Buch lesen: «An Willem», Seite 5

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„Allerdings“, erklärte Jörgensen dann bei kräftigem Kopfnicken seines Partners, „sind Sie, Herr Pedersen, ohne es tatsächlich zu wissen, an einer Stelle zu weit gegangen, was nun zu korrigieren ist. Deswegen sind wir ja auch extra diesen langen Weg gekommen.“

Dann folgte eine ausgedehnte Pause, in der sich die drei Männer schweigend und aufmerksam ansahen bis Holt das Wort ergriff: „Sie wissen scheinbar nicht, wovon wir sprechen, Herr Lehnsmann.“

Pedersen lächelte beide freundlich an ohne preiszugeben, was er wusste oder ahnte. So fuhr Jörgensen fort: „Wir sprechen natürlich von dem Schiff, welches hier draußen hinter Ihrem Deich im Mahlsand liegt. Und da es im Mahlsand liegt, sahen wir zunächst auch keine Veranlassung, uns weiter um diese Affäre zu bemühen. Dann allerdings erfuhren wir aus Ihrer Stadt, dass Sie das Schiff vor Jahren sehr wohl erfolgreich freilegen konnten, wenn auch nichts entnommen worden sein soll.“

Wieder wurde eine lange Pause eingelegt, die wie die vorherige verlief.

„Oder ist etwas entnommen worden, Herr Pedersen?“, fragte Holt in einem sehr freundlichen, aber bestimmten Ton. Pedersen verneinte, bat aber um eine Aufklärung, warum dies so wichtig für Kopenhagen sei.

„Bei allem Respekt Ihnen gegenüber“, antwortete Holt kühl, „sind wir nicht ermächtigt, auf diese Frage einzugehen. Wir haben Ihnen nur mitzuteilen, dass sich auf dem Wrack Unterlagen unter sicherem Verschluss befinden, die wir für außerordentlich relevant halten. Sie können daher keine Bevollmächtigung erhalten, dem Schiff diese Dokumente zu entnehmen. Aus diesem Grunde wurde eine Erklärung vorbereitet, in der Sie durch Ihre Unterzeichnung ab dato von Ihrem persönlichen Besitzanspruch an diesem Schiff keinen Gebrauch mehr machen werden. Wegen Ihrer bekannten Loyalität gehen wir davon aus, dass Sie dies unterschreiben.“

Während Holt sprach, legte Jörgensen das Dokument vor, unter das Pedersen ohne zu zögern sofort seine Unterschrift setzte. Glücklich verabschiedeten sich die beiden Beamten, betonten noch, dass sie sehr häufig brisante Angelegenheiten dieser Art zu erledigen und dabei selten einen solchen hochgeistigen Menschen wie Pedersen getroffen hätten. Als Pedersen die Tür schloss und den beiden noch lange nachsah, wusste er, dass er ihnen uneingeschränkt Recht geben musste. Als er aber einige Tage später seinem Schwiegersohn von diesem seltsamen Vorfall erzählte, bestätigte auch der diesen Eindruck, fügte jedoch zur großen Überraschung des alten Mannes hinzu, damit habe sich die Weissagung der Agata Volquards endgültig bestätigt.

„Du meinst, dass wir die CAROLINE nicht bekommen werden?“, fragte Pedersen erstaunt. Boye antwortete nicht, sondern sah lange durch Pedersen hindurch.

Was ist nur mit ihm? dachte sich der alte Mann währenddessen.

Boye war zu einem gebrochenen Mann geworden. Pedersen war klar, dass er mit Sieke darüber sprechen musste. Aber wie sollte er das machen?

Oder eher mit Bendix? Konnte man denn da gar nichts machen?

Mit dem ersten Frost begann das Warten auf Bendix Pedersen, der nun wieder mehr als ein und ein halbes Jahr fort gewesen war.

Der kleine Willem konnte sich zwar kaum an den Onkel erinnern, hatte aber von Anders und Lorenz wundervolle Geschichten gehört, die der Grönlandfahrer erlebt hatte. Auch wenn seine Mutter mehrfach darauf hinwies, all dies sei wohl kaum wahr und ihr Bruder liebe es eben, sich solche Geschichten auszudenken, verblieb eine ungebrochene Faszination. So wartete Willem an den Nachmittagen am Hafenausgang und blickte in die Flussmündung, um das Schiff auszumachen, auf dem sein Onkel Bendix nach Hause kommen sollte.

Diese Tage im Jahr 1837 sind für mich vielleicht die wichtigsten meines Lebens. Vielleicht hatte ich Willem schon zuvor einmal in der Stadt gesehen. Doch ohnehin glaube ich ja, mich an nichts vor dieser Begegnung erinnern zu können. Ich glaube, dass ich an diesem Tag zum ersten Mal mit Willem gesprochen habe.

Ich traf ihn am Hafenausgang, wo früher die Stelzenhäuser gestanden hatten, in denen Johannes Fock seine Kindheit verbracht hatte. Sturmfluten hatten die Bauten weggerissen. Die Reste waren verfeuert worden, und nur einige dicke, vom Salz ausgemergelte Holzstämme standen im rissigen Schlick. Darauf hatte es sich Willem gemütlich gemacht. Schon als kleines Kind hatte er die dunklen, nicht zu bändigenden Haare seines Vaters, durch die kein Kamm kommen wollte. Und seine schwarzen Kinderaugen lagen so tief, dass man annehmen musste, er könne einfach nicht aus dem gleichen Blickwinkel sehen wie wir.

Bootsmann hatte es sich auf einem anderen Holzstumpf noch gemütlicher gemacht. Er lag flach auf dem Bauch. Die kurzen Beine und der runde Kopf aber hingen schlaff neben ihm hinunter. Nichts an ihm bewegte sich, als ich den beiden näher kam. Unser Gespräch verlief sehr kurz, und ich habe es niemals vergessen:

Willem: „Warum siehst du denn so traurig aus?“

Ich: „Ist das da dein Freund?“

Willem: „Ja, das ist Bootsmann.“

Ich: „Ist das ein Hund?“

Willem: „Ja, das ist Bootsmann.“

Ich: „Hast Du noch einen anderen Freund?“

Willem: „Weiß nicht.“

Von diesem Tag an trafen wir drei uns jeden Nachmittag am Hafenausgang. Und so hörte ich mehr und mehr der vielen Geschichten von Bendix Pedersen, auf den wir nun gemeinsam warteten.

Mitte November fläzte sich Bootsmann nicht mehr auf seinem Holzstumpf herum und döste nicht mehr träge in den langweiligen Schlick. Er saß und roch angestrengt in den Nebel, aus dem sich mühevoll eine breite, runde Schmack mit einer Breitfock und Gaffelsegel sowie großen Seitenschwertern löste. Als die Fock fiel, erkannte Willem einen Mann, der aussah wie der alte Pedersen, wie die Mutter und wie Anders, Lorenz und Marin. Denn alle hatten den großen Körper und den großen, roten Kopf, während nur er und seine Schwester Gesche den schmalen Körper und das Aussehen des Vaters besaßen. Auch Bendix erkannte den Jungen sofort an seiner Erscheinung. Die Schmack wurde gut vertäut, nachdem die Seitenruder eingeholt worden waren, und Bendix ging an Land. Willem und Bootsmann flogen auf ihn zu, und sofort bildete sich zwischen Bendix und Willem, die sich eigentlich kaum kannten, eine besondere und untrennbare Einheit.

„Und was bist du für einer?“, fragte Bendix mich mit strahlendem Gesicht.

„Das ist Jacob Smid“, antwortete Willem für mich und murmelte dann kaum hörbar: „Mein Freund.“

So wurde ich Teil dieser großen Einheit.

Ich habe hier keine materielle Erinnerung an Bendix - so wenig wie eine an Bootsmann, kein Bild, nichts. Den Hund nach seinem Tod präparieren zu lassen wäre nicht möglich gewesen und ohnehin auf besonderen Widerstand bei Willem gestoßen. Obwohl es sich nun wirklich gelohnt hätte.

Von Bendix habe ich nicht einmal eine dieser wunderschönen Walschnitzereien. Immer wieder habe ich in der Stadt herumgefragt, ob nicht noch jemand eines dieser kleinen Kunstwerke besitzen und mir verkaufen würde. Tatsächlich sind mir auch kleine Schmuckkästen, Spazierstöcke aus Walknochen und sogar einmal ein Essbesteck aus Walrosszahn angeboten worden. Doch es blieb immer unklar, ob Bendix all das hergestellt hatte. Darauf lege ich nun einmal Wert.

Als ich Willem einmal nach einem Erinnerungsstück von Bendix fragte, brummte er nur: „Was willst du mit dem alten Kram?“ Er schenkte mir seinen Knochenkamm, der nichts mit Bendix zu tun hatte, den er aber ohnehin nicht brauchte. Seitdem aber benutzte ich nur noch diesen Kamm.

Bendix und Bootsmann erfasse ich nur mit diesem schnellen Rückdenken, das eiliger ist als alles andere, was gerade in mir und um mich herum geschieht.

Nach den ersten Tagen der Wiederkehr, in denen Bendix die Verwandten und den Vater besucht hatte, nahm er Quartier bei der Schwester und begann wieder, Boye in der Schlosserei zu helfen. Die Abende aber gehörten Willem, mir und Bootsmann. Bendix lief mit uns am Fluss entlang und beantwortete alle Fragen, die in den letzten Monaten in uns entstanden waren. Er hatte die Ausrüstung der Walfänger so genau zu erklären wie die Proviantliste.

Mit langen Stöcken zeigte er uns, wie man die Harpune auf den Wal warf. Dabei stellte er sich auf das Bug eines kleinen Fischerkahns und starrte, um den Blas des Wals auszumachen, so intensiv auf den Deich, dass Willen, ich und Bootsmann uns langsam hinter dem Rücken des Seemanns verzogen, um nicht von dem Schwanz des Tieres erschlagen zu werden.

Wenn Bendix dann endlich die Widerhaken der Harpune in den Walrücken gerammt hatte, gab er Tau nach, und es wurde sehr ruhig, denn der Wal versuchte jetzt in seinem Schmerz so tief abzutauchen, dass er dabei manchmal den Grund des Meeres rammte. Dann wurde der Zug am Tau geringer, und wir drei sprangen nun doch lieber auf den Fischerkahn, denn jeden Augenblick konnte der Wal aufkommen. Sein Blas war etwa zehn Schiffslängen entfernt, und er begann das Boot schneller und schneller hinter sich herzuziehen. Wir alle hielten uns fest, der Fahrtwind sauste uns um die Ohren, brannte kalt in den Augen und Bendix holte Tau ein, wodurch das Boot dem Wal immer näherkam. Die Schwanzflossen bewegten sich so heftig, dass Wasser in den Kahn eindrang, und Bendix uns auffordern musste zu schöpfen. Dann kam der Augenblick, in dem der Walfänger die Lanzen zur Hand nahm und sie treffsicher tief in den Rücken des Tieres schleuderte. Der Wal war gefangen. Seine Bewegungen wurden langsamer. Er drehte sich zur Seite, versuchte immer wieder und verzweifelt gerade zu liegen. Doch dann starb er. Wir standen fassungslos auf dem Fischerkahn und hatten Tränen in den Augen. Wir alle weinten.

Schließlich gab Bendix den Befehl zu flensen, drückte uns lange Messer in die Hand, und wir bestiegen den Kadaver, um die dicke Speckschicht in lange Streifen zu schneiden und auf das nahe liegende Mutterschiff zu hieven. Willem und ich kochten den Tran aus, und Bendix schnitt die Barten aus dem Tier, das wir dann losmachten, um es in die offene See treiben zu lassen.

Noch in der Dunkelheit saßen wir um das Tranfeuer herum. Bendix hatte immer wieder ausführlich zu erzählen, wie sein Schiff im letzten Winter von zwei riesigen Eisschollen dermaßen eingeklemmt worden war, dass die Spanten krachten und man schon wieder daran denken musste, es zu verlassen und den beschwerlichen Fußmarsch anzutreten. Dann jedoch war das Wunder geschehen. Die Eisschollen hatten das Schiff nicht zerdrückt, sondern waren unter ihm zusammengelaufen, wodurch die Brigg hochgehoben worden und dann leicht seitlich auf die Schollen gekippt war. Das hatte man dann zum Anlass genommen, Außenreparaturen vorzunehmen. Nach Beendigung dieser Arbeit zog die Mannschaft ihre Brigg mit Eisankern und Winden über das Eis ins freie Meer. Dort trafen sie zu ihrer Verwunderung nicht auf einen Grönland-, sondern auf einen Pottwal, der eine Länge von fast dreißig Fuß hatte. Sie erlegten den Wal und öffneten seinen riesigen Kopf, aus dem das Walrat, eine klare, farblose Flüssigkeit ausströmte, die sofort zu weichem Wachs erstarrte. So hatten sie fast eine Tonne dieses kostbaren Stoffes gewonnen, die sie auf der Rückfahrt schon in Hammerfest für viel Geld verkaufen konnten.

Als der Winter über die Stadt kam, Häuser und Straßen in tiefen Schnee legte, wuchsen bald Eisschollen auf dem Fluss, die zunächst langsam mit der Tide hin und her schwammen, sich dann aber auftürmten und eine Landschaft bildeten, an der Bendix uns nun seine gesammelten Nordmeererfahrungen zeigen konnte. Wir hatten das Walfangschiff verlassen müssen und waren auf dem gefährlichen Weg nach Island. Plötzlich tauchte vor uns ein großes Walross auf, das mit seinen imposanten Stoßzähnen eine bedrohliche Angriffshaltung einnahm. Bendix aber warf seine Harpune so geschickt auf das Tier, dass niemandem ernsthaft etwas geschah. Nur Willem war von einer Scholle abgeglitten und mit einem Bein tief ins kalte Wasser gestoßen. Sehr schnell stellten sich Erfrierungen ein, und noch auf dem Weg an Land hatten ich und Bendix dem Jungen ohne Betäubung die Fußzehen zu amputieren. Zuhause machte Sieke uns große Vorwürfe, und Willem spürte, wie schmerzhaft es war, die angefrorene Kleidung über die Wunden zu ziehen. Von diesem Tag an verbot Sieke Spiele dieser Art.

Noch bevor der Petritag kam, hatte Lorenz seine Lehre beendet. So bereitete nicht nur Bendix seine Abreise vor. Auch Lorenz sollte nun die Stadt verlassen und Erfahrungen bei anderen Kleinschmieden sammeln. Da auch Anders kaum noch im Hause war, sondern gerade seine Gelehrtenschulzeit abschloss und sich auf das Studium in Kiel vorbereitete, bemerkte Sieke mit einem Mal, wie schnell sich ihr gemeinsames Haus nun leeren würde.

Am letzten Abend mit Bendix und den ältesten Söhnen saß die Familie noch einmal im engen Wohnzimmer zusammen. Bendix hatte uns schon eine Stunde lang die Geschichte von den verschütteten Gewölben des ehemaligen Stadtschlosses erzählt, die ein fremder Matrose von der Flussseite her durch einen Zufall entdeckt hatte. Dort war er einem vermummten Mann mit einer bunten Feder am Hut und einigen Schwierigkeiten mit dem linken Fuß begegnet, der dem Seemann angeboten hatte, ihm zu großem Glück und zu dem gleichen Reichtum zu verhelfen, wie es der König selbst besitzen würde. Dafür müsse er aber drei Prinzessinnen, die seit mehr als hundert Jahren im Keller eingesperrt waren, befreien und alles, was er vorfinden würde, teilen. Der Matrose erkannte jedoch, dass der vermummte Mann der Teufel selbst war und jagte ihn fort. Dann hörte er drei Frauenstimmen aus den Gewölben, konnte aber nicht näher eindringen. Er ließ sich von dem örtlichen Pastor gründlich segnen und mit einem erhabenen Spruch ausstatten, durch den er bald Zugang zu den wunderschönen Prinzessinnen und einem Schwert bekam, mit dem er einen fürchterlich tobenden Wachhund zu erschlagen hatte, um die kostbaren Schätze der Prinzessinnen erreichen zu können. In dem Augenblick, als er, ohne jedoch den erhabenen Spruch zu sagen, zum Schlag ausholte, verwandelte sich der Hund in einen flehenden Greis, in dem der Seemann seinen eigenen Vater erkannte. Er warf das Schwert fort, floh aus dem Gewölbe und hörte hinter sich das bösartige Lachen des Teufels. Am nächsten Tag wurde er bleich, in verkrampfter Haltung und mit gelähmter Zunge am Eingang gefunden. Drei Tage später starb er an Wahnsinn.

„So hätte es Jaspersen auch gehen können, wenn er weiter nach den Krebsen gegraben hätte“, sagte Sieke daraufhin. „Nur deswegen hat er es damals aufgegeben.“

„Vielleicht war er ja schon bei den Prinzessinnen“, antwortete Bendix daraufhin und erzählte nun auch noch ausführlich die Geschichte von den Krebsen auf dem Marktplatz.

Nachdem Marin allen noch ein Lied vorgesungen hatte, blieb Bendix mit den Erwachsenen allein. Während der gesamten Wintermonate hatte er mit Boye weder über die CAROLINE noch über die Explosion gesprochen. An diesem Abend aber wollte er auf das Thema kommen, ohne zu wissen, dass es tatsächlich auch die letzte Gelegenheit sein würde.

„Wir wissen alle, Boye, dass ich tief in deiner Schuld stehe“, wandte er sich an den ärgerlich abwinkenden Schwager.

„Doch! Ich hätte dich von dem Mahlsand ebenso abhalten können wie von dem Unglück in deinem Garten. Was bleibt, ist ein großer Schuldenberg, eine ungenutzte Pumpe am Hafen und ein verwüsteter Garten. Aber auch ein toter Johannes Fock. An vielen Dingen kann ich heute nichts mehr ändern. Nur die Schulden kann ich helfen abzubauen.“

Sieke wollte in das Gespräch eingreifen, doch Bendix ließ sich nicht unterbrechen.

„Mit meinen Nordmeerfahrten habe ich wenig dazu beitragen können, weil der Ertrag immer geringer wird. Deshalb habe ich mich entschlossen, nicht mehr bei den hiesigen Fangschiffen anzuheuern, die nur auf den Grönlandwal aber nicht auf den Pottwal gehen. Der Pottwal wird von nordamerikanischen Schiffen gejagt. Die befahren den gesamten Atlantik von Afrika bis Südamerika und können sehr lange auf See bleiben. Der Speck wird an Bord ausgekocht und das gewonnene Öl mit anderen Schiffen in die Heimat gebracht. Ich werde mindestens fünf Jahre wegbleiben und Dir dann meine Schulden bezahlen.“

Boye blieb stumm, doch Sieke protestierte wortgewaltig und forderte ihren Mann auf zu widersprechen. Boye senkte jedoch seinen ergrauten Kopf und fand auch am nächsten Tag kein Abschiedswort.

Als auch Lorenz das Haus verlassen hatte und Boye allein in der Werkstatt weiterarbeitete, stellte er das Sprechen ganz ein. In dieser Zeit begann Marin damit, jeden Nachmittag in die Werkstatt des Vaters zu gehen und dort ungefragt manchmal nur wenige Minuten, manchmal fast eine Stunde lang leise zu singen.

Sieke wurde nun zur Vermittlerin zwischen Boye und seinen Auftraggebern. Sorgenvoll beobachtete sie den Zustand ihres Mannes, sprach mit ihm wie vorher und glaubte, nach einigen Wochen würde sich alles wieder verändern. Doch Boye sprach nie mehr. In wenigen Monaten wurde sein Haar, das ihm nun lang über die Schulter fiel, weiß. Nur die dichten Augenbrauen blieben dunkel. Erst jetzt lernte Sieke, wie die einzelnen Arbeitsabläufe in der Schlosserei aussahen, lernte die Wörter für die Werkzeuge und für die vielen verschiedenen Produkte, die Boye herstellte, denn sie war noch nie in ihrem Leben so viel mit ihrem Mann zusammen wie jetzt, da er sprachlos geworden war. Sie lernte, den Auftraggebern mögliche Probleme in der Werkstatt zu erklären und lernte auch, Boye zu erklären, was er genau herzustellen hatte.

Sie sprach mit ihrem Mann zärtlich und manchmal andächtig wie mit einem Kind. Boye verständigte sich mit ihr nur noch durch seine Augen, denen sie ablas, ob er ein Ja oder ein Nein, ein Vielleicht oder ein Später meinte. Siekes Bitte, doch einen Arzt aufzusuchen, beantwortete er mit einem entschiedenen Augen-Nein.

Marin erhielt auf ihren Gesang ein Augen-Danke. Willem lernte die Augensprache besser als alle anderen, und so unterhielt er sich mit ihm beim gemeinsamen Essen über die ersten Lernerfolge in der Schule, über mich oder über die älteren Brüder und Bendix. Auch mit mir übte Willem nach diesen Erfolgen fleißig die Augensprache, was jedoch oft in Albernheiten endete, weil sich bei uns wundervolle Missverständnisse einschlichen, wenn wir uns aus Versehen versprochen hatten.

Gesche allerdings wich dem Vater aus. Boye, konnte zu seiner Tochter, die damit begann, jeden Tag mehrere Stunden zu malen, keinen Zugang mehr finden. Das Malen allerdings wurde von kaum jemandem ernst genommen und beachtet, denn Gesche benutzte weniger Kohle oder Ölfarben für ihre Arbeit als vielmehr alles andere, was sie finden konnte und was Farbe von sich gab wie unreife Walnussfrüchte, Gewürze, reifes Gemüse, aber auch Blätter und Rinden der Bäume, tierisches Blut, Schlick oder einfach Dreck, den sie im Haus oder in der Schlosserei fand. Die Farben pinselte sie nicht nur auf das Papier, sondern drückte, kratzte oder zerrieb sie. Die Bilder, die dann entstanden, sahen schließlich nicht aus wie Bilder, die man in gewohnter Weise zu sehen bekam. Man erkannte keine Menschen, Bäume oder Landschaften, sondern sah Kreise und andere geometrische Figuren, die ineinander verschlungen und manchmal durch derbe Farbstriche zerstört waren. Die wenigen Bilder, die Gesche verschenkte, wurden meist freundlich entgegengenommen und verschwanden dann irgendwo. Fast niemand hängte sich Gesches Bilder mit Namen wie Gestern zurück oder Da ist es an die Wände.

Jaspersen hatte von dieser seltsamen Leidenschaft des Mädchens erfahren und bei einem Besuch Siekes in der Apotheke darum gebeten, doch einmal diese Bilder sehen zu können. Wenige Tage später war Gesche mit einer großen Mappe vorbeigekommen, hatte etwa zehn Bilder vorgezeigt und zum Erstaunen aller in Jaspersen einen Interessenten für sämtliche Bilder gefunden. Doch ebenfalls zum großen Erstaunen hatte Gesche sich geweigert, die Bilder abzugeben und Jaspersen erst nach dessen langem Bitten ein Bild mit dem Namen Kleine Schritte zu mir überlassen.

Auf diesem Bild war mit hellen Naturfarben eine Anordnung verschiedener Spiralen dargestellt, die aus einem tiefroten Raum heraustraten. Jaspersen versprach, das Bild nicht in der Hölle, sondern an einem sicheren Ort aufzuhängen. Gesche erhielt so viel Geld dafür, dass sie sich eine Tüte Safran, neue Bögen Papier und ein großes Stück Leinen kaufen konnte.

Was diese Angelegenheit betraf, wurde der Apotheker auch nicht von seinen engsten Freunden und Bekannten verstanden, hatte er doch erfolgreich einen größeren Kreis von Bürgern um sich gesammelt, die miteinander verband, dass sie, wie sie sagten, uneingeschränkt königstreu seien. Die unregelmäßigen Zusammenkünfte, die man Frederiks-Treffen nannte, fanden im Wintergarten des Apothekerhauses statt, wo auch Kleine Schritte zu mir aufgehängt worden war. Die Hölle hatte sich bis dort nur wenig ausgebreitet. Unter den Gästen war der Zollinspektor Christian Gülting mit zwei Zollassistenten. Gülting, mit schwarzem, angeklebtem Haar und einem ebenso angeklebten Schnurrbart, hatte zuvor seinen Dienst an der Elbe getan und war ein weit gereister Mann.

Im Gegensatz zu den anderen beherrschte er außer Deutsch und Dänisch noch weitere Sprachen und kannte Europa weitaus besser als der neue Navigationslehrer, Kapitän-Leutnant Middeloe, ein drahtiger Mann von der Ostsee mit einem ungewöhnlichen Bart.

Unter den Gästen befand sich aber auch der alte Postmeister Nonne Fynn, mit seinem stets strengen Gesicht. Er war besonders klein und so sehnig wie Middeloe. Er hatte Haarstoppel, die im Gesicht und auf dem Kopf immer gleich, dünn und blond waren. Außerdem gehörte zu der Runde häufig ein Landgerichts- und ein Untergerichtsadvokat.

Auch Klaasen kam dazu, wenn auch er sich nur selten aktiv an den Gesprächen beteiligte.

Trotz der vorgegebenen Einheit bestand die Gruppe aus zwei verschiedenen Fraktionen.

Beide verband die Ablehnung der deutschen Staaten, der deutschen Kultur und ihrer Sprache, wenn auch Jaspersen noch Sympathien für einige Oppositionelle in diesen Staaten hegte. Der Kreis um Jasper Jaspersen sprach sich für eine mögliche Ausgrenzung Holsteins aus dem dänischen Königreich aus, das sich seiner Meinung nach eher nach Skandinavien als nach den deutschen Kleinstaaten orientieren sollte. Die neuen Gesetze und darunter auch die Lockerung der Pressezensur wurden von diesem Personenkreis begrüßt.

Die andere Gruppe um den alten Postmeister verfolgte vehement die totale Eingliederung auch Holsteins in den Gesamtstaat und die Aufrechterhaltung des alten dänischen Mehrvölkerstaats. Die neuen Gesetze und besonders die neue Verwaltungsbehörde der Herzogtümer in Gottorf, die sich Regierung nennen durfte, wurden von dieser Gruppe abgelehnt.

Das brachte Klaasen in einer zufälligen Gesprächspause zu dem Einwand, diese politischen Entscheidungen seien vom König selbst getroffen worden, und als treuer Anhänger des Königs müsse man es doch billigen. Das wurde jedoch mit einem Stimmengewirr beantwortet, aus dem heraus sich endlich die des Apothekers behaupten konnte, der dem Pastor sein Bedauern darüber aussprach, dass der noch nicht bemerkt habe, auf welche unglaubliche Weise der König zu dieser Entscheidung, die zwar seiner Meinung nach nicht unbedingt falsch sei, gezwungen worden sei.

„Der Deutsche Bund steht dahinter. Von dort kam die Forderung nach einer Standesverfassung. Aus den deutschen Staaten. Und warum? Klaasen? Warum? Nicht weil es richtig ist. Weil sie Holstein wollen und Schleswig gleich dazu. Daran wird gearbeitet. Seit Jahren gearbeitet. Lesen Sie das Pamphlet von Lornsen, der nach Brasilien floh und dort auch nicht sein Glück fand. Lesen Sie es, und Sie wissen, warum er aus unserem Land verstoßen wurde und sich nun gerade fern seiner Heimat das Leben nehmen musste. Doch Schleswig gehört zu Dänemark. Zu unserem skandinavischen Bündnis.“

Nun war Jaspersen nicht mehr zu halten. Er griff ein Buch aus seiner Bibliothek, die durch die Erweiterung der Hölle in den Wintergarten verlegt worden war.

„Kennen Sie Rasmus Rask?“, brüllte er den Pastor an und hielt ihm das Buch direkt vor das Gesicht. Es entstand eine lange Gesprächspause, in der Klaasen die Schrift auf dem Buchdeckel so dicht vor Augen hatte, dass sie vor ihm verschwamm.

„Die deutschen Professoren tun gerade so, als seien Deutsch und Dänisch das Gleiche. Falsch, schreibt Rask. Die nordischen Sprachen sind Teil einer selbständigen Sprachfamilie.“

Er warf Klaasen das Buch in den Schoss und griff nun lateinische Bücher seines Vaters aus den Regalen, um sie abfällig in den Raum zu werfen.

„Das hier brauchen wir nicht. Warum lateinische Bücher, wenn wir die altnordische Sprache haben? Und warum sollen unsere Kinder Deutsch lernen und nicht Dänisch? Wir sollten unsere Treffen dazu nutzen, den Gedanken Grundtvigs zu folgen. Auch in diesem Landstrich des Königs ist die nordische Sprache, vor allem aber unsere Muttersprache sowie unsere dänische Kultur tief in den Herzen zu verankern. Aus unserer Mitte haben wir eine Schule für das Volk zu errichten, die diese Gedanken in die Tat umzusetzen hat. Gründen wir eine Schule im Sinne Grundtvigs, meine Herren!“

Erschöpft ließ sich der Apotheker vor dem verstummten Pastor auf einen Stuhl fallen. Das Frederiks-Treffen hatte sich nun mit seinen Ausführungen zu beschäftigen, und Jaspersen hörte abwartend zu, denn nur so konnte er aufmerksam die Früchte seines Beitrags einsammeln.

Als sich aber schließlich das Gespräch nicht weiter entwickelte und sich nur um die Frage drehte, ob auch in der altnordischen Sprache die Errungenschaften der Philosophie, Medizin und Astronomie dargestellt seien oder ob dies zunächst einmal auf das Altnordische übersetzt werden müsse, ob man mit der Sprache diese Errungenschaften aufzugeben habe und Gleiches in der nordischen Kultur zu finden sei, sah Jaspersen den Zeitpunkt gekommen, allem eine zweite für den Abend überraschende Wendung zu geben.

Feierlich trat er zurück in sein Haus und kam nach wenigen Sekunden mit einer Zeitung wieder in die nun respektvoll schweigende und abwartende Runde.

„In diesem Jahr, meine Herren, sind zwei große Taten vollbracht worden. Die neue Zollverordnung des Königs, die die politische Grenze unseres Landes mit der Zollgrenze gleichsetzt und Betrug und Schmuggel auch in diesem Landstrich verhindert. Das ist das eine. Das andere aber halte ich hier in meiner Hand. Es ist eine erste dänische Wochenschrift: Dannevirke ! Diese Zeitschrift ist unter Beistand unseres Thronfolgers in Haderslev gegründet worden und spricht den königstreuen Dänen aus dem Herzen. Damit haben wir endlich ein Gegenstück zur Sprache der Kieler Professoren und zu ihrem Pamphlet, das sie Lyna nennen.“

Dafür erntete Jaspersen anerkennenden Beifall, an dem sich auch Klaasen beteiligte.

Alle besahen sich die neue Zeitschrift, auf deren Kopf eine uneinnehmbare Burg mit dem Dannebrog auf einem hohen Turm neben einer aufgehenden Sonne abgebildet war. „Et Ugeblad for Hertugdömmet Slesvig“ stand darunter. Eine Schule aber wurde an diesem Abend nicht gegründet, und am nächsten Tag sortierte Jaspersen die lateinischen Bücher wieder ordentlich in die Regale.

Einige Wochen später hatte Sieke in die Apotheke zu gehen, um neue Konstruktionszeichnungen für die Hölle abzuholen und sich Details erklären zu lassen.

„Ich habe gehört, Ihr Sohn studiert jetzt Juristik in Kiel, Frau Deletre“, begrüßte Jaspersen Sieke in seinem fleckigen und durchlöcherten Kittel.

„Da haben Sie wohl noch viel vor mit dem jungen Mann. Aber seien Sie achtsam. In Kiel kann er schnell auch schlechten Einflüssen unterliegen. Es gibt dort einige Professoren, die sich ganz offen gegen unser Königreich hervortun.“

Sieke verstand überhaupt nicht, wovon der Apotheker sprach - aber sie verstand den Mann aus verschiedenen Gründen ja ohnehin nicht. Jaspersen jedoch wollte nicht weiter auf das Gesagte eingehen und nannte ihr nur zwei Namen Kieler Professoren, die er vertrauenswürdig fand.

„Wenn Sie sich die Namen merken können, Frau Deletre, dann sagen Sie Ihrem Sohn, an diese beiden soll er sich halten. Dann ist er in guten Händen.“

Sieke versprach etwas verwirrt, dies Anders auszurichten, wenn er wiederkäme, und schrieb sich zu Hause die Namen auf.

Die beiden ältesten Söhne kamen jedoch das gesamte Jahr hindurch nicht nach Hause. Ihren Briefen konnte Sieke entnehmen, dass Anders mit großem Interesse studierte und sich mit Lorenz in Kiel zeitweise ein Zimmer geteilt hatte. Dann war Lorenz aber weitergezogen, hatte in Lübeck gearbeitet und zum Jahresende in der Tuchfabrik eine Anstellung gefunden, die Boye und Bendix vor einigen Jahren einmal aufsuchen wollten, um dort die Funktion der Dampfmaschine zu studieren.

Erst im Sommer des Jahres 1841 kehrte Anders für einige Wochen nach Hause zurück, bevor er für einige Semester nach Göttingen wechseln wollte. An einem Wochenende besuchte auch Lorenz die Familie, denn er arbeitete gerade in einer nahegelegenen Stadt auf der Geest.

Die gesamte Familie außer Bendix war zusammen und feierte dies gemeinsam mit dem alten Pedersen und dem alten Bootsmann an einem Sonntagnachmittag bei einem großen Kaffeekranz im Schlossergarten wie vor vielen Jahren, als die SCHLESWIG-HOLSTEIN eingeweiht worden war. Boye saß stumm am Kopfende der Tafel und erklärte Willem und mir sehr umständlich mit seiner Augensprache das Fangen von Aalen mithilfe einer Reuse, während Anders vergeblich die Aufmerksamkeit seines Vaters erringen wollte, indem er Pedersen laut von einem Friedrich List erzählte und von dem Bau einer Eisenbahnlinie, die von Dresden nach Leipzig führte.

„Da sind sie endlich“, rief er seinem Großvater sehr laut zu, „die dampfbetriebene Wagen. Man steigt hinein und ohne einen Peitschenhieb bewegen sie sich auf den Eisen. Bewegen sich von einer großen Stadt zur anderen.“

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