Buch lesen: «Rache: Blendwerk II», Seite 2

Schriftart:

«Heerführer Garak.», salutierte sein Major neben ihm und wartete geduldig, bis ihm sein Kommandant die Erlaubnis zum Sprechen erteilte.

Garak ließ sich jedoch Zeit. Er genoss den Triumph, die damit verbundenen neuen Privilegien und die Macht, die diese mit sich brachten. Hier oben in dem neuen Grenzland war er nun so etwas wie der König. Bis auf die Arkanische Königin und ihren engsten Berater, den Baron von Illmenstein, konnte er hier oben tun und lassen was er mochte. Doch er musste sich vorsehen. Das wusste er genau. Denn diese Macht war auch sehr verführerisch. Und ihre Auswirkungen manifestierten sich in Arroganz und Leichtsinn.

Unabhängig davon. Zuerst galt es hier im Norden für Recht und Ordnung zu sorgen und den Menschen bewusst zu machen, dass sie, die Arkanier, nicht ihre Feinde waren. Und er hatte schon eine Idee, wie er das hinkriegen wollte.

«Entschuldigung.», sagte der Heerführer schließlich an den Major gewandt. «Bitte sprechen Sie!», fuhr dieser fort und nippte an seinem Kelch mit dem verdünnten Wein.

«Heerführer. Wir haben alle Gefangenen zusammengetrieben. Sie sind nun bereit für den Abtransport.»

«Gut. Was ist mit den Baumeistern und ihren Gehilfen?»

«Sie haben alle Werkzeuge und Geräte zusammengepackt und auf die Wagen verladen. Die 300 Mann starke Einheit zu ihrem Schutz steht ebenfalls bereit. Alle warten nur noch auf ihren Befehl sich ihren Zielen zu zuwenden.»

Zufrieden blickte der Heerführer von seinem Zelt auf der kleinen Anhöhe auf den Zug von Wagen, Soldaten und Gefangenen.

«Sind Sie sich sicher, dass 300 Mann als Begleitschutz ausreichen?», hakte der Major unvermittelt beim Heerführer nach.

«Das Heer der Flüchtigen reitet in den Norden. Das Expeditionskorps ist ihnen auf den Fersen. Unsere Feinde sind momentan auf der Flucht. Sie sind weder organisiert noch in der Lage im Moment eine Streitkraft größer als 2000 Mann zu stellen. Bis es jedoch soweit ist, sind wir bereits in der alten Feste und haben uns verschanzt. Haben Sie Vertrauen, mein Guter. Alles läuft genau nach Plan.», antwortete der Heerführer, ohne seinen Blick von dem Zug abzuwenden.

«Wie sieht es mit dem Viehbaron aus?», fuhr der Heerführer nach einem Moment fort.

«Auf Befehl des Königs und des Barons ist dieser mit seinen Getreuen auf sein Land zurückgekehrt und hat mit dem Wiederaufbau seines Gutes begonnen. Seine Felder und…», begann der Major und wurde sogleich von dem Heerführer unterbrochen.

«Nein. Sein persönlicher Haushalt interessiert mich nicht. Ich will wissen, wie es mit der Straße zu der alten Feste aussieht. Wann wird diese fertiggestellt?»

«Darüber kann ich nichts sagen, Heerführer. Aber der Baron kennt seine Order.»

«Hm. Schickt eine Nachricht an unseren „Verbündeten“ und teilt ihm mit, dass ich so bald wie möglich mich persönlich von den Fortschritten beim Bau erkundigen möchte. Diese kleine Botschaft sollte den Viehbaron nicht vergessen lassen, was seine eigentliche Aufgabe ist. Nun gut. Und nun gebt das Zeichen zum Aufbruch!», raunte dieser selbstzufrieden, während sich sein Blick auf den Zug der Gefangenen konzentrierte.

Pflichtbewusst wandte sich der Major den wartenden Offizieren im Hintergrund zu und verteilte sogleich die Order ihres Vorgesetzten.

Begleitet von Fanfaren begann sich dieser schließlich seinen Weg in Richtung Nordwesten zu bannen.

Zufrieden wandte sich der Heerführer seinem Stellvertreter zu: «Major. Lassen Sie die Männer aufsitzen. Es wird an der Zeit, dass wir uns auf den Weg nach Heloport machen. Die Versammlung beginnt in einer Stunde und ich möchte unsere Gastgeber nicht warten lassen.»

«Verstanden, Heerführer.», salutierte dieser und begann sogleich die Wünsche seines Herrn in die Tat umzusetzen.

Zu später Abendstunde ritt der Heerführer in Begleitung seiner persönlichen Leibgarde, bestehend aus 10 Arkanischen Soldaten, in die Hauptstadt des freien Grenzlandes. Die Stadt machte auf den Heerführer keinen besonders wohlhabenden Eindruck.

Obwohl sich die Sonne bereits dem Horizont zuneigte, waren immer noch viele Bürger auf den Straßen der Stadt unterwegs. Langsam aber bemächtigt galoppierte der Hauptmann vor- weg. Die Menschen auf der Straße machten bereitwillig Platz, während ihre neugierigen Blicke die Neuankömmlinge keine Sekunde aus den Augen ließen. Hier und da tauchten vereinzelt Menschen am Straßenrand auf, die den Arkanischen Soldaten freudig zuwinkten oder „Lang lebe das Arkanische Königreich“ zuriefen. Doch mindestens genauso viele der Anwesenden auf der Straße hüllten sich in Schweigen.

Der Heerführer wusste nur zu gut, wie gefährlich die Gradwanderung war, die er hier vollführte. Schon einmal ist sein Vorgänger an jenem Ort, an diesem Volk gescheitert. Er musste sich also hüten. Und vor allem musste er seine Worte mit Bedacht wählen. Es galt sich das Vertrauen zu verdienen und genau das hatte er vor.

Langsam und freundlich lächelnd führte er sein Pferd entlang der Hauptstraße in Richtung der großen Halle des Friedens. Dabei war er stets bemüht hier und da ein freundliches Wort oder ein Lächeln an jene zu richten, die ihm und seinesgleichen freundlich gegenüber traten.

Als er letztendlich draußen vor der großen Halle sein Pferd zum Stehen brachte, fühlte er plötzlich eine gewisse Aufregung in sich aufsteigen. Für einen Moment schloss er die Augen und genoss dieses Gefühl.

Sicherlich, es gab viele Menschen, die dieses Gefühl nicht mochten. Denn es führte auch zur Unsicherheit. Er aber genoss es, denn erst in solchen Momenten hatte er das Gefühl, sich richtig lebendig zu fühlen.

«Heerführer.», durchbrach im nächsten Augenblick eine Stimme zu seiner Rechten seine Gedanken und brachte ihn zurück.

Langsam öffnete der Heerführer seine Augen und blickte auf den Hauptmann seiner Wachen. Mit einem leichten Nicken gab er diesem zu verstehen, dass alles in Ordnung seiEinen Augenblick später stieg der Heerführer von seinem Pferd ab und reichte die Zügel an einen der Soldaten.

«Heerführer. Sind Sie immer noch der Meinung, dass keiner meiner Männer Sie zu der Versammlung begleiten soll?»

«Ja. Alles andere würde die Anwesenden nur noch mehr einschüchtern.», erwiderte der Heerführer und legte mit einem Lächeln auf den Lippen seine Hand auf die Schulter des Hauptmanns. «Keine Sorge. Nur ein Narr würde versuchen, mich hier vor so vielen Zeugen zu töten. Aber falls sie es beruhigt. Ich habe dafür gesorgt, dass sich hinter dieser Tür genügend Männer und Frauen befinden, die uns freundlich gesinnt sind.»

Zufrieden wandte sich der Heerführer von dem Hauptmann ab und schritt gefolgt von diesem in Richtung Eingang. Dort erwartete ihn bereits der Viehbaron.

«Heerführer, es ist mir eine Freude Sie endlich hier im Norden begrüßen zu können. Hier in der Hauptstadt unseres Landes.», begrüßte ihn der Viehbaron.

«Viehbaron. Ich freue mich sehr, Sie hier anzutreffen. Doch fürchte ich, dass wir unseren Plausch auf einen späteren Zeitpunkt verlegen müssen. Kommt! Lasst uns das Volk der Nordmänner nicht länger auf die Folter spannen.», ordnete dieser an und schritt an dem Viehbaron vorbei in die große Halle.

Als schließlich der Heerführer durch den großen Eingangsbereich vorbei an einigen Nordmännern in die große Halle des Friedens eintrat, verstummte auf einen Schlag das Gemurmel der Anwesenden. Das einzige, dass in diesem Augenblick in der Bewegung nicht erstarrte, waren die Flammen der unzähligen Fackeln, welche den Raum in ein gelb-rotes Farbenspiel tauchten.

Mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht ließ der Heerführer seinen Blick entlang der Versammelten schweifen. Und dann, als er das Gefühl von Aufregung in sich erneut aufsteigend spürte, trat er einen Schritt vor und sagte mit fester Stimme: «Volk des Nordens. Ich weiß, dass das, was ich jetzt sage, nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Aber ich meinerseits freue mich hier zu sein. Versammelte, bitte…», fuhr dieser fort und hob die Arme, um seine Rede zu betonen, «lasst uns eins klarstellen. Ich bin nicht hier, um Ihnen irgendwelche Geschichten zu erzählen. Also kommen wir gleich zur Sache. Ich bin hier als Gesandter des Arkanischen Königreiches, um ihrem Volk Rede und Antwort zu stehen. Also bitte. Nur keine falsche Scheu. Fragen Sie mich all das, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Und ich werde direkt antworten.», beendete dieser mit einem breiten Lächeln seine einleitende Rede.

«Wo ist mein Sohn und all die anderen Söhne und Töchter des Nordens?», durchbrach die Stimme einer älteren Frau in wohlhabender Kleidung, die gleich unten in der ersten Reihe saß, den Raum.

Der Heerführer blickte die Frau in ihren kostbaren Kleidern an. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters verfügte die Frau über eine Aura, die immer noch viele Männer in ihren Bann zog.

Sie muss eine wahre Schönheit gewesen sein, als sie noch jung war, dachte sich der Heerführer.

«Wenn ich mich nicht irre, dann sind Sie die Mutter von Sean, dem ehemaligen Hauptmann des Freien Grenzlandes.», schätzte der Heerführer sein Gegenüber ein und beugte sogleich leicht das Haupt in Richtung der Frau.

«Ihr Sohn…», fuhr er einen Augenblick später fort, das Wort an die gesamte Versammlung gerichtet «…sowie die anderen Männer und Frauen, die sich damals Ian und den Chicks angeschlossen haben, sind auf dem Weg in die alte Feste. Sie werden dort mit unseren Baumeistern die Minen wiederherrichten und dort solange arbeiten, bis sie gewillt sind, wieder Vernunft walten zu lassen.»

«Und was genau verstehen Sie unter Vernunft?», hakte die alte Dame spöttisch nach.

«Verehrte Anwesende. Ich will Ihnen nichts vormachen. Viele von den Anwesenden glauben, dass wir, das Arkanische Königreich, für die damaligen Überfälle verantwortlich waren und immer noch sind. Wir haben lange genug unsere Unschuld beteuert und ich persönlich bin nicht bereit, Ihnen ein weiteres Mal unsere Sichtweise der Ereignisse von damals zu schildern. Fakt ist, dass jener Personenkreis, den wir vorsorglich in Gewahrsam genommen haben, direkt oder indirekt an dem Komplott gegen unseren König beteiligt waren. Sie und vor allem Ian sind schuld an dem Tod unseres Königs. Wir, das arkanische Volk, sind nicht bereit, diesen feigen Angriff auf das Herz unseres Daseins so einfach zu akzeptieren. Viele Menschen in dem Arkanischen Königreich sind immer noch über das Verhalten, welches wir für unsere Hilfsbereitschaft erhalten haben, nämlich dem Verrat, vorsichtig gesagt, ungehalten. Viele von uns sehnen sich nach Rache und wollen gleiches mit gleichem vergelten. Die neue Königin jedoch sieht davon ab. Aus diesem Grund hat sie beschlossen, jene Männer und Frauen, die damals an der Ermordung ihres geliebten Bruders beteiligt waren, von ihren Verbrechen freizusprechen, wenn diese dem Blendwerk der Chiks sowie ein paar anderer fehlgeleiteter Nordmänner, abschwören. Bis dahin bleiben diese Personen in den Minen und werden für ihre Taten Buße tun.»

«Und bis dahin besetzen sie das ganze Land und berauben all den anderen ihr Recht auf Selbstbestimmung.», stellte die alte Dame verächtlich fest, ihre Abscheu gegenüber dem Heerführer und dem Arkanischen Königreich offen zum Ausdruck bringend.

«Ja und Nein.», fuhr der Heerführer unbeirrt fort und richtete seine Worte an die Versammelten. «Um die Wogen zu glätten und Stabilität in das Land zu bringen sowie ein weiteres Eingreifen seitens der Chiks zu unterbinden, blieb uns keine andere Wahl, als dieses Land vorerst zu seinem eigenen Schutz in die Obhut unseres Königreiches zu legen. Ein weiterer Grund für dieses Vorgehen ist der Tatsache geschuldet, dass es in dem freien Grenzland genügend Menschen gibt, die dem Blendwerk der Chiks nicht erlegen sind und diese wiederum uns um Beistand gebeten haben. Hier möchte ich insbesondere auf die Liga Pro Arkanisches Königreich unter der Führung des Viehbarons verweisen.», sagte er und wandte sich im nächsten Augenblick dem Viehbaron und seinen Getreuen auf der gegenüber liegenden Seite der alten Dame in der Halle zu.

«Heerführer. Bei allem Respekt. Auch wenn dieser nicht wirklich groß ist.», riss die alte Dame das Wort an sich und erntete einen bitterbösen Blick von Seiten des Heerführers. «Können Sie mir und dem Rest der Versammelten mitteilen, und zwar ohne diese ganzen Floskeln und rhetorischen Redewendungen, wie es nun mit dem freien Grenzland weiter gehen soll?»

«Wie Sie wünschen.», begann der Heerführer und unterdrückte die Wut gegenüber der alten Hexe. «Aufgrund der vorangegangenen Ereignisse ist das Königreich nicht gewillt, Sean als euren Vertreter anzuerkennen. Aus diesem Grund möchte ich euch im Namen des Arkanischen Königreiches ersuchen einen neuen Vertreter als Hauptmann zu wählen. Dieser wird, wie seine Vorgänger vor ihm, das Land führen und nach seinem Willen gestalten. Wir, also das Arkanische Expeditionsheer, werden uns mit Beginn des folgenden Tages aus sämtlichen Städten zurückziehen und an strategischen Punkten mit der Errichtung von provisorischen Forts, Kontrollpunkten sowie zivilen Einrichtungen wie Arkanischen Botschaften beginnen, um dieses Land von einer Invasion durch die Chiks zu schützen. Jedem Mann und jeder Frau steht es frei all diese Einrichtungen aufzusuchen, sei es um Handel zu treiben oder Hilfe zu erbitten. Ziel der Arkansichen Botschaften wird es sein, jedem der es wünscht, eine mögliche Anstellung anzubieten für all die ausstehenden Projekte sowie medizinischen Beistand zu geben. Des Weiteren werden die Botschaften als eine Art Kommunikationsstelle fungieren zwischen den Bewohnern des freien Landes und dem Arkanischen Königreich.», stellte der Heerführer die Pläne seines Königreiches knapp vor.

«Für all ihre Projekte benötigen Sie Land. Woher nehmen Sie das und wer soll für all Ihre Projekte aufkommen?», warf ein Mann aus der obersten Reihe ein und erntete sofort Zustimmung unter den Anwesenden.

«Jeder der gewillt ist sein Land an uns zu verkaufen, wird den handelsüblichen Preis sowie einen Bonus von 10% für sein Eigentum erhalten. Für all die, die uns helfen wollen am Straßenbau, Errichtung von Stützpunkten sowie an den vielen anderen Projekten mitzuwirken, sind wir bereit eine Krone am Tag zu bezahlen.», antwortete der Heerführer.

Und seine Worte blieben nicht ohne Wirkung. Die Aussicht eine ganze Krone für einen Arbeitstag zu erhalten, sorgte für Getuschel unter den Anwesenden. Schließlich entsprach eine Krone fast dem doppelten Tageslohn.

«Aber dafür nimmt ihr uns das Erz weg!», bohrte die alte Dame nach, verärgert darüber, dass niemandem das Offensichtliche auffiel.

«Nein! Euch nicht. Wenn ich mich recht erinnere, dann gehört jenes Land den Chiks.», stellte Garak zufrieden fest. «Gute Frau. Ich weiß nicht, was Sie über das Arkanische Königreich denken. Aber bei uns wächst das Geld nicht an den Bäumen. All die Projekte, die im freien Grenzland durchgeführt werden, werden auch den Menschen vor Ort nutzen. Ja, wir behalten das Erz der Chiks. Aber wir sehen es als Reparationszahlung an.»

«Verstehe ich das richtig?», hakte eine stämmige Frau aus der dritten Reihe nach. «Alles was die Gefangenen also machen müssen, um wieder frei zu kommen, ist zu beteuern, dass die Chiks für den Konflikt verantwortlich sind und nicht das Königreich?»

«Ja genau. Die meisten der Männer und Frauen kommen raus, sobald sie hier in der großen Halle des Friedens, vor ihrem Volk und mir als Vertreter des Arkanischen Königreiches zugeben, dass sie auf die Chiks hereingefallen sind und vor den Versammelten einen Eid ablegen keine Handlungen gegenüber den Arkanischen Soldaten und ihren Verbündeten durchzuführen. Des Weiteren sind jene verpflichtet sich an einem der vielen Stützpunkte alle zwei Tage persönlich zu melden.»

«Diese Bedingungen sind unzumutbar!», schrie einer der Anwesenden aus dem Publikum heraus, was sich so mancher dachte.

«Ja, ich gebe es zu. Für einige wird es schwer sein über ihren Schatten zu springen und vor den Versammelten zu zugeben, dass sie auf einige wenige hereingefallen sind. Anderen wiederum mag die Pflicht sich alle zwei Tage an einem der Kontrollpunkte zu melden als mühsam erscheinen. Aber wenn denjenigen die Anstrengung an der frischen Luft zu viel abfordert, hat die Wahl in der Mine zu bleiben.», stellte Garak trocken fest.

«Sie sagten die meisten. Heißt das Sie unterscheiden zwei Gruppen von Gefangenen?», mischte sich erneut die alte Dame ein.

«Ja, das ist richtig. Einen kleinen Teil der Gefangenen wird erst die Möglichkeit auf Begnadigung nach einer Frist von drei Jahren gewährt. Zu den Ausgewählten gehört ebenfalls Sean!», erwiderte dieser zufrieden und stellte zu seiner Freude fest, wie die Farbe aus dem Gesicht der alten Hexe verschwand.

Erneut entbrannte Getuschel unter den Anwesenden. Und als schließlich ein wirres Kauderwelsch von Stimmen den Raum einzuhüllen drohte, erhob Garak erneut die Stimme: «Verehrte Anwesende. Gibt es noch Fragen, die hier und jetzt besprochen werden müssen, die meine Anwesenheit bedürfen? Ansonsten würde ich mich jetzt zurückziehen. Schließlich haben Sie noch einen Hauptmann zu wählen, der euer Volk durch die turbulenten Zeiten führen soll.»

«Ja, eine wesentliche Frage habe ich noch», nahm ein Mann mittleren Alters, gleich neben der alten Dame, das Wort an sich und fuhr erst fort, als er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich spürte: «Wie lange gedenken Sie unser Land zu besetzen. Entschuldigung, in Ihrer Obhut zu behalten?»

«Es gibt eine Liste auf der etwa 300 Namen stehen. Alle Personen auf der Liste werden direkt oder indirekt mit dem Tod des Königs in Verbindung gebracht. Sobald wir diese Verbrecher gestellt haben und keiner der Bürger unseren Schutz benötigt, werden wir uns zurückziehen.», antwortete dieser.

«Für die einen Verbrecher, für die anderen Helden.», spuckte die alte Dame die Worte dem Heerführer ins Gesicht.

«Die Interpretation überlasse ich jedem selbst. Bis dahin möchte ich mich für ihre Zeit bedanken und wünsche einen gesegneten Abend.», sagte dieser, verbeugte sich leicht, machte auf der Stelle kehrt und verließ die Versammlung.

«Heerführer!», rief der Viehbaron, als dieser draußen umzingelt von seinen Soldaten neben seinem Pferd zum Stehen gekommen war. «Glauben Sie wirklich, dass das hier eine gute Idee ist?», spie dieser die Worte völlig außer Atem aus.

«Sie meinen, dass ich all denen in der Halle die Wahl gelassen habe, ihren eigenen Vertreter zu wählen?»

Der Viehbaron blickte in sein Gegenüber und nickte leicht mit dem Kopf.

Von einem Moment auf den anderen tauchte ein Lächeln auf den Lippen des Heerführers auf. «Mein lieber Herr Viehbaron. Wir hätten natürlich einen Hauptmann bestimmen können. Doch dieser würde von vielen nur als Marionette betrachtet werden. So aber gaukeln wir den Menschen so etwas wie Entscheidungsfreiheit vor und sorgen gleichzeitig dafür, dass jene die nicht wissen, wem sie vertrauen sollen, nicht gleich in die Hände unserer Gegner getrieben werden.»

«Aber…», begann der Viehbaron und wurde sogleich von dem Heerführer unterbrochen.

«Nichts aber, mein Lieber. Das, was wir wirklich hier und heute sagen wollten, haben wir gesagt. Alles andere erledigt für uns die menschliche Natur.», erwiderte Garak und grinste breit. «Verstehen Sie mein Lieber.», fuhr dieser fort, legte freundschaftlich seine Hand über die Schulter und drehte den Viehbaron in Richtung der großen Halle. «Viele der Anwesenden in der Halle sind bereits damit beschäftigt, das Geld zu zählen, was sie noch nicht haben, aber eventuell bei uns verdienen könnten. Ob diese sich dadurch kaufen oder indirekt an den Gütern der Chiks bereichern, spielt inzwischen keine wesentliche Rolle mehr. Denken Sie immer daran mein lieber Herr Viehbaron. Der Mensch denkt zuerst an sich und an den augenblicklichen Vorteil und nicht daran, welche Konsequenzen sein Handeln irgendwann in Zukunft möglicherweise haben könnte. So war es immer und so wird es auch in Zukunft sein.»

Der lange Ritt durch die Berge und Täler des Horas Gebirges hatte bei jedem nicht nur körperliche Spuren hinterlassen, sondern auch psychische. Noch vor ein paar Tagen, da strotzte jeder vor Tatendrang und die Stimmung aller war auf dem Höhepunkt. Doch mit jedem Tag, den der Zug sich durch das Gebirge schlängelte, war der enorme Kraftaufwand und die damit verbundenen Entbehrungen jedem ins Gesicht geschrieben.

Aber so war es schon immer gewesen. Sobald es anstrengend wurde, wollte man am liebsten alles hinter sich lassen, sich vor das warme Kaminfeuer setzen und die Füße hochlegen. Doch diese Option gab es schlicht weg nicht mehr für Jamie und den vielen anderen im Zug. Und so wälzten sich Ross und Reiter durch die unendliche Vielfalt des Gebirges und träumte davon überall zu sein, nur nicht hier. Schließlich war es irgendwann endlich so weit. Nach Tagen im Sattel erreichte der Zug sein Ziel. Zufrieden und erleichtert stand Jamie mit seinem Pferd Seite an Seite mit Gul-Marak und dessen schwarzen Hengst und blickten auf das Meer von Zelten.

Es war ein herrlicher Sommertag. Die Vögel zwitscherten und eine leichte Brise aus den Osten vertrieb die schwüle Hitze, die über den Tälern lag. Den Blickfang aber bildete das Meer im Osten, mit den steilen Gebirgszügen im Wasser, die labyrinthartig die Bucht von dem offenen Meer abgrenzten. Jamie konnte seinen Blick von diesem Panorama nicht abwenden. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er das Meer mit seinen Augen betrachtete. Und sofort fühlte er sich in dessen Bann gezogen.

«Da sind wir endlich.», bestätigte Gul-Marak das Offensichtliche und breitete seine Hände aus. «Eigentlich kommen wir nur im Winter an diesen Platz. Doch mit dem Einmarsch der Arkanischen Armee hielten wir es für das Beste unsere Familien hier in Sicherheit zu bringen. Es gibt noch drei kleinere Täler etwas weiter im Norden, auf denen sich der Rest meines Volkes verteilt hat. Ich persönlich habe dieses Tal all den anderen vorgezogen. Den Grund dafür kannst du im Osten selbst erkennen. Meiner Meinung nach ist es im Winter hier noch schöner. Dann gibt es Robbenfleisch und vieles mehr. Ah, wenn ich nur an die Jagdausflüge mit meinem Vater zurückdenke, dann wünsche ich mir es wäre wieder Winter.», schwelgte Gul-Marak für einen Moment in Erinnerungen.

Bei der Erwähnung von Alko musste Jamie unweigerlich an seinen Vater und dann an Ilianer denken: «Ich frage mich gerade, wo sie sind!», gab er schließlich seiner Sehnsucht einen Klang.

«Du meinst mein Vater und deine Schwester?»

«Ja…, und der Rest von unseren Freunden und Verbündeten.»

«Mit etwas Glück finden wir ein paar Antworten auf diese Frage bei meinem Volk. Vielleicht haben sie inzwischen ein paar Neuigkeiten zusammengetragen.»

«Dann lass und keine Zeit mehr verlieren und unsere Neugier stillen.», gab Jamie Gul-Marak zu verstehen und gab seinem Pferd ein Zeichen, sich wieder in Bewegung zu setzen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen gab Gul-Marak seinem Pferd die Sporen und führte, wie der Rest des Zuges, sein Pferd die kleine Anhöhe herunter.

Um die Mittagstunde saßen viele Männer und Frauen aus dem Zeltlager zusammen mit den Neuankömmlingen verteilt um die vielen Lagerfeuer und verzerrten ihr Mahl bestehend aus gebratenen Fisch, Früchten und Gemüse. Nach den vielen Tagen auf dem Rücken der Pferde tat es den meisten einfach nur gut, sich von vorn nach hinten bedienen zu lassen. Während die meisten Menschen aus dem Norden sich zum ersten Mal an dem Anblick des Meeres labten und das salzige Wasser auf ihrer Haut spüren ließen, saß Jamie mit Brutus, Mulak und Gul-Marak rund um eine ausgebrannten Feuerstelle und besprachen sich mit dem Anführer dieses Lagers.

«Soweit wir das beurteilen können, hat euch nach eurer Flucht aus eurer Heimat keiner bis hierhin verfolgt. Ihr müsst wissen, wir haben viele Waldläufer entlang verschiedener strategischer Punkte stationiert. Nichtsdestotrotz, es war gewagt hierher zu kommen.», fuhr der Stammesälteste fort, Jamie und Brutus einen Augenblick länger musternd, als das es Jamie lieb gewesen wäre.

«Alko war sich der Gefahr bewusst. Wir alle haben lange überlegt, welche der vielen Optionen in der Kürze der Zeit die Beste wäre. Letztendlich erschien uns in Anbetracht der Zustände diese als die Aussichtsreichste.», antwortete Gul-Marak stellvertretend für alle.

Zähneknirschend und sich der Realität des Augenblicks bewusst werdend, ließ schließlich der Redensführer davon ab, weiter über das, was ohnehin nicht mehr zu ändern war, zu sprechen und konzentrierte sich stattdessen auf das Kommende. «Euer Plan ist gewagt.», nahm er den Gesprächsfaden auf, dabei Jamie mit seinen klaren grünen Augen fokussiert. «Seid ihr auch sicher, dass ihr uns den ganzen Plan erzählt habt und nicht nur einen Teil.»

Bei der Anspielung auf Ian und dessen Offenbarung des wahren Plans auf der Steinebene vor Arag, entglitt Jamie plötzlich ein Lächeln. «Ja, ich bin mir sicher, dass ich euch alles erzählt habe.»

Plötzlich schien sich eine gewisse Leichtigkeit über alle Anwesenden zu legen. «Dein Vater war ein großer Mann. Vergiss das nicht. Wenn ihr alle zusammen mit Alko so entschieden habt, dann werden wir euch mit allem was wir haben unterstützen.», sagte dieser etwas freundlicher und nahm ein Schluck Wasser aus seinem Trinkhorn.

«Wir danken euch für eure Unterstützung.», übernahm Gul-Marak das Sprechen und fuhr fort. «Mein Vater hat die meisten Krieger der verschiedenen Clans um sich geschart. Für unser Vorhaben brauchen wir jedoch weitere 700 bis 800 Krieger sowie Vorräte um die Überquerung durch das Gebirge sicher zu bestehen. Den Rest werden wir dann abhängig von der Situation, die wir vorfinden, erledigen.»

«Wir werden euer Anliegen an alle unsere Krieger weiterleiten. Doch bei dem Ruf, den vor allem ihr innerhalb unseres Volkes genießt, wird es kein Problem sein, genügend Freiwillige zu finden, die euch folgen. Was die Vorräte angeht, so wird es mindestens noch einen weiteren Tag dauern, bis wir alles zur Verfügung gestellt haben.»

«Danke, ihr seid wirklich eine große Hilfe für uns. Doch sagt! Gibt es Neuigkeiten aus dem freien Grenzland?», hakte Jamie nach.

«Bis jetzt noch nicht. Unsere Waldläufer sind zwar überall im Norden unterwegs. Aber die hohe Präsenz an Arkanischen Soldaten macht es uns schwer im Moment den Informationsfluss aufrecht zu erhalten. Doch mit der Zeit, wenn die Aufmerksamkeit und die Anzahl an Patrouillen nachlässt, sollten wir in der Lage sein, uns ein besseres Bild zu machen.»

«Gibt es noch weitere Neuigkeiten von Seiten meines Vaters?», schaltete sich Gul-Marak ein.

«Von deinem Vater? Leider Nein!.», entgegnete der Stammesführer knapp.

«Na gut.», sagte Jamie schließlich und wandte sich an die Versammelten. «Wenn es sonst nichts Wichtiges zu besprechen gibt, würde ich gern die verbliebene Zeit nutzen, um sie mit meiner Familie zu verbringen, bevor ich sie für einen ungewissen Zeitraum verlasse.»

«Dein Ansinnen ist nur verständlich. Geh und genieße die Zeit, die dir verbleibt.», beendete dieser offiziell die Versammlung mit einem verständnisvollen Lächeln.

Zufrieden erhob sich Jamie auf seine Füße und trabte zwischen den Zelten hindurch, zu dem Zelt, welches seinen Angehörigen zugewiesen wurde.

«Wirst du zurechtkommen?», richtete Jamie die Frage an seine Mutter, als er neben ihr zum Stehen kam.

Freya wandte sich ihrem Sohn zu und blickte diesen lächelnd an. «Um mich und den kleinen Ian musst du dir keine Sorgen machen. Sieh! Er tollt bereits mit den anderen Kindern des freien Volkes umher.»

«Das tue ich auch nicht. Aber wie ist es mit Lena?»

«Keine Sorge. Ihr Ärger wird schon bald verflogen sein. Dann wird sie sich an die Umgebung und die Menschen anpassen.»

«Ich bin da nicht so optimistisch. Zumal sie mehr von mir hat, als mir das lieb ist.»

Mit einem Lächeln musterte Freya Jamie. Und dann trat sie einen Schritt vor und umarmte ihren Sohn. Für einen Moment fiel die Anspannung von Jamie ab. Seine trüben Gedanken und Ängste lösten sich wie ein unsichtbarer Schleier und verschwanden. Plötzlich konnte er sogar das Rauschen des Meeres im Hintergrund wahrnehmen. Ruhe und Zufriedenheit begann sich in ihm auszubreiten. Genauso wie damals, bevor der Konflikt ihn und seine Familie in einen reißenden Strudel zog. Auf einmal manifestierte sich die Silhouette seines Vaters vor seinem inneren Auge und begann ihn anzulächeln. Tränen begannen sich schließlich ihren Weg in die äußere Welt zu bahnen und den Kummer um das Verlorene mit sich zu tragen.

«Geht es dir gut mein Sohn?», fragte Freya einen Moment später, eine Träne mit dem Daumen von Jamies Gesicht wegwischend.

«Ja.», bedeutete Jamie seiner Mutter in einem Ton, in dem Bedauern steckte. «Es ist nur so, dass ich immer wieder an die Zeit zurückdenken muss, als ich mit Vater im Streit lag. Heute würde ich so einiges dafür geben, nur noch einen Moment mit ihm und euch allen, einen einzigen Tag auf unseren Hof verbringen zu können.»

«Jamie. Es hilf dir nichts, dem nachzutrauern, was nicht mehr ist. Weißt du Jamie an wen du mich im Moment erinnerst?», stellte sie die Frage ohne eine Antwort zu verlangen. «An deinen Vater. Damals, als ich ihn aufgelesen habe. Er war so mit der Vergangenheit und damit, dass er an seinen eigenen Vorstellungen von sich selbst und der Welt gescheitert ist, beschäftigt, dass er für nichts mehr offen war. Jamie! Wir sind so, wie wir sind. Fehlerhaft, naiv, überheblich und ein stückweit dumm. Wir können nicht ändern was war. Aber wir können versuchen zu ändern was kommt. Darauf musst du dich konzentrieren. Alles andere musst du lernen loszulassen.»

«Ich kann nicht.», zischte Jamie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und senkte langsam niedergeschlagen den Kopf herunter.

Freyas Reaktion kam völlig unerwartet und erwischte Jamie unvorbereitet. Aber die Ohrfeige verfehlte nicht ihre Wirkung.

1,49 €