer im zweiten Stock. Dort, in der geordneten Zurückgezogenheit, die nur in einem doppelt verriegelten Hotelzimmer zu finden ist, nahm er sich einen Whisky aus der Minibar und machte es sich an dem Fenster bequem, das laut Broschüre einen »Seitenblick aufs Meer« bot. Dieses Extra verteuerte den Zimmerpreis pro Nacht um zehn Pfund, aber Jack fand, dass sich jeder Penny dafür lohnte. In diesem behaglichen Erker fühlte er sich paradoxerweise viel näher an der dunklen, wogenden See und dem verlassenen Strand, den anderen verirrten Seelen und dem hoch aufragenden Beachy Head weit drüben im Westen.

Er nahm den Brief seiner Großmutter zur Hand und las weiter:

Und so marschierten wir los, Jack, ich wieder total vermummt und er mit hochgeschlagenem Mantelkragen, und ich muss sagen, es tat gut, mich auf einen starken Arm stützen zu können. William wäre das nur recht gewesen. Nicht, dass ich allein hinunter ans Ufer gegangen wäre. Darüber hätte er mit mir geschimpft. Aber Hilfe von einem freundlichen Herrn anzunehmen – das hätte er als vernünftiges, besonnenes Verhalten angesehen.

Ohne etwas zu sagen, stiegen wir die Stufen hinauf und überquerten die King’s Parade hinüber zur anderen Straßenseite. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Der Regen war nicht mehr so schlimm wie zuvor, aber der Sturm drosch auf alles ein, was sich ihm in den Weg stellte, wie ein Wahnsinniger, der spürte, dass man ihm eine Zwangsjacke anlegen wollte. Erst im Schutz des kleinen weißen Vordaches vor meiner Wohnung konnten wir uns wieder sprechen hören. Im Licht der Außenlampe über meiner Tür konnte ich ihn jetzt deutlicher sehen. Sein Alter hatte ich etwa richtig eingeschätzt, glaube ich. Er hatte ein gutgeschnittenes Gesicht. Glattrasiert. Gutaussehend, aber nicht so wie ein Filmstar. Eher wie ein Bühnenschauspieler. Ein zerfurchtes Gesicht mit vielen Falten, die es aber nur interessanter aussehen ließen. Die Augen traurig, aber freundlich. In ihnen schlummerte vielleicht so etwas wie eine schwererrungene Freude, wenn Du Dir darunter etwas vorstellen kannst. Braunes, gewelltes Haar, ein bisschen lang für sein Alter, durchzogen von grauen Strähnen und von Wind und Regen zu Locken zerzaust. Er sah so beruhigend aus, wie er dort stand, die Hände tief in den Taschen seines Barbour-Mantels vergraben. Er wartete wohl, nahm ich an, dass ich in meiner Wohnung verschwinden und die Tür sicher hinter mir schließen würde. Ich hatte schon angefangen, irgendetwas ziemlich Vorhersehbares zu sagen, um ihm für seine Hilfe zu danken, als er mich unterbrach.