Buch lesen: «Abgelenkt», Seite 5

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«Ich habe mit deinem Vater geredet und ihn gefragt, was vorgefallen ist.» beginnt sie in einem flüsternden Ton zu sprechen. «Du weißt ja. Wir Frauen merken sofort, wenn etwas nicht stimmt! Dein Vater wollte natürlich nicht so recht mit der Sprache herausrücken. Aber ich ließ nicht locker und stellte ihn schließlich zur Rede. Anschließend berichtete er mir, was draußen vorgefallen ist. Dabei stellte sich heraus, dass dein Vater den Kleber verwechselt hat. Du hast also nichts falsch gemacht.» sagt sie mit einem milden Lächeln auf den Lippen.

Im selben Augenblick in dem ich den Satzinhalt verinnerlichte, manifestiert sich Enttäuschung in mir. Typisch mein Vater. Auch wenn er falsch gehandelt hat, kann er es nicht zu geben. Aber nur so kenne ich ihn. Er darf Fehler machen, alle anderen nicht. Er verzeiht auch keine Fehler, insbesondere die der anderen nicht.

«Kopf hoch!» sagt meine Mutter und legt mir ihre Hand auf die meine.

Kurze Zeit später, nachdem ich immer noch kein Wort von mir gebe, steht sie auf und geht zur Tür. «Wenn du was brauchst, dann sag es mir. Ok?»

Danach dreht sie sich um und verlässt das Zimmer.

Kurz darauf nehme ich die Fernbedienung in die Hand. Mitten auf dem Weg zum Anschaltknopf bleibt jedoch mein Finger in der Luft stehen.

«Fast wärst du wieder in mein Leben getreten. Aber heute nicht!» sage ich zu dem Fernseher. Anschließend stehe ich auf und blicke mich in meinem Zimmer um, bis schließlich mein Blick auf „Die Helden von Umbar“ fällt.

Viele Male hab ich mir vorgenommen, die kleinen Plastikfiguren anzumalen. Aber irgendwie hab ich das immer vor mich hin geschoben. Heut jedoch nicht. Heute male ich euch an.

Im gleichen Moment, in dem ich mir das vorgenommen habe, breitet sich Zweifel in mir und meinen Fähigkeiten aus. Anschließend tauchen ein paar Erinnerungen von heute Mittag vor meinem geistigen Auge auf.

«Du bist genauso unfähig wie dein Onkel Bruno. Zu nichts zu gebrauchen.» höre ich die Stimme meines Vater in meinen Gedanken.

«Nein. Das bin ich nicht!»

Nachdem alle Utensilien bereit liegen, fange ich schließlich an, die Figuren zu bemalen.

Kapitel 2: Wer bin ich?

«Wieso müssen wir jeden Sonntag in die Kirche?»

«Frag nicht. Steh auf und tu, wie ich es dir aufgetragen habe.» befehlt mein Vater und geht wieder ins Wohnzimmer zurück.

Langsam stehe ich von meinem Bett auf, setze mich auf die Kante und lege mein Gesicht in meine beiden Hände hinein.

«Wieso muss ich in die Kirche und warum immer sonntags? Weshalb wird bei uns zu Hause vier Wochen vor Ostern kein Fleisch am Freitag gegessen? Was hat das mit dem Glauben zu tun? Weshalb ist aber Fisch erlaub? Zählt Fisch etwa nicht als Fleisch? Wieso teilen wir unser Vermögen nicht mit den Armen? Wenn wir doch so gläubig sind, sollten wir dann nicht genau das tun? Schließlich ist Nächstenliebe doch ein zentraler Bestandteil des Glaubens. Wieso schmückt sich die Kirche mit Gold und anderen Reichtümern, während sie ihren Gläubigern predigt, dass Reichtum keine Bedeutung hat? Wenn wir Gott im Herzen tragen, brauchen wir dann noch, in die Kirche zu gehen? Woher nehmen sich eigentlich die Priester, Pfarrer usw. das Recht, unsere Sünden zu verzeihen?»

Aber egal was ich sage, was ich auch frage, teils aus Neugier, teils weil mir einige Dinge, die die Kirche predigt, nicht einleuchten, bleiben mir meine Eltern zu diesem Thema immer eine Antwort schuldig. Manchmal überkommt mich ein Gefühl, dass diese an Gott glauben bzw. jeden Sonntag in die Kirche gehen, weil sie es schon immer getan haben. Zusätzlich treffen sie dort auch auf Gleichgesinnte, mit denen sie etwas verbindet. Manchmal hab ich auch den Eindruck, dass der Gang in die Kirche für meine Eltern vielmehr ein Ritual darstellt, als ein Glaubensbekenntnis. Aber darauf basiert schließlich die Kirche. Auf Ritualen.

Aber was mir am meisten an dem Glauben nicht ins Bild passt, ist die Vorstellung, dass wir Menschen, nach der Bibel, Gottes Ebenbild entsprechen sollen. Hinzukommt, als ob das allein nicht reichen würde, um unseren auserwählten Status zu unterstreichen, sollen wir noch einen Hauch von Gottes Geist in uns tragen. Manchmal wenn ich über diese Passagen in der Bibel nachdenke, dann frage ich mich, wieso uns Menschen allein auf dieser Erde diese Ehre zu teil wurde.

Aber je mehr ich mich mit dem Thema auseinandersetze und Fragen stelle, umso verwirrender wird der Glaube für mich. Wir, die Auserwählten, geboren, um nach belieben über die Erde zu herrschen. Während die Flora und Fauna, durch unser Geburtsrecht, dazu verdammt ist, uns ohne Bedingungen zu unserem Wohlbefinden zur Verfügung zu stehen hat.

Manchmal, da sind meine Eltern so von meinen Fragen genervt, dass sie ab und zu mit Gegenfragen oder Befehlen versuchen, ihre Unwissenheit zu überspielen.

Wieso stellst du so viele Fragen? Das ist so! Das ist immer schon so und so wird es auch in Zukunft sein! Also, hör auf zu fragen!

Hm. Auf der einen Seite erwarten meine Eltern von mir, dass ich mündig werde, aber sobald ich Fragen stelle, speziell jene, die die Kirche betreffen, dann heißt es, Mund halten. Alles andere ist mit Blasphemie gleich zu stellen.

Interessant ist, dass je mehr sie auf ihren Standpunkt behaaren, umso mehr sehe ich mich darin bestärkt, Fragen zu stellen. Auch wenn ich weiß, dass ich keine Antworten von ihnen zu erwarten habe.

Ein Augenblick später bleibt mir, wie an jedem anderen Sonntag sonst auch, nichts anderes übrig, als sich meinem Schicksal zu beugen und in die Kirche mitzufahren. In der Kirche angekommen, entsprechend unserem Ritus, setzen wir uns auf unseren Stammplatz in der letzten Reihe. Egal welche Vorbehalte ich auch gegen die Kirche habe, aber manchmal ist die Kirche ein wirklich guter Ort zum Nachdenken.

«Hallo Sebastian. Ich bin wieder aus der Kirche zurück. Wenn du willst kannst du jetzt vorbei kommen.» sage ich in den Telefonhörer hinein.

«Alles klar. Ich bin dann in 10 Minuten bei dir.» erwidert Sebastian.

«Super. Dann bis gleich.» bestätige ich das Besprochene und lege den Hörer zur Seite.

«Sven. Kannst du bitte kurz hierher kommen?» ruft mich meine Mutter einen Augenblick später aus dem Wohnzimmer.

«Ja bitte?» frage ich, im Wohnzimmer angekommen.

«Hier.» sagt sie und reicht mir ein Foto. «Ich hab dieses zwischen unseren Fotos gefunden, als ich grade ein Fotoalbum durchgeschaut habe. Ich denke, dass dich das Foto interessieren wird.»

Den Blick auf das Foto richtend, erkenne ich sofort meine Schulklasse zu Beginn des siebten Schuljahres.

«Danke. Das muss ich irgendwie verlegt haben.» sage ich und gehe langsam, den Blick immer noch auf die Fotographie gesengt, in mein Zimmer. Unterwegs klingelt es an der Tür.

«Ich mach schon auf.»

«Hallo. Komm rein.» fordere ich Sebastian auf.

«Hallo. Na, wie war es in der Kirche?» fragt Sebastian schelmisch, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. «Was hast du denn da in deiner Hand?»

«Meine Mutter hat dieses Foto zwischen ihren eigenen Fotos gefunden. Es zeigt unsere Schulklasse zu Beginn des siebten Schuljahrs.» antworte ich, während wir beide in mein Zimmer gehen.

«Ein seltsames Gefühl ist das schon, solche Fotos von sich selbst zu sehen. Insbesondere jetzt, wo wir uns so schnell verändern. Schau mal. Auf dem Foto warst du noch…» beginnt Sebastian, stockt dann aber für ein Moment, während er hastig nach passenden Worten sucht.

«Fett.» bricht es aus mir aus.

«Voluminös, wollte ich sagen!»

«Was du wohl wolltest! Ist aber auch nicht so wichtig.» sage ich und schaue an mir herunter. «Na ja, ein kleinen Bauch habe ich zwar immer noch, aber ich kann auch schon wieder meine Füße sehen, ohne mich dafür nach vorne beugen zu müssen. Schon erstaunlich, was ein wenig Bewegung sowie die Einschränkung von Süßigkeiten so alles bewirken kann.»

«Aber viel schlimmer ist noch eine andere Veränderung, die seitdem bei dir eingetreten ist.» erwidert Sebastian mit einem schelmischen Gesichtsausdruck.

«Na los. Sag mir, was dir wieder durch deinen Kopf schwirrt.»

«Du bist so ein richtiger Streber geworden.» erwidert Sebastian breit grinsend.

«Streber! Ich! Du spinnst wohl.»

«Ach ja. Und wer ist sich inzwischen zu fein, um von mir Hausaufgaben abzuschreiben? Ein halbes Jahr lang hast du nach dem Ausraster im Schulunterricht und dem darauf folgenden Besuch unserer Klassenlehrerin bei dir zu Hause kräftig bei mir abgeschrieben. Erst zu Beginn des neuen Schuljahres hast du angefangen, deine Hausaufgaben selbst zu erledigen. In der Folgezeit hast du sogar angefangen, mich an meine Hausaufgaben zu erinnern. Selbst im Unterricht hast du angefangen, aktiv teilzunehmen. Inzwischen bist du so was, wie der Klassenliebling der Lehrer. Und zum Ende des 8. Schuljahrs hattest du sogar das zweitbeste Zeugnis unser Klasse gehabt. Nur Johannes war in einem Fach besser als du. Wenn man das also nicht mit Strebertum bezeichnet, dann weiß ich auch nicht.» beendet Sebastian die Schilderung der Tatsachen.

«Das…» beginne ich, höre aber mitten im Satz auf zu sprechen. Denn er hat Recht. Zwar gibt es immer noch hin und wieder einen Eintrag ins Klassenbuch, aber nicht mehr für nicht gemachte Hausaufgaben oder Desinteresse am Unterricht, sondern eher für irgendeinen Unfug. Manchmal ertappe ich mich immer noch, wie ich mitten im Unterricht abdrifte und lieber von etwas anderem träume, anstelle des Unterrichts zu folgen. Doch diese Momente sind eher die Ausnahme als die Regel.

«Ja, ja. Das waren schon Zeiten. Weißt du! Damals als ich in der siebten Klasse war, da sah ich mir gern Actionfilme an, in denen muskelbepackte Supertypen, ihre Gegner reihenweise niederstreckten. Ich wollte so sein wie sie. Ich verehrte sie. Und lachte über die Schwachen, die sich von den Supertypen niederstrecken ließen. Aber nach dem einen Samstag, an dem ich seit langem das erste Mal wieder Basketball mit dir gespielt habe, wurde mir bewusst, dass ich eigentlich der Schwächling war und nicht der Supertyp aus dem Fernseher, mit denen ich mich so gerne verglichen habe. Fünf Minuten Basketball und schon brachten mich die Seitenstiche um den Verstand. Bis zu diesem Tag war mir das nicht so bewusst. Da war es deutlich einfacher vor dem Fernseher zu sitzen, zu urteilen und sich falschen Vorstellung hinzugeben.» beende ich meinen Satz.

«Tja. Aber wenigstens ist dir das noch rechtzeitig bewusst geworden.» sagt Sebastian mit einem Lächeln auf den Lippen.

«Da magst du wohl recht haben.» stimme ich nachdenklich zu. «Weißt du, wer mich aber am meisten zum Nachdenken gebracht hat? Ich meine damals, nachdem all das vorgefallen ist.»

«Keine Ahnung!»

«Du warst es. Und zwar bei der Zeugnisausgabe zum Ende des ersten Halbjahres der siebten Klasse. Nachdem ich mein Zeugnis in der Hand hielt, wollte ich am liebsten vor Scham im Boden versinken. Im Endeffekt wusste ich genau was mich erwartet. Aber die drei 5en im Halbjahreszeugnis zu sehen, war irgendwie schon ein Scheiß-Gefühl. Und dann, als ob das nicht genug wäre, kamst du. Warfst ein Blick auf mein Zeugnis, lächeltest mich an und sagtest: „Oh, laut dem Zeugnis bis du noch dümmer als Sabine“. Weißt du noch?» frage ich und fahre fort, ohne eine Antwort abzuwarten. «Ich denke, im Nachhinein hast du es nicht so gemeint. Vielmehr war es ein schlechter Versuch, mich aufzuheitern. Wie auch immer. Aber der Vergleich mit Sabine, der traf mich wie ein Faustschlag ins Gesicht. Alles konnte ich ertragen. Aber ein Vergleich mit Sabine! Das war unter der Gürtellinie.»

«Das war wirklich nicht so gemeint.» versucht sich Sebastian, zu erklären.

«Ja. Ja.» sage ich, winke mit der Hand ab und fahre fort. «Kannst du dich an die eine Geographie-Stunde erinnern, in der unsere Lehrerin von uns wissen wollte, wo die Hauptstädte Europas liegen? In dieser Stunde sollten wir nach vorne vor eine geographische Karte Europas treten und den jeweiligen Standort, der uns genannten Hauptstadt, ungefähr auf dieser zeigen.»

«Ja, ja. Aber sicher. Diese Stunde werde ich auch nie vergessen. Schließlich war sie die wohl am unterhaltsamste Geographiestunde meines Lebens. Und Sabine hat maßgeblich dazu beigetragen. Sie wurde als Erste unter uns auserwählt, ihr Wissen unter Beweis zu stellen. Die Arme war bereits nach der ersten Frage völlig verzweifelt. In ihrem Gesichtsausdruck konnte jeder zwei große Fragezeichen sehen. Das erste Fragezeichen stand wohl für: “Paris?“ und das Zweite stand für: „Wo könnte diese Stadt bloß liegen?“. Jeder im Raum war plötzlich hellwach und allen war auch bewusst, dass Sabine mit Sicherheit keine Ahnung hatte, wo Paris lag. Umso gespannter warteten wir alle auf ihre Antwort.» wiederholt Sebastian den Sachverhalt von damals und muss bei der Erinnerung selbst lächeln.

«Ja. Die Stunde war echt zum Lachen. Ich meine, mich zu erinnern, dass Sabine gesagt hat, das Paris die Hauptstadt von Asien ist und dies liegt hier, wobei sie mit den Fingern auf Griechenland zeigte. Ach ja, wir haben uns schon schön amüsiert.» beende ich die Erzählung. «Aber der Vergleich von dir damals nach der Zeugnisvergabe, der ruft bei mir eben diese Erinnerung hoch. Ich sah mich plötzlich wie Sabine, vor der ganzen Klasse stehend, während mich jeder auslachte. In diesem Moment schämte ich mich so sehr, mit Sabine verglichen zu werden, dass ich beschloss mich zu ändern. Es war dieser Augenblick, der mir endgültig die Augen öffnete und mich über meine Person nachdenken ließ.»

«Und du hast so sehr drüber nachgedacht, dass du am Ende dich entschlossen hast, das nächste halbe Jahr konstant meine Hausaufgaben abzuschreiben?» fragt Sebastian.

«Tja. Jeder fängt mal klein an.» antworte ich und beide grinsten wir uns an.

«Weißt du zufällig noch, wie deine Eltern auf das Zeugnis reagiert haben?»

«Oh ja!» erwidere ich, ein Lächeln auf meinem Gesicht nicht leugnen könnend. «Meine Mutter war natürlich nicht begeistert. Was sie genau sagte, weiß ich nicht mehr. Nur ein Satz ist mir im Kopf geblieben. „Erzähl es bloß nicht herum. Was sollen die Leute von uns denken!“ So oder so ungefähr hat sie das damals ausgedrückt. Ich schätze, der Satz ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich damals, als sie ihn sagte, nicht verstehen konnte, wie ihr die Befürchtung über das, was die Leute wohl denken würden, mehr interessierte als das Problem an sich. Es machte mich damals so wütend, dass ich schließlich verbal auf meine Mutter losgegangen bin. Ich sagte zu ihr, dass sie mir mein ganzes Leben lang vor hält, dass ich nicht darauf achten soll, was die anderen machen, aber in Grunde war das das Einzige, was sie wirklich interessierte. Nach diesem Erlebnis begleitet mich von da an immer das Gefühl, dass meine Eltern ein Leben leben, das nicht ihr eigenes ist, sondern eins, das nach außen hin der Vorstellung anderer entspricht!»

«Ja, ich verstehe, was du meinst. Manchmal hab ich auch den gleichen Eindruck von meinen Eltern.»

«Auf jeden Fall war ich damals ziemlich wütend. Aus meinem Unmut heraus beschloss ich, im Gegensatz zu meinen Eltern, mein Leben nicht davon abhängig zu machen, was andere über mich denken könnten, sondern meinen eigenen Weg zu gehen. Sollten doch die Leute ihr Mundwerk über mich zerreißen.»

«Und das ist wohl auch das Beste was du machen kannst. Auch wenn das nicht immer so einfach ist, wie man das so sagt. Aber sag mal. Was hat eigentlich dein Vater zu alldem gesagt hat?» erwidert Sebastian.

«Na ja, du kennst ja inzwischen meinen Vater.» beginne ich. «Aber um es gleich vorweg zu nehmen, es kam anders als gedacht. Es gab weder ein Computer- oder Fernseherverbot, noch eins mit dem Gürtel über den Allerwertesten. Nichts dergleichen. Als mein Vater schließlich damals nach Hause kam, stand ich schon gespannt an meiner Zimmertür und lauschte. Aus Erfahrung wusste ich, dass meine Mutter, was schlechte Neuigkeiten angeht, nicht an sich halten konnte und ihn diese sofort erzählen musste. Diese Vorgehensweise war mir insofern lieber, da diese dazu führte, dass mein Vater weniger an die Decke ging, als wenn ich ihm die schlechten Neuigkeiten mitteilen musste. Und so geschah es auch. Meine Mutter fing meinen Vater ab und teilte ihm direkt mit, dass mein Zeugnis genauso schlecht aussieht wie erwartet.

Aber wie schon anfangs erwähnt, entgegen meinen Befürchtungen, wurde weder mein Vater wütend noch zeigte er irgendeine Art von Reaktion. Irgendwann hörte ich schließlich meine Mutter ihn anflehen, dass er doch bitte mit mir reden sollte. Aber am Ende geschah vonseiten meines Vaters nichts.»

«Manchmal überrascht mich dein Vater doch noch.» gibt Sebastian überrascht zu.

«Fragt sich nur ob im positiven oder negativen Sinn.»

«Sebastian. Sven. Essen ist fertig. Kommt bitte zu Tisch.» ruft meine Mutter aus der Küche.

«Na ja. Die Zeit ist jetzt vorbei und nun bin ich, wie du sagst ein Streber. Komm lass uns jetzt Essen gehen und anschließend auf den Sportplatz.» sage ich.

«Guten Morgen.» begrüßt Frau Thal, wie jeden Montagmorgen, die Klasse zur ersten Stunde. «Morgen ist eine besondere Unterrichtsstunde. Wie schon letzte Woche angekündigt wurde, bekommen wir morgen Besuch von einer Mitarbeiterin aus dem Arbeitsamt. Ihre Aufgabe wird es sein, unter anderem euch bei der Wahl des richtigen Berufes behilflich zu sein, sowie eure Fragen zum Thema Berufe zu beantworten. Zu diesem Zweck möchte ich heute, vorbereitend auf die morgige Stunde, das Thema Berufe ansprechen. Dazu möchte ich jetzt einmal wissen, wer von euch schon eine Vorstellung hat, was er nach der Schule machen möchte?»

Zukunft? Berufe? Die Zeit nach der Schule? Bis zu diesem Moment bin ich diesen Fragen aus dem Weg gegangen oder ich ließ mich durch andere Dinge von ihnen ablenken. Sicherlich. Die einen oder anderen Gedanken habe ich mir inzwischen zu dem Thema auch gemacht. Doch diese wenigen Gedankengänge weisen mich darauf hin, was ich nicht machen wollte, anstatt dass sie mir einen Hinweis gaben, was ich später einmal machen wollte.

Aber jetzt und hier ist es an der Zeit, sich dieser Frage zu stellen.

«Ja, Mike.» höre ich meine Lehrerin sagen. Schaue auf und merke, dass über die Hälfte meiner Mitschüler in der Klasse die Hand gehoben haben.

«Also, ich möchte Automechaniker werden und Geld verdienen.» beginnt Mike.

«Schön!» erwidert Frau Thal. «Das ist ein schöner Beruf mit Zukunft. Und du Frank.»

«Ich möchte Koch werden.» erwidert Frank.

«Ach, das hätte ich nicht erwartet. Und wie kommst du auf diesen Beruf?» erwidert Frau Thal sichtlich überrascht.

«Na ja. Ich wohne mit meiner Mutter zusammen und das, was sie zum Essen macht, das ist auf den Punkt gebracht, nicht unbedingt immer genießbar. Außerdem kocht sie auch nicht wirklich abwechslungsreich. Vor zwei Jahren verlangte es mich schließlich nach ein wenig Abwechslung, so dass ich aus Neugier schließlich ein paar Gerichte ausprobiert habe und dabei feststellte, wie sehr mir das Kochen Spaß macht.» antwortet Frank.

«Und du Johannes.»

«Ich möchte Tischler werden. Der Werkunterricht an der Schule hat mir soviel Spaß bereitet, dass ich nun beschlossen habe, auf diesem Gebiet weiter tätig zu werden.»

«Schön.» erwidert Frau Thal zufrieden über Johannes Antwort. «Wie sieht es denn mit dem Rest von euch aus. Welche Gedanken habt ihr euch über eure Zukunft gemacht?» fährt Frau Thal schließlich fort, den Rest der Klasse neugierig anschauend. «Was ist mit dir Sven?»

«Ich…» beginne ich zögerlich, «habe mich noch nicht endgültig entschieden.» erwidere ich, wohl wissend, dass ich in Wirklichkeit keine Vorstellung davon habe, was ich in Zukunft machen will.

«Ja. Das kann ich verstehen. Deswegen müsst ihr euch auch gut mit diesem Thema auseinandersetzten.» nimmt Frau Thal den Faden auf «Doch würde mich interessieren Sven, was dir bereits im Kopf vorschwebt in Bezug auf deine Zukunft?».

Mist. Ziel dieser ausweichenden Antwort war es, Frau Thal von meiner Person abzulenken, und nun das. Hm. Was soll ich bloß auf eine Frage erwidern, auf die ich selbst keine Antwort habe.

«Ach, ich weiß, was dir im Kopf vorschwebt!» übernimmt Frau Thal wieder das Wort, wobei sie mich aus meinen Gedanken reißt. «Du möchtest bestimmt wie dein Vater Gas-Wasser- Installateur werden.»

«Nein.» kommt es plötzlich aus meinem Mund herausgeschossen. «Nein.» wiederhole ich, dieses Mal etwas leiser. «Dieser Berufszweig, der ist nichts für mich. Aber eins weiß ich. Ich möchte in Zukunft gern draußen arbeiten. Im Freien.»

Wieso muss ich mich jetzt entscheiden, raunt es mir durch den Kopf. Ich bin grade 15 Jahre alt. Und soll nun eine Entscheidung fürs Leben treffen. Für einige Menschen steht Geld im Vordergrund. Dabei ist es dieser Sorte von Menschen zweitrangig, was sie machen. Hauptsache das Geld stimmt. Aber nicht für mich. Mir ist es wichtig, dass ich am Ende glücklich bin mit der Wahl, die ich getroffen habe.

Während des Unterrichts werden weitere Berufswünsche vorgebracht und diskutiert. Dabei stellt sich für mich immer wieder die gleiche Frage: Woher wissen meine Mitschüler so genau, welcher Beruf zu ihnen passt?

Zusätzlich zu dem mangelnden Wissen über meinen Berufswunsch, bedrückt mich eine weitere Tatsache. Nämlich das Gefühl, dass mit der Wahl des Berufs, so zu sagen, die Gleise für das restliche Leben gestellt wurden. Die anschließende Abwechslung bietet, nach ca. 40 Berufsjahren, die Rente. Und das kann doch nicht alles sein!

«Mein Wunsch ist es, den Realschulabschluss zu machen.» sagt schließlich Stefan und holt mich wieder in den Unterricht zurück.

«Sehr gut.» antwortet Frau Thal und ergänzt, «Du wirst sicherlich den Realschulabschluss schaffen und zwar ohne große Schwierigkeiten.»

Weiter zur Schule gehen? Das hört sich gar nicht so schlecht an. Wo sonst bekommt man so viel Wissen, ohne dafür viel tun zu müssen. Hinzukommen noch die vielen neuen Bekanntschaften. Des Weitern erhält man noch mehr Zeit, um herauszufinden, was man machen möchte. Die Idee mit dem Besuch einer weiterführenden Schule behalte ich im Hinterkopf und verfolge weiter neugierig den Unterricht.

Nachdem der Unterricht zu Ende gegangen ist, beschließe ich, Mike zu fragen, wie er auf seinen Berufswunsch gekommen ist.

«Hey Mike. Na wie geht’s?»

«Gut. Danke. Und selbst?»

«Bestens. Aber Mike. Was ich dich fragen wollte: Wie kommst du eigentlich auf den Beruf Mechaniker?»

«Ganz einfach. Ich habe meinem Vater hier und da bei der Reparatur des Autos geholfen. Das hat mir soviel Spaß gemacht, dass ich mir überlegte, Automechaniker zu werden. Wieso fragst du?»

«Nur aus Neugier. Danke für deine Antwort.» sage ich und gehe zu Frank, Sebastian und Johannes auf den Schulhof.

«Na, alles in Ordnung bei dir?» fragt Johannes.

«Ja schon. Alles bestens.»

«So siehst du aber nicht aus.»

«Ach, es ist nichts Wichtiges. Ich bin einfach nur überrascht, dass so viele Schüler aus der Klasse anscheinend genau Bescheid wissen über das, was sie in Zukunft machen möchten, während ich überhaupt keinen blassen Schimmer davon habe. Das macht mir grade etwas zu schaffen. Hinzukommt, dass jeder sich der Tatsache anscheinend bewusst ist, dass er mit 15 eine Entscheidung zu treffen hat, die sein Leben für den Rest seines Lebens bestimmen soll. Ich persönlich habe das Gefühl, dass ich noch zu wenig von der Welt verstehe, um jetzt schon eine Entscheidung dieses Ausmaßes zu treffen. Die nächsten 40 Jahre bis zur Rente durcharbeiten. Im schlimmsten Falle an einem und denselben Ort gefesselt. Dazu die Aussicht nichts anderes während dieser Zeit machen zu können, als das, was man sich hier und jetzt ausgesucht hat. Außerdem frage ich mich, wozu wir so viel in der Schule aus unterschiedlichen Fächern beigebracht bekommen, wenn wir am Ende dieses Wissen nutzlos in unseren Beruf verkommen lassen.» antworte ich sichtlich unzufrieden.

«Sven. Komm runter! Du siehst alles im Moment viel zu eng. Der Sinn und Zweck einer Schule ist es nicht nur, uns für das spätere Berufsleben vorzubereiten, sondern auch um uns mit einer Allgemeinbildung auszustatten. Entspann dich! Morgen kannst du mit der Mitarbeiterin vom Arbeitsamt sprechen. Diese wird dir bestimmt weiterhelfen können und dann siehst du das Ganze wieder in einem ganz anderen Licht.» erwidert Johannes.

«Du hast ja leicht reden. Du weißt schon ganz genau, was du in den nächsten Jahren machen möchtest. Aber um noch mal darauf zu kommen. Hast du gar keine Bedenken, dass du vielleicht den falschen Beruf ausgewählt hast?»

«Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Manchmal muss man es halt drauf ankommen lassen, um eine Antwort zu erhalten. Bisher bin ich davon überzeugt, dass ich das Richtige tue.» antwortet Johannes.

Manchmal muss man es halt drauf ankommen lassen, um eine Antwort zu erhalten. Ja, sicherlich. Doch in diesem Fall scheint es mir, nicht grade vernünftig zu sein.

«Und was ist mit dir?» fragt Frank Sebastian und holt mich aus meinen Gedanken heraus.

«Also, ich weiß nicht so genau, was ich in der Zukunft machen möchte. Aber was ich weiß, ist, dass ich unbedingt im Freien arbeiten möchte. Vielleicht etwas Handwerkliches. Im Grunde ergeht es mir genauso wie Sven. Ich fühle mich momentan einfach zu jung, um eine Entscheidung dieser Größenordnung zu treffen. Doch habe ich die Hoffnung, dass ich nach der morgigen Stunde etwas mehr Klarheit bekomme, was das Thema betrifft.»

«Vielleicht musst du dir einfach in den Kopf rufen, was deine Stärken sind!» meldet sich Johannes zu Wort und schaut Sebastian an. «Was machst du gern? Was sind deine Hobbys?»

«Also, ich bin gut in Sport und ich mag Geschichte sowie Mathematik. Aber was könnte ich mit diesen Fächern sowie einem Hauptschulabschluss schon anfangen? Und Hobbys? Na ja, ich verbringe gern viel Zeit mit Freunden. Spiele gern Gesellschaftsspiele, gehe gern mit Freunden ins Kino oder schau mir mit ihnen einen guten Film an. Also nichts, worauf man auf einen Beruf schließen könnte. Eins weiß ich aber sicher. Ich möchte keinen Bürojob ausüben, in dem ich Akten wälze. Das weiß ich genau!»

Noch bevor jemand etwas zum Gespräch beisteuern kann, klingelt die Pausenuhr und läutet die nächste Unterrichtsstunde an. Während des Unterrichts und auf dem Heimweg kreisen meine Gedanken unaufhörlich über meine Zukunft. Was soll ich machen? Für welchen Beruf soll ich mich entscheiden?

«Alles in Ordnung mit dir?» fragt meine Mutter schließlich, als ich mich in Gedanken versunken an den Küchentisch setze.

«Ja. Alles bestens. Ich mache mir nur grade ein paar Gedanken über die Zukunft. Darf ich dich etwas fragen?»

«Sicher.» antwortet meine Mutter.

«Wieso wolltest du Krankenschwester werden?» frage ich.

«Oh, Junge. Das war damals etwas anders, als es heute ist. Meine Eltern haben damals von Bekannten erfahren, dass ein Ausbildungsplatz in einem Krankenhaus frei ist. Daraufhin haben deine Großeltern mir gesagt, dass ich mich dort vorstellen soll. Das habe ich dann auch getan und kurze Zeit später begann ich mit meiner Ausbildung. Wieso fragst du?»

«In der Schule nehmen wir grade das Thema Berufe durch. Dabei haben wir die unterschiedlichen Berufe besprochen und viele aus meiner Klasse haben ihre Vorstellung zu diesem Thema geäußert. Dabei ist mir in diesem Augenblick bewusst geworden, dass ich selbst nicht weiß, was ich machen möchte.»

«Hast du denn überhaupt keine Idee? Keine Vorstellungen?» hakt meine Mutter nach.

«Nein.» sage ich betrübt, woraufhin ein Moment der Stille in die Küche einkehrt.

«Mama. Hattest du ungeachtet der Umstände, unter denen du dich für diesen Beruf entschieden hast, niemals die Befürchtung gehabt, dass dieser, vielleicht sagen wir mal in 10 Jahren, sich als die falsche Wahl herausstellt?» frage ich, der ruhelosen Situation überflüssig zu sein.

«Ehrlich gesagt, weiß ich das so genau nicht mehr. Aber ich denke, dass du so nicht an die Sache herangehen solltest. Schließlich weiß keiner von uns, was überhaupt in 10 Jahren sein wird?» erwidert sie.

«Da hast du sicherlich Recht!» erwidere ich zustimmend. «Aber eben da sehe ich auch das Problem. Ich soll in meinem Alter eine Entscheidung treffen, die den Rest meines Lebens bestimmt. Weiß aber auf der anderen Seite nicht, was in 10 Jahren sein wird. Verstehst du, was ich meine? Ich möchte nicht in 10 Jahren feststellen, dass ich die falsche Entscheidung getroffen habe.»

«Vielleicht bist du wegen dieser ganzen Sache so durcheinander, weil du erst für dich herausfinden musst, wer du bist!».

«Bitte was?»

«Ich sagte, du musst herausfinden, wo deine Stärken liegen!» erwidert meine Mutter.

«Nein, nein. Das hast du grade nicht gesagt.»

«Ach wirklich?» fragt mein Mutter nach.

Aber in diesen Moment höre ich ihr schon längst nicht mehr zu. Dem so gleich manifestiert sich wie aus dem Nichts die Frage „Wer bist du?“ in meinem Kopf. Ohne jede Vorwarnung nimmt dieser Satz, bestehend aus drei Wörtern, meine Gedankenwelt vollkommen für sich ein und setzt sich in meinem Kopf fest. Wer bist du?

«Ich weiß nicht, wer ich bin.» antworte ich laut auf die Frage in meinem Kopf, ohne es selbst zu merken.

«Bitte?» fragt sie.

«Ich sagte, ich weiß nicht, wer ich bin!» wiederhole ich und schaue meine Mutter an.

«Aber natürlich weißt du, wer du bist. Du bist Sven, mein Sohn.»

«Ja, ich weiß, dass ich dein Sohn bin. Aber wer ist Sven? Wer ist diese Person dahinter? Darum geht es mir. Verstehst du! Es gibt viele Svens auf dieser Welt. Aber ich möchte wissen, was diesen einen Sven von allen anderen Svens unterscheidet. Verstehst du!»

«Ja schon. Deswegen sag ich dir auch, dass du mein Sven bist.» antwortet sie mit einem leicht verwirrten Gesichtsausdruck.

«Ja, das weiß ich auch.» erwidere ich. «Aber noch mal. Was macht mich anders im Vergleich zu den anderen Svens, anderen Menschen auf dieser Welt?»

«Tja.» beginnt meine Mutter schließlich, der Bedeutung der Frage sich bewusst geworden zu sein. «Du bist ein lieber Junge, der hilfsbereit und klug ist.» antwortet sie schließlich freudestrahlend.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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