GRAHAMS HOFFNUNG (Survivor 2)

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Aus der Reihe: Survivor #2
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»Okay, wir fangen jetzt damit an, ein paar Setzlinge zu ziehen. Parallel planen wir die Gartengestaltung.«

»Das klingt prima. Wir freuen uns alle unheimlich auf frisches Gemüse. Sag Bescheid, wenn ihr Hilfe braucht. Ich bin mir sicher, dass Addy gern im Gewächshaus mithelfen würde«, fügte Clarisse hinzu – und bereute ihre Worte sofort.

»Das ist eine großartige Idee.« Kim leuchtete bei der Vorstellung auf wie ein Weihnachtsbaum. »Wir sollten das mit allen Kindern machen. Wir hängen eine Einschreibeliste aus!«

Bei der bloßen Erwähnung einer Einschreibeliste lächelte Clarisse und nickte, wobei sie wusste, dass jetzt der Punkt erreicht war, bis zu dem sie ihr Gespräch hatte ertragen können. Sie wich mit ihrem Tablett in den Händen langsam zurück, nickte dabei und lächelte, bis sie dachte, der Abstand sei groß genug, um sich umzudrehen und zu entkommen. Sie setzte sich neben Addy und hatte das Gefühl, ihren Pflichtteil am geselligen Teil des Zusammenlebens im Lager für diesen und noch einige weitere Tage erfüllt zu haben.

Clarisse sah zu, wie Addy hungrig ihren Reis verspeiste und sich dann über ihre Mandarinen hermachte. Sie kicherte und hörte Dalton zu, der die Geschichte erzählte, wie sich ihr Dad im letzten Herbst so leise hinter einen Elch geschlichen hatte, dass das riesige Tier vor Schreck aufgesprungen war, als es den Menschen so nahe bei sich bemerkt hatte. »Wie eine verängstigte Katze ist er in die Luft gesprungen.« Das kleine Mädchen lachte bei der Vorstellung, wie ihr Dad einen Elch erschreckt hatte. In Addys Augen gab es nichts, was ihr Vater nicht tun konnte.

Clarisse beobachtete, wie Addy auf Daltons Schoß kletterte, sich in seine Arme schmiegte und um eine weitere Geschichte über ihren Vater bat. Sie wünschte, sie könnte das Glück dieses Augenblicks, das sich auf dem Gesicht des Mädchens spiegelte, für immer erhalten. Als Addy sich umdrehte, um den anderen Kindern weiterzuerzählen, was Dalton über ihren Vater gesagt hatte – »Es ist alles wahr!« – sah Clarisse Dalton in die Augen und formte mit dem Mund das Wort Danke.

Er lächelte und sagte seinerseits lautlos: Immer gerne.

Kapitel 5

Beim Häuten der Wölfe

Das Innere des Gewächshauses roch nach dem Gemisch aus Lehm und Torf, in dem sie die Samen zum Keimen brachten. Graham verband den starken Geruch mit Ostern – und mit dem Ausheben von Gräbern. Besonders beunruhigend war, wie sich die beiden Erinnerungen miteinander verbanden: Schokohasen mit pastellfarbenen Schleifen und gelbe Marshmallow-Küken tauchten in Szenen auf, in denen er das Gesicht seines Vaters mit Erde bedeckte. Jedes Mal, wenn er auch nur einen Fuß in das Gewächshaus setzte, blitzten diese Bilder vor seinen Augen auf. Aber so war es eben. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die absurden Bilder und Gedanken loszuwerden. Bei den anderen gab es ähnliche Trigger, die unkontrollierte Erinnerungen auslösten, sowohl gute als auch schlechte; man wusste nie, was in dieser neuen Welt eine Reaktion auf die alte hervorbringen würde.

Sam und er hatten für die Dauer der Frostperiode vorübergehend ein Gestell errichtet, auf dem ihre Beute im Gewächshaus ausbluten konnte. Die Gewächshauschefin namens Tala hatte – leicht zähneknirschend – zugestimmt. Das Gestell bot genug Platz, um zwei erlegte Tiere gleichzeitig zu verarbeiten. Die Abmachung war: Solange sie sich daran hielten, die Pflanzen in Ruhe zu lassen, würde Tala ihnen ihren Kaffee nicht vorenthalten.

Hätten sie die Tiere präparieren wollen, um sie wie in der alten Welt auszustellen, hätte das Enthäuten weit mehr Aufmerksamkeit erfordert. Da sie jedoch nur das Fell verwerten konnten, kümmerte sich Graham nicht darum, die Pfoten oder den Kopf sauber herauszuarbeiten. Außerdem hätte er für eine solche Prozedur zwei bis vier zusätzliche Stunden auf einem umgestürzten Eimer unter einem viel zu grellen Scheinwerfer sitzen müssen, in denen er vermutlich mit Bildern von knallbunten Jelly Beans und pastellfarbenen Ostereiern zu kämpfen gehabt hätte. Er fuhr mit dem kleinen scharfen Häutemesser von der Innenseite der Pfote des Wolfes bis zum Ellbogen und dann die innere Schulter hinauf, wobei die Klingenspitze ganz knapp unter der Haut blieb. Auf ähnliche Weise bearbeitete er die anderen Gliedmaßen, nachdem er zuerst mit jeweils einem quergeführten Schnitt die Haut öffnete. Dann fuhr er mit der scharfen Klinge am inneren Hinterbein entlang bis zum After.

Als Nächstes setzte er sich auf den Eimer und kratzte die Sehnen und zähen Gewebestücke ab, während er das Fell immer weiter in Richtung Schädel zog. Wölfe zu häuten war übelriechende Arbeit, aber sobald Graham es als seine Aufgabe akzeptiert hatte, ignorierte er den Moschusgeruch und arbeitete zügig und zielstrebig. Wenigstens verflogen einige der merkwürdig vermischten Erinnerungen, sobald der starke Geruch einsetzte.

Nachdem er bis zum Hals gekommen war, arbeitete er sich zu den Vorderbeinen vor. Die ermüdende und eintönige Aufgabe würde ihn den größten Teil des Abends kosten, zumal er zwei Tiere vor sich hatte. Aber wenn er das Häuten nicht richtig ausführte, würden die Haare nach und nach ausfallen. Und sollte das geschehen, wären alle Anstrengungen umsonst gewesen.

Graham hatte vor vielen Jahren von seinem Vater gelernt, wie man Tiere häutete, ohne zu wissen, wie nützlich diese Fertigkeit einmal sein würde. Immer, wenn er das Messer in die Hand nahm, überkamen ihn die Erinnerungen. Von Mal zu Mal waren diese Erinnerungen leichter zu ertragen, und inzwischen schätzte er sie sogar, obwohl sie ihn anfangs beinahe in den Wahnsinn getrieben hätten.

Sie planten einige Bauprojekte für die Zeit, in der das Wetter wieder wärmer wurde. So hoffte er, zwei weitere Schlafzimmer an die Blockhütte anbauen zu können, eines für Tala und ihn und eines für die Zwillinge. Danach würden er und Sam sich darum kümmern, den noch kleinen Stall auszubauen. Die Idee war, sich ein paar Rinder zu besorgen, eine kleine Herde zu halten und so ihre Ernährung um Milch und Fleisch zu ergänzen.

Er war fast am Schwanz angelangt, als Marcy mit einer Tasse heißen Kaffee durch den Eingang kam. »Hi Graham, Tala hat gesagt, dass du das hier brauchst«, sagte sie und reichte ihm die dampfende Tasse.

Bislang war es ihnen immer geglückt, auf ihren Plündertouren Kaffee aufzutreiben, aber Graham fürchtete den Tag, an dem sie keinen mehr finden würden.

»Warte einen Moment«, sagte er, stand auf, steckte das Messer ein und zog seine Handschuhe aus. Während er die Handschuhe Finger für Finger von seinen Händen zog, kam er zu dem Schluss, dass Marcy normalerweise nicht einfach so vorbeikam und Geschenke brachte. Graham vermutete, dass sie noch etwas anderes dabeihatte als nur Kaffee.

Marcy gab die warme Tasse in seine kalten Hände.

»Also, bist du bereit für die Jagd?«, fragte er in dem Wissen, dass er besser derjenige war, der das Gespräch lenkte.

»Ja, ich bin bereit.« Sie blieb stehen und betastete das rohe Fleisch mit ihrer Fingerspitze.

»Du hast deine Waffe gereinigt?«

»Ja. Wie du es mir gezeigt hast, Graham«, sagte sie mit verdrehten Augen, entfernte sich ein paar Schritte von den toten Tieren und ging zu den Tischen, auf denen die Setzlinge keimten. Er erinnerte sich an eine Szene mit seinem Vater, als er einmal einem Nachbarn erzählt hatte: »Man muss Teenagern immer mindestens einen Schritt voraus sein, damit sie sich nicht selbst umbringen.« Ein echt guter Rat, wenn man nicht schon drei Schritte hinter ihnen wäre, dachte Graham.

Sie wollte eindeutig etwas. Hoffnung verdichtete die Luft, die sie atmeten. Er nahm noch einen Schluck Kaffee und schwor sich, dass er es ihr nicht leicht machen würde.

»Also, worüber hast du dich vorhin mit Macy gestritten?«

»Ach, da war nichts, Graham.« Das lief nicht so, wie sie wollte, und er war froh darüber. »Ich dachte nur, sie lässt sich etwas hängen, aber wir haben es geklärt. Wie du es uns gesagt hast«, fügte sie hinzu.

»Gut. Ihr beide seid Schwestern, und wenn es um mein Leben ginge, ich kann nicht nachvollziehen, worüber zum Teufel ihr euch überhaupt streitet. Ihr seid das glücklichste Geschwisterpaar unter all den Trägern hier. Um genau zu sein, seid ihr bislang das einzige Geschwisterpaar, das ich kenne. Also seid dankbar.« Er fragte sich, worüber er sonst noch ausführlich lamentieren könnte, um Marcys wahre Absichten in Schach zu halten.

»Die einzigen anderen Blutsverwandten, die wir kennen, sind Dalton und Mark. Sie sind Cousins, aber natürlich ist Dalton kein Träger«, schwafelte er weiter. Er war nicht bereit für das Gespräch, das sie vermutlich mit ihm führen wollte. Je länger er sie davon abhielt, desto besser.

Schließlich verdrehte sie die Augen und sagte: »Ich weiß, Graham! Wir reden dann später.« Grummelnd stapfte sie zurück zur Hütte.

Graham nahm noch einen Schluck Kaffee und konnte nicht anders, als leise zu kichern. Diese Elternpflichten gingen ihm furchtbar auf die Nerven, vor allem, wenn es um fünfzehn-, bald sechzehnjährige Zwillingsmädchen ging. Zumindest hatte er es geschafft, sie noch einmal zu bremsen.

Nachdem sie sich seit Monaten gegenseitig beäugten, vermutete er, dass sie und Mark sich Tag für Tag näherkamen. Aber Graham und Tala hatten das Gefühl, dass die beiden mindestens noch zwei Jahre warten sollten. Mit sechzehn hatte Mark noch viel zu lernen, bevor er ein Ehemann werden konnte.

Ennis sah das anders. Er war noch in einer Zeit groß geworden, in der es alltäglich gewesen war, früh zu heiraten. Auch, dass Fünfzehnjährige verheiratet wurden, war nichts Ungewöhnliches gewesen. Er argumentierte, dass sie in einer in vielerlei Hinsicht merkwürdigen Zeit lebten, und wenn die beiden einander verpflichtet waren, war das für ihn in Ordnung. Graham und Tala beschlossen dennoch, dass Mark und Marcy gut warten konnten, bis sie wenigstens achtzehn war. Was ihnen genug Zeit verschaffen würde, um die beiden so gut wie möglich darauf vorzubereiten.

 

Eine Schwangerschaft an sich war ein ganz eigenes Problem. Clarisse hatte alle vor dem möglichen Risiko gewarnt. Das Virus war eine Gefahr unbekannten Ausmaßes, sowohl für den Fötus als auch die Schwangere. Bisher war keine der Frauen in der Prepper-Gemeinschaft schwanger geworden, sodass Clarisse noch nicht direkt mit dem Problem konfrontiert worden war. Graham und Tala ergriffen alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen es ihnen gelang, zu zweit zu sein, denn sie hatten schreckliche Angst vor dem Ergebnis. Tala hatte bereits einmal eine Fehlgeburt erlitten, und Graham hatte nicht vor, sie das noch einmal durchmachen zu lassen. Zumal es auch aufgrund des Virus mehr als unsicher war, ob es das Kind schaffen würde. Erst nach der Geburt würde sichtbar werden, welche Auswirkungen das Virus mit sich brachte.

Graham trank seine Tasse aus, zog sich die Handschuhe an und machte sich wieder an die Arbeit. Als er das zweite Fell freigelegt hatte, war die Sonne längst untergegangen und er musste seine Arbeit im Licht des schwachen Scheinwerfers beenden. Einen Moment später rief Tala zum Abendessen. »Gib mir noch etwas Zeit, um das Fell aufzuspannen – bin gleich da«, rief er zurück.

Es ging ihm schnell von der Hand, die Felle auf den Rahmen zu bringen, vor allem, da ihn sein Magen nach einem harten Arbeitstag knurrend antrieb.

Kapitel 6

Aufbruch

Sam weckte Mark sehr früh am nächsten Morgen, und Mark wiederum holte seinerseits Marcy aus dem Schlaf. Alle redeten leise, um die anderen nicht zu wecken.

Nachdem sie rasch in ihre Kleidung geschlüpft war, betrachtete Marcy die schlafende Gestalt ihrer Schwester. Sie dachte kurz darüber nach, ob sie Auf Wiedersehen sagen sollte, aber irgendwie hielt sie ihr Stolz davon ab, sich diesem Drang zu beugen. Sie wollte nicht mehr nur Macys Zwillingsschwester sein. Sie war mehr als das. Vor allem in Marks Augen war sie mehr als das. Dank ihm trennte sich Marcys Leben zum ersten Mal von dem ihrer Schwester. Endlich, dachte sie.

Marcy ging zu Tala in die kleine Küche, die nur von einer Petroleumlampe etwas erhellt wurde. Sie schonten den wenigen Solarstrom, so gut sie konnten, und um für die Jäger Lebensmittel für ein paar Tage einzupacken, brauchten sie nur wenig Licht. Tala umarmte Marcy und gab ihr eine gut gemeinte Warnung mit auf den Weg: »Marcy, du musst auf Sam und Mark hören. Gib immer auf dich acht und gehe keinerlei Risiken ein.« Tala betonte besonders das Wort Risiken, in der Hoffnung, dass das Mädchen verstand.

»Ich passe schon auf«, sagte Marcy und setzte ein ungläubiges Lächeln auf. »Ich bin doch kein Baby. Ehrlich gesagt, ihr behandelt mich alle wie ein kleines, zerbrechliches Kind.«

»Marcy, auf gewisse Weise sind wir jetzt alle sehr zerbrechlich«, sagte Tala. »Bitte, höre auf Sam und mache ihm keine Probleme«, wiederholte sie.

»Ist gut«, versprach Marcy und erinnerte sich daran, was »zerbrechlich sein« bedeutete. Körperliche Unversehrtheit war ein hohes Gut in diesen Tagen, und eine Verletzung davonzutragen, ganz zu schweigen vom Tod, konnte viel zu schnell geschehen. Im Verlauf der Monate war es ihr immer schwerer gefallen, in der Erinnerung die Ereignisse noch einmal durchleben zu müssen, die sie an diesen Ort gebracht hatten. Die richtigen Erinnerungen an Ort und Stelle zu halten und die anderen in die Tiefe gleiten zu lassen, während sie gleichzeitig versuchte, erwachsen zu werden, bedeutete eine ständige Anstrengung.

Mark traf Sam und Graham beim Scout, der bereits im Leerlauf brummte, und half ihnen, die Ausrüstung aufzuladen. Als Sam in die Hütte ging, um eine weitere Ladung zu holen, zog Graham Mark beiseite. Seine Warnung glich derjenigen, die Marcy von Tala erhalten hatte. »Mark, höre auf alles, was Sam dir sagt, und lass dich von Marcy nicht um den Finger wickeln.«

Mark brachte ein gespieltes Husten hervor. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Graham so direkt werden würde.

Graham lachte, während Mark sich von dem Schrecken erholte. Mark erwiderte mit einem Grinsen: »Graham, Marcy und ich haben eine Abmachung. Und ich habe dir schon versprochen, dass ich es nicht zulasse, dass sie mich um den Finger wickelt, wie du es nennst, bis sie achtzehn ist. Ich habe vor, dieses Versprechen zu halten. Aber nur bis zu diesem Tag.«

»Wenn das jemand anderes zu mir gesagt hätte, würde ich ihn erwürgen. Mark, du bist mir genauso wichtig wie sie. Ich geleite dich sogar an deinem Hochzeitstag vor den Traualtar, solange du dein Versprechen hältst«, sagte Graham lächelnd. »Aber ganz ernsthaft: Ihr beide müsst auf Sam hören, und seid vorsichtig.« Er umarmte den jungen Mann.

Sam, Marcy und Tala kamen aus der Blockhütte, gefolgt von Sheriff, der sich auf die Suche nach der Ursache für den allgemeinen Aufruhr zu dieser frühen Stunde gemacht hatte. Sam setzte sich ans Steuer. Marcy kletterte auf den Rücksitz und verkündete, sie hoffe, während ihrer Fahrt noch ein wenig Schlaf zu bekommen.

Der Himmel begann heller zu werden und sich auf einen trüben, violettfarbenen Sonnenaufgang vorzubereiten. Tala stand an Grahams Seite und sie winkten den drei hinterher wie Familienmitgliedern, die auf eine lange Reise aufbrachen. Letztlich waren sie alle über die vergangenen Monate genau zu dem geworden – zu einer Familie.

Als der Motorlärm in der kalten Morgenstille verklungen war, führte Graham Tala zurück in die Hütte. Auch Sheriff entschied, dass er für diesen Tag noch nicht bereit war. Er folgte ihnen ins Innere, aber statt in Macys Bett zurückzukehren, ließ er sich von der Wärme des Ofens anziehen und legte sich daneben.

Graham hielt Tala im Wohnzimmer an und überlegte, ob er sie in dieser halbwegs privaten frühen Stunde »um den Finger wickeln« sollte, aber Macy oder Bang würden mehr als wahrscheinlich jeden Moment hereinkommen. Ich kann den Frühling kaum erwarten, dachte er. Er entschied sich, sie stattdessen nur in seine Arme zu schließen und mit ihr zusammen auf dem Sofa wieder einzuschlafen. Für seinen Geschmack war sie noch immer deutlich zu blass, und er fragte sich, was es mit ihrer Behauptung, alles sei in Ordnung, auf sich hatte.

***

Keine Stunde später wachte Graham wieder auf und streichelte Talas langes, dunkles Haar, während sie schlafend auf seiner Brust lag. Er spürte, dass etwas anders war als vorhin. Als er die Augen öffnete, sah er Ennis in seinem Schaukelstuhl sitzen und mit leerem Blick in die Flammen im Ofen starren. Graham hatte ihn nicht in den Raum kommen hören.

»Wir sind nicht dazu bestimmt, hier zu sein«, murmelte der alte Mann zu sich selbst oder zu einem Geist; Graham wusste es nicht.

Da er Tala nicht aufwecken wollte, blieb Graham still liegen und beobachtete Ennis für eine Weile. Wenn er herausfand, was es mit seinem merkwürdigen Verhalten auf sich hatte, konnten sie ihm vielleicht helfen. Es beunruhigte ihn, dass Ennis den relativ weiten Weg aus dem Schlafraum allein zurückgelegt hatte. Irgendwie hatte Graham das Gefühl, dass es für ihre Sicherheit umso besser war, je länger der alte Mann ihnen erhalten blieb. Er hoffte nur, dass er von Ennis bereits jetzt so viel gelernt hatte, wie für ihr Überleben notwendig war. Gleichzeitig wünschte er sich, dass Ennis verstand, wie sehr sie ihn lieben und schätzen gelernt hatten.

»Ein Sturm kommt auf, und damit jede Menge Probleme«, murmelte Ennis und nickte mit dem Kopf auf und ab. Diesmal sah der alte Mann Graham direkt an.

»Was für Probleme meinst du, Ennis?«, flüsterte Graham. Er wusste, dass Tala so oder so bald aufwachen würde, aber er wollte sie nicht aus dem Schlaf schrecken.

»Die da drüben, auf der anderen Seite des Flusses«, sagte Ennis und deutete mit einer Handbewegung in Richtung des Prepper-Lagers.

Tränen standen in den Augen des alten Mannes. Graham war sich nicht sicher, ob das den Augen des alten Mannes geschuldet war oder ob Ennis weinte.

»Die Prepper werden Probleme bekommen?«, fragte Graham ihn. Er konnte nachvollziehen, wie Ennis zu dieser Schlussfolgerung kam, schließlich hing das Todesurteil des H5N1-Virus immer noch über allem und jedem.

»Ja, sie werden eine Menge Probleme bekommen«, wiederholte Ennis, nickte bestätigend und richtete dann seinen milchigen Blick wieder auf die Flammen im Ofen. Schließlich nickte er ein und sein Kopf rutschte ihm auf die Schulter.

Als Graham hier in der Blockhütte zum ersten Mal auf Ennis getroffen war, hatte der alte Mann häufig Unheimliches von sich gegeben. Manche hatten gedacht, es könnten so etwas wie Vorahnungen sein, aber Graham hatte eher vermutet, dass der alte Mann eine Show für sie abzog. Jetzt, als Ennis ihnen langsam entglitt, waren die unergründlichen Warnungen zurückgekehrt. Wie zuvor akzeptierte Graham sie lediglich als bloße Verirrungen eines müden Geistes.

Tala erhob sich aus ihrer bequemen Position, setzte sich auf und grinste Graham an. »Hatten wir etwa Publikum?«, fragte sie.

»Für eine Weile. Er ist wieder eingeschlafen, denke ich«, flüsterte Graham. Sie stand langsam auf, um nach Ennis zu sehen. Ein Speichelfaden lief ihm über das Kinn, also holte sie einen sauberen Lappen und wischte ihm sanft übers Gesicht. Nachdem sie seine kalten Hände berührt hatte, entschied sie, dass er eine Decke brauchte. Graham gab ihr die noch warme Decke, die sie geteilt hatten, und als sie Ennis damit zudeckte, sah sie stirnrunzelnd auf. »Irgendetwas stimmt nicht, Graham. Es geht ihm nicht gut.«

Graham streckte seinen großen Körper und riss seine Augen auf, um wacher zu werden. Er hatte in letzter Zeit viel zu wenig geschlafen. »Ja, und er murmelte etwas von einem Sturm und dass die Prepper Schwierigkeiten bekommen würden«, sagte Graham.

»Ich spreche heute mit Clarisse, da frage ich sie. Vielleicht kann sie uns ein paar Tipps geben, was wir tun können, um seine Schmerzen zu lindern«, sagte sie besorgt. Graham sah Tala in die Augen und streckte die Arme aus, um sie zu halten. »Er war nur ein Geschenk für kurze Zeit. Wir beide wissen, dass er nicht mehr lange bei uns sein wird. Aber wir können uns glücklich schätzen, dass er überhaupt bei uns war.«

Von Sheriffs Platz neben dem Ofen kam ein schlurfendes Geräusch. Er hatte wieder seinen »Jag-das-Eichhörnchen-Traum« und seine Vorder- und Hinterbeine bewegten sich unwillkürlich, während er mit einem gelegentlichen Grunzen auf der Seite lag. Die amüsante Ablenkung half Graham und Tala, sich wieder ein wenig zu entspannen.

»Ich hoffe, diesmal kriegt er es«, sinnierte Graham, und Tala lachte leise.

»Ich auch. Der arme Kerl«, sagte sie und schlüpfte davon, um die erste Tasse Kaffee des Tages zu machen. Auf dem Weg in die Küche berührte sie Ennis leicht an der Schulter.

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