GRAHAMS HOFFNUNG (Survivor 2)

Text
Autor:
Aus der Reihe: Survivor #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Macy, kannst du Tala anfunken und ihr sagen, sie soll Rick kontaktieren? Ich brauche noch heute Abend Kinderbesuchszeit, bevor es dunkel wird. Ich werde für ein paar Tage weg sein, also möchte ich Addy sehen, bevor wir losfahren«, bat Sam.

»Aber sicher, Sam. Ich hätte schon vorhin wegen eines Besuchs fragen sollen.« Macy übermittelte die Nachricht sofort.

»Ich helfe dir, die Wölfe auf die Gestelle zu wuchten, bevor wir uns auf den Weg machen«, sagte Sam zu Graham.

Graham schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Macy und ich kriegen das hin. Sie hat Kraft. Du verbringst jetzt noch etwas Zeit mit Addy.«

»Ich will sie nur für ein paar Augenblicke wiedersehen«, sagte Sam.

Die Geräusche von Marks Schritten und dem Schlitten, den er hinter sich herzog, näherten sich. Der Junge arbeitete in diesen Tagen wie im Zeitraffer. Sie waren alle erstaunt darüber, wie gut er sich von seinen weniger glücklichen Erfahrung mit den Preppern erholt hatte. Obwohl sie ihre Gründe gehabt hatten, war es hart für den Jungen gewesen, der fast noch ein Kind war. Als sie ihn gefunden hatten, war er ein Wrack gewesen, und jetzt übertraf der junge Mann sowohl Graham als auch Sam bei fast jeder Aufgabe.

»Also gut, lass uns die Beute ins Gewächshaus bringen«, sagte Graham.

»Ich packe weiter unsere Sachen«, sagte Sam. Er ging zurück zur Blockhütte, dicht gefolgt von Graham und Mark, die den Schlitten mit den beiden Wölfen zogen.

Macy winkte zum Abschied und sah ihnen nach, wie sie sich den Pfad zurück nach oben kämpften. Wieder hob sie das Fernglas, überprüfte erneut ihr gesamtes Blickfeld und lauschte einen Moment später der einsamen Stille, die vor ihr über dem gefrorenen See lag.

Kapitel 3

Sein braves Mädchen

»Also los, wir versuchen es noch einmal«, sagte Graham. »Ihr beiden haltet ihn an den Schultern, ich zähle bis drei, dann stemmen wir ihn hoch, und ich schiebe« – er holte Luft und wischte mit dem Hemdsärmel den Schweiß von seiner Stirn – »das Hinterbein auf den Haken. Seid ihr bereit?« Noch einmal holte er tief Luft. »Eins, zwei, hoch

Während Graham das hintere Ende des Wolfs hochhob, versuchten Macy und Bang, den übrigen Körper des Tieres hoch genug zu bekommen, damit Graham eines der Hinterbeine durch die aufgeschnittene Öffnung zwischen Knochen und Sehne auf den Haken schieben konnte.

Grahams Arme und Schultern zitterten vor Anstrengung, als er versuchte, das Tier mit sicherem Griff hochzuheben. Macy und Bang neben ihm ächzten. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Tier in Position zu bringen. Triumphierend hängte Graham das Gewicht an den Haken und sie ließen langsam los und stießen den angehaltenen Atem aus.

»Puh, was für ein großer Kerl! Er muss an die hundertfünfzig Pfund wiegen«, keuchte Graham.

Bang lachte. »Er ist so groß wie du!«

Sam kam zu ihnen ins Gewächshaus. »He, ich habe doch gesagt, ich würde euch dabei helfen.« Er ging zu dem kleineren Wolf, der noch auf dem Schlitten lag, hob ein Hinterbein hoch und schob seinen Daumen an der richtigen Stelle zwischen Sehne und Knochen durch die Haut. Dann zog er den Haken herunter und hievte gleichzeitig das Bein nach oben. Er schob den Haken durch die Öffnung im Bein des Tieres und zog es hoch. Auch er hatte damit ein wenig zu kämpfen, aber seine langen sehnigen Muskeln, die an diese Art von Arbeit gewöhnt waren, erfüllten ihre Aufgabe, und er atmete gleichmäßig aus. Im Vergleich dazu, wie fertig Graham aussah, schien es für Sam eine leichte Übung gewesen zu sein.

»Wie zum Teufel hast du das gemacht?«, fragte Graham ungläubig, während Macy und Bang lachten.

Sam, der niemals einen anderen Mann vorführte, sagte einfach: »Meiner war leichter. Ich gehe dann mal Addy besuchen. Bis später!«

***

Sam lief durch den tiefen, unberührten Schnee und bahnte sich einen neuen Weg hinunter zum Fluss. Es hatte wieder geschneit seit dem letzten Mal, als er bis zur Biegung am Skagit River gelaufen war, der die Grenze zum Lager der Prepper markierte. Die Nachmittagssonne hing schon tief am Horizont, verborgen hinter den immergrünen Baumwipfeln. Im dichten Wald war es so dunkel, dass es auch später Abend hätte sein können. Sam näherte sich dem Treffpunkt und musste daran denken, wie das leise klirrende Geräusch des gefrorenen Flusses bald zum Brüllen hinabrauschender Wassermassen werden würde, wenn die Schneeschmelze aus den hohen Bergen der Cascade Mountains kam. Er betrat die Lichtung und wischte den puderzuckerleichten Schnee von dem Felsbrocken, der sein Sitz geworden war, wenn er auf Addy wartete.

Er holte die neueste Schnitzerei aus seiner Manteltasche und setzte sich. Dieses Stück Holz war zu einem grauen Wolf geworden, ganz ähnlich dem, auf den er heute geschossen und den er verfehlt hatte. Er nahm sein Messer heraus und machte ein paar detaillierte geschwungene Schnitte entlang der Brust des Tieres, um die lange Mähne des Wolfs hervorzuheben. Schließlich schabte er das weiche Holz mit der Klinge glatt, um sein Werk zu vollenden.

Ziemlich bald schlängelte sich sein Mädchen durch das hohe, ausgetrocknete Unterholz. Clarisse war bei ihr. Addy winkte und ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihn entdeckte. »Hi, Daddy!«, rief sie Sam laut über den Fluss zu.

»Hallo, mein Herz!«, rief Sam zurück. Wie er es schaffte, seinen Schmerz zu verbergen, blieb ihm in diesem Augenblick selbst ein Rätsel. Aber er war froh, dass er immer noch die Kraft hatte, sie vor dem Elend zu schützen, das er in sich spürte.

»Sieh dir meine Haare an, Daddy«, sagte Addy und zog ihre Strickmütze vom Kopf. Sams erste Reaktion bei diesem Anblick war pures Entsetzen. Es musste ihm anzusehen gewesen sein, denn Clarisse drehte das Mädchen um, damit er den Hinterkopf sehen konnte.

»Sie wollte meine Frisur nur ausprobieren!«, rief Clarisse. »Sie hat immer noch ihre schönen langen Haare, Sam.«

»Es sieht fantastisch aus, mein Mädchen.«

Er erinnerte sich an viele Abende, an denen er sein kleines Mädchen auf dem Schoß ihrer Mutter hatte sitzen sehen, die ihr die Haarbürste durch die Locken gezogen und dazu ein kleines Lied gesungen hatte. Er vermisste es, Addys Haare zu kämmen, wie er es nach dem Tod ihrer Mutter immer getan hatte. Sam erinnerte sich genau, wie gut sie gerochen hatte, mit rosigen Wangen frisch nach dem Bad und in einem sauberen Schlafanzug. Addy und ihre Mutter fehlten ihm sehr, und die immer präsente Erinnerung an beide hielt ihn in einem Zustand beständiger Qual. »Danke, Clarisse, dass du auf sie achtgibst«, sagte er.

»Oh, kein Problem, Sam. Wir verstehen uns wunderbar.« Clarisse umarmte das Mädchen an ihrer Seite.

»Ich habe dir eine neue Figur mitgebracht, Addy«, sagte er und warf den geschnitzten Wolf wie immer über den Stumpf einer Kiefer auf dem anderen Ufer.

Clarisse holte eine Plastiktüte aus ihrer Tasche und gab sie Addy, die schon losrannte, um die Figur zu holen. Das Risiko, sich mit dem Virus von einem Gegenstand zu infizieren, den Sam lediglich in der Hand gehabt hatte, war gering, aber sie waren trotzdem auf der Hut.

»Danke, Daddy! Er ist wunderschön«, sagte Addy und betrachtete den Wolf in der Plastiktüte genauer.

»Gern geschehen«, sagte Sam. »Addy, ich gehe ein paar Tage auf die Jagd, aber ich komme bald wieder, okay?«

»Okay, Daddy.« Sie runzelte die Stirn, als ihr ein Gedanke kam. »Aber du kommst auf jeden Fall zurück, richtig?«

»Natürlich, Addy. Ich komme immer zu dir zurück. Ich werde dich nie verlassen, mein Herz.«

»Daddy, ich vermisse dich«, sagte Addy laut genug, dass Sam die Enttäuschung in ihrer Stimme trotz der Entfernung hören konnte. Es klang eher wie eine verwirrte Frage als eine Aussage. Sie hatte noch nicht verstanden, unter welchen Gegebenheiten sie jetzt lebten. Wie konnte sie auch, wenn selbst er wie in einem Zwischenleben gefangen war und ständig im Stillen auf irgendein Heilmittel hoffte?

»Ich vermisse dich auch, mein Schatz.« Sams Stimme brach. »Ich bin nicht länger als drei Tage weg. Male mir ein paar Bilder, okay?«

»Okay, das mache ich. Ich liebe dich, Daddy. Sei vorsichtig auf der Jagd«, sagte Addy und winkte mit ihrer kleinen linken Hand, während sie die geliebte Holzschnitzerei mit der rechten an ihre Brust gedrückt hielt. Sie warf ihm einen Kuss über den Abgrund hinweg zu, der zwischen ihnen lag, und Sam fing ihn auf und schickte seinerseits einen Kuss zurück. Es machte ihm ganz und gar nichts aus, ob ihr Ritual auf Clarisse albern wirkte oder nicht.

»Mach’s gut, Clarisse«, sagte Sam, und er vermutete, dass sie ihrer Stimme nicht traute und sich deshalb ohne Worte verabschiedete. Sie winkte Sam einfach zu, und er sah ihnen nach, bis sie zurück im Wald und außer Sichtweite waren.

Sam zitterte vor Kummer und Schmerz. »Verdammt«, sagte er leise, während er mit beiden Händen seine Knie umfasste und sich nach vorn beugte, den Blick auf den kalten, verschneiten Boden gerichtet.

Verzweiflung durchdrang seine Seele mit einer solch unaufhörlichen Qual, wie er sich die Schmerzen bei einer Kreuzigung vorstellte. Jeden Morgen erwachte er und trat den Tag an im vollen Wissen, wo er sich befand und weshalb er seine geliebte Tochter zurückgelassen hatte. Und am Abend nahm er denselben Schmerz mit sich in den Schlaf. Manchmal hielten ihn seine Treffen mit Addy hinreichend am Leben, aber manche Begegnungen, wie diese, ließen ihn wie einen Gefangenen zurück, machtlos und außerstande, sich und seine Tochter vor dem Wahnsinn zu schützen.

»Ich werde dich nie verlassen«, flüsterte Sam und erneuerte den Schwur. Er nahm sich Zeit, um zu Grahams Camp zurückzukehren.

 

Kapitel 4

Einfach Addy

Clarisse hielt Addys Hand, als sie zurück ins Lager gingen. »Wie wäre es, wenn du und ich zum Abendbrot gehen, bevor die anderen das Barbecue-Hühnchen alleine aufgefuttert haben?«, schlug Clarisse vor, um Addys mürrisches Schweigen zu brechen. Die meisten mochten das pflanzliche Protein mit Hühnergeschmack, und es war normalerweise schnell alle. Das Mädchen hatte auf ihrem Rückweg kein Wort gesagt, und Clarisse spürte, wie ihre Gedanken auf der Suche nach einer Lösung um das Problem kreisten. Sie gehörte zu den Kindern, die nichts einfach hinnahmen, und Clarisse mochte das. Aber zu viele Überlegungen oder gar riskante Pläne konnten sie in Schwierigkeiten bringen. Wenn Addy einen Weg suchte, um mit ihrem Vater zusammen zu sein, würde Clarisse sie von diesem Weg ablenken müssen, damit sie in Sicherheit blieb. Addy suchte nach einer Lösung, anstatt über Hühnchenersatz nachzudenken.

»Clarisse, Dad ist doch deswegen nicht bei mir, damit ich das Virus nicht bekomme. Aber kannst du nicht einen Weg finden, dass ich es habe und zu ihm gehen kann? Ich glaube, er ist sehr allein.« Kindliche, aber ernsthafte Sorge zeichneten kleine Linien auf ihre Stirn.

Clarisse hockte sich auf dem verschneiten Pfad auf Augenhöhe zu dem Mädchen hinunter. »Mein Liebes, ich arbeite jede freie Minute an einer Lösung.« Sie steckte ihr eine eigenwillige Locke zurück hinter das Ohr. »Nichts würde mich glücklicher machen, als dich und deinen Vater wieder zusammen zu sehen, aber ich kann dich nicht mit dem Virus anstecken. Verstehst du, dass du ziemlich sicher stirbst, wenn du es bekommst?«

»Dad ist nicht gestorben. Er ist wieder gesund geworden.«

»Für die meisten Menschen gilt das nicht. Und wenn ich zulasse, dass du stirbst, wäre dein Dad sehr, sehr unglücklich. Ich weiß, dass er jetzt unglücklich ist, und du bist es auch, aber ihr seid beide am Leben und könnt euch sehen, miteinander reden. Ihr dürfte euch nur nicht berühren, weil es für dich gefährlich ist. Ich verspreche dir, dass ich alles gebe, einen Impfstoff zu finden. Aber ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich ist. Bitte, du musst verstehen, dass ich alles tue, was ich kann. Aber ich möchte nicht, dass du dir zu große Hoffnungen machst.« Sie umarmte das Mädchen, sowohl um Addy zu trösten, als auch um ihre eigene Traurigkeit zu verbergen.

»Und nun komm, lass uns essen gehen. Du kannst Dalton dein neues Tier zeigen!«

***

Die Wache ließ surrend das Schloss am Eingangstor aufschnappen und Clarisse und Addy gingen in das Herz ihres Lagers, zum Speisezelt. Es war ein Ort der Gemeinschaft, an dem sich die Prepper am Ende des Tages trafen, Zeit miteinander verbrachten und Neuigkeiten austauschten. Dalton wartete mit offenen Armen, um das Mädchen zu begrüßen. Addy rannte nicht in seine Umarmung wie bei ihrem Vater, aber sie lehnte sich lange an ihn. Die Linien auf ihrer Stirn blieben.

Dalton spürte die Melancholie in Clarisse und Addy sofort. Er warf Clarisse einen fragenden Blick zu. Sie lächelte traurig und zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Was, als ein trauriges kleines Mädchen, sollen wir in dieser Situation sonst erwarten?

»Hey, Addy, was hat dir dein Dad diesmal geschnitzt?«, fragte Dalton. Addy hielt den Beutel hoch und zeigte den Wolf. Als ihre traurigen braunen Augen seinen Blick trafen, sagte er: »Wow, ich bin beeindruckt, wie der flauschige Schwanz aus dem Holz gearbeitet ist. Das Schnitzen gelingt ihm immer besser. Willst du es den Jungs zeigen?«

Sie schüttelte den Kopf und zog den Beutel näher an ihre Brust. Ihre Reaktion und der Grund dafür sorgten für einen harten Kloß in Daltons Hals. Er war sich ziemlich sicher, woran es lag. Er schlang sie wieder in seine Arme und versuchte, bei ihr das Gefühl, in seiner Familie unerwünscht zu sein, zu zerstreuen. Dann hob er sie hoch und nahm sie auf einer der Bänke vor den langen Esstischen auf seine Knie.

Clarisse ging, um Addys Abendessen zu holen. Als er sie beobachtete, musste Dalton lächeln. Clarisse war selbst sehr wählerisch beim Essen und genauso sorgfältig stellte sie Addys Teller zusammen. Das Mädchen wollte immer nur die gleichen, einfachen Nahrungsmittel auf ihrem Teller haben. Alles musste möglichst vorhersehbar sein. Genauso hielt es Clarisse, beim Essen wie im übrigen Leben – Fakten blieben Fakten und wurden schonungslos bloßgelegt, nichts wurde ausgeschmückt, und sie versuchte nie, etwas aus den Dingen zu machen, was sie nicht waren.

Das genaue Gegenteil von Kim, dachte Dalton, als er aufstand, um Addy auf eine Bank zu setzen, damit sie in Ruhe ihr Essen zu sich nehmen konnte. Er ging, um sich selbst etwas zu essen zu holen. Die Warteschlange war jetzt länger und bewegte sich nur langsam, aber er hatte es nicht eilig. Während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam, dachte er darüber nach, wie seine Frau auf die Idee reagiert hatte, dass sich ihre Familie um Addy kümmerte.

***

Ohne es jemals wirklich versucht zu haben, hatte es Kim schnell aufgegeben, mit dem Mädchen zu kommunizieren, und die Angelegenheit hatte sogar ihre Ehe belastet. In der Öffentlichkeit redete Kim so, wie er es sich von ihr gewünscht hätte, aber im Privaten blieb sie eiskalt. Sie hatte ihre beiden Jungs, um ihre Mutterliebe zu beweisen. Dieses am Boden zerstörte, stille kleine Mädchen mit seinem großen, aber unausgesprochenen Bedürfnis nach Liebe war ihr zu fremd. Sie fand die ganze Situation und das Mädchen unwürdig, hatte Kim einmal gesagt.

Sie redete sich bei Dalton heraus, indem sie ihm von all der Zeit und Mühe berichtete, die sie vergeblich investiert hätte, um das Mädchen zu erreichen, und schloss bedauernd, dass es trotz ihrer Bemühungen einfach nie »klickt gemacht« habe zwischen ihnen beiden. Kim sagte zu allen, die sie danach fragten: »Ich verstehe sie eben einfach nicht«, als ob die Schuld bei Addy läge.

Eines Tages hatte Kim entdeckt, dass sich Addy während der Schule auf dem Klo versteckte. Sie hatte das verzweifelte kleine Mädchen angeschrien, das dorthin geflohen war, um für sich allein zu weinen. Die anderen Kinder hatten sich über sie lustig gemacht und sie eine Heulsuse genannt.

Noch am selben Abend hatte Dalton Addy in der Dunkelheit dabei ertappt, wie sie ihren Rucksack gepackt hatte, um das Lager zu verlassen. Etwas musste passieren oder das Mädchen würde sich am Ende selbst Schaden zufügen. Er hatte seine Frau dazu überredet, sie aufzunehmen, weil er meinte, dass er es Sam schuldete. Was er nicht verstand, war, warum Kim eine solche Abneigung gegen das verwaiste Mädchen verspürte. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Wie konnte sie so hartherzig sein, ein harmloses Kind spüren zu lassen, dass es nicht gewollt war? Und dennoch. Gab es vielleicht noch eine andere Möglichkeit?

Am selben Tag, so hatte er später erfahren, war Kim in der Quarantänestation gewesen, um mit Clarisse zu sprechen. Kim war zu dem Schluss gekommen, dass Clarisse – eine weitere Person, die sie einfach nicht verstand – von allen Frauen im Lager die beste Wahl wäre, um sich um Addy zu kümmern. Kim erklärte es Dalton noch an diesem Abend im Bett, gleich nachdem sie leise, aber intensiv miteinander geschlafen hatten: Addy war genau der einzelgängerische, schlaue Typ Außenseiter wie die Ärztin, nur in einer jüngeren Ausgabe. Das Mädchen zu Clarisse zu geben, war für alle das Beste. Alle Schwierigkeiten gelöst, Ende der Geschichte.

In dieser Nacht streichelte Dalton die weiche, blass leuchtende Haut ihrer bloßliegenden Hüfte. Sie lag auf der Seite, und das flackernde Leuchten der Laterne hob ihre Kurven hervor. Kim wusste um die Wirkung ihrer weiblichen Waffen und benutzte diese stets zu ihrem Vorteil. Sie flüsterte leise: »Dalton, nochmal wegen Sams Mädchen. Sie gehört nicht zu uns. Sie passt nicht in unsere Familie. Wir müssen sie gehen lassen.«

Er hob seine Hand und hörte auf, sie zu streicheln. Kim wandte sich der Wand zu, offensichtlich nicht interessiert daran, was seine Meinung zu diesem Thema war. Sie ließ ihn immer ihre guten Seiten statt ihrer Fehler sehen. Das Licht der Laterne tanzte über ihren bloßliegenden Hintern, ihre untere Rückenpartie, die Taille, die schmale Schulter. Er liebte sie, obwohl er fürchtete, dass ihre Seele nichts als Kälte enthielt.

»Gehen lassen?«, wiederholte er und drehte sie an der Schulter zu sich um. Ihr Ausdruck war aufgesetzte Arglosigkeit. »Gehen lassen wohin

»Clarisse wird sie aufnehmen. Ich habe das bereits geklärt. Du wirst sehen, dass ich recht habe. Es ist das Beste.« Sie drehte sich wieder um und zog sich die Decke über die Schulter.

Dalton starrte lange auf die Umrisse seiner Frau. Dann erhob er sich ohne ein Wort von ihrem Doppelfeldbett. Er zog sich seine gefleckte grüne Camouflagehose über die nackten Hüften. Seine »Hundemarke« hing ihm von der Brust, als er sich vorbeugte, in die Stiefel schlüpfte und die Laterne nahm. Als er ihren Abschnitt im Zelt verließ, warf er noch einen Blick in den Bereich, in dem seine Jungs schliefen. Ihre kleinen Oberkörper hoben und senkten sich langsam und regelmäßig. Er wandte sich dem nächsten abgetrennten Bereich zu, wo er nach Addys schlafender Gestalt suchte. Statt schlafend fand er sie kniend am Ende ihrer Pritsche, wo sie durch das kleine Plastikfenster zum Mond hinaufblickte. Sie bemerkte seine Anwesenheit, als er still dastand und sie beobachtete. Sie drehte sich halb um. »Denkst du, Clarisse wird mich mögen?«

Es beschämte ihn, dass Addy sie gehört hatte. Er und Kim hatten sich angewöhnt, sowohl im Liebesspiel als auch in privaten Gesprächen still und leise zu sein. Ohne auf Addys Frage einzugehen, sagte er: »Warum schläfst du nicht, mein Kleines? Es ist spät.« Das Mondlicht warf einen fahlen Schimmer auf ihr Profil.

»Ich bin nicht müde.« Addy hatte den Stoff ihres Nachthemdes zwischen den Fingern, faltete den Saum, drückte den Stoff fest zusammen und glättete ihn dann wieder. Sie sah ihn an. »Kann Daddy auch den Mond sehen?«

Dalton musste schwer schlucken. »Ja. Ja, das kann er.« Er zog einen Stuhl zu sich heran, damit er ebenfalls nach draußen ins Mondlicht sehen konnte. Still teilten beide dieses wunderbare Ereignis. Addy drehte sich wieder um und bestaunte die helle Kugel über dem Wald mit einem Lächeln auf ihren roten Lippen. Der volle, helle Mond machte die Laterne überflüssig, die er noch in den Händen hielt.

Nachdem er den Docht heruntergedreht hatte, sagte er: »Du bist nie weit von deinem Dad entfernt. Er sieht den gleichen Mond wie du. Jetzt versuche zu schlafen, Kleines. Ich bleibe bei dir.« Er hielt die Decke hoch, damit sie darunter kriechen und sich einkuscheln konnte. Nachdem er Addy zugedeckt hatte, strich er ihr sanft über die Wange. Sie schloss die Augen. Das zufriedene Lächeln blieb auf ihrem Gesicht. Dalton gab ihr einen leichten Kuss auf die Schläfe, setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett und starrte in das Mondlicht.

Kims Einstellung gegenüber Addy würde sich nicht ändern. Dalton wusste das, auch wenn es ihm nicht gefiel. Aber wenn sie einen neuen Platz für Addy finden mussten, war es am besten, es gleich zu tun.

Als langsam die Sonne aufging und ihr Licht das des Mondes ersetzte, wartete er schon darauf, dass sich das schlafende Kind rührte. Sie blinzelte zu ihm auf und lächelte ihn zögerlich an. Er fühlte sich nicht besonders glücklich. Er fühlte sich, als würde er Sam ebenso betrügen wie Addy.

»Guten Morgen, Liebes.« Er legte einen Finger an die Lippen. »Lass uns einen Spaziergang machen«, flüsterte er. Ihren Rucksack hatte er bereits gepackt, während der schlaflosen Stunden, in denen er meist grübelnd neben ihrem Bett gesessen hatte. Er warf den Rucksack über die Schulter und hielt Addy die Hand hin. Sie lächelte; sie wusste Bescheid. Sie stand barfuß auf ihrem Bett und er wickelte sie in die Decke, damit sie warm blieb auf ihrem Weg durch die Kälte.

Im Morgengrauen lag das Lager der Prepper fast verlassen da, nur vereinzelt waren Bewohner anzutreffen, die schon so früh ihren Tag beginnen wollten. Clarisse gehörte zu den Lärchen und man sah sie nur selten zur Quarantänestation gehen und zurückkommen – wenn sie ihre Arbeit überhaupt verließ. Das würde sich ändern, so viel wusste Dalton.

Er hielt Addy in seinen Armen warm, drückte den Summer am Tor und nickte dem Posten zu. Addy lächelte den Mann an. In der Stille des kalten Morgens schmiegte sie sich dichter an Daltons Brust.

»Alles wird gut, Addy. Ich bringe dich zu Clarisse. Von jetzt an bleibst du bei ihr. Verstehst du?«

 

Sie nickte.

»Sie wird gut auf dich aufpassen. Ich besuche dich jeden Tag, Liebes.« Er zog sie fester an sich. Er versuchte sein Bestes, um den Schmerz und den Groll aus seiner Stimme zu nehmen.

»Clarisse ist auch einsam. Ich mag sie«, flüsterte Addy.

»Ich auch«, sagte Dalton. Seine Stiefel knirschten auf dem schneebedeckten Kiesweg. Dann zeigte Addy mit einem kleinen Finger nach oben. Rauschende Flügelschläge erklangen über ihnen in der sonst fast vollkommenen Stille. Dalton blieb stehen. Beide sahen nach oben in den grauen Morgenhimmel und sahen den Gänsen nach, die in V-Formation in Richtung des Sees flogen und dort langsam heruntergingen. Dalton vermutete, dass sie sich in der Nähe von Grahams Camp sammelten.

Dalton lächelte Addy an und sie lächelte zurück. Nach dem leuchtenden Vollmond in der Nacht war der Überflug der Gänse das zweite besondere Ereignis, das sie teilten. Sie erreichten die Quarantänestation in einer glücklicheren Stimmung als die, in der sie aufgebrochen waren. Der Anblick von Lebewesen, die trotz der Katastrophe, welche über die Welt – oder besser über die Menschen – gekommen war, den Himmel durchzogen wie eh und je, hatte ihnen gutgetan.

Dalton, der das Mädchen nach wie vor in seinen Armen trug, nickte der Wache zu, die ihn hereinließ.

»Sie ist im Labor.«

»Danke.«

Clarisse sah auf, als er den Raum betrat. Ihre Blicke trafen sich, noch bevor sie das Mädchen ansah. »Hi«, sagte sie und lächelte um Addys willen. »Ihr zwei seid heute aber zeitig unterwegs. Kommt rein. Addy, ich bin so froh, dass du hier bist«, fügte sie hinzu und zerstreute augenblicklich jeden Zweifel, den Dalton noch gehegt haben mochte. »Ich habe gehört, du wirst meine neue Laborassistentin.«

Er setzte das Mädchen ab. Die Decke fiel herunter und legte sich auf ihre nackten Füße. Sie trug noch ihr Flanell-Nachthemd, das bis auf den Boden reichte. Ihr braunes Haar stand wild und ungekämmt von Kopf ab. Addy umarmte Clarisse an der Taille.

Dalton beobachtete, wie Clarisse dieses kostbare Mädchen annahm. Clarisse umarmte sie ebenfalls und strich ihr über die verworrenen Locken. Sie sah kurz zu Dalton, und er verstand die stumme Botschaft, die sie ihm sandte. Sie wusste, dass Dalton sich wünschte, ja es sogar brauchte, dass sie das Mädchen nicht nur zu sich nahm, sondern es liebte. Aber das tat sie ohne Frage und ohne, dass es seines Wunsches bedurfte. Für Clarisse war Addy ein Geschenk, das niemals infrage stand.

Sie kniete sich zu Addy hinunter und lächelte strahlend. »Lass mich dich frischmachen, und dann frühstücken wir.«

»Müssen wir zum Essen zurück ins Lager?«, fragte Addy.

»Nein. Ich habe genug Snacks hier«, antwortete Clarisse.

Clarisse liebte sie schon jetzt.

Sie nahm Addys Rucksack. Dalton hatte gar nicht mehr wahrgenommen, dass er auch den Rucksack die ganze Zeit getragen hatte, seit sie von seinem Zelt losgegangen waren. Die Last auf seinem Gewissen war die entscheidendere gewesen. Und jetzt, wo er sah, wie herzlich Addy und Clarisse miteinander umgingen, wurde diese Last leichter.

»Danke, Dalton, dass du Addy zu mir gebracht hast«, sagte Clarisse.

Er wusste, dass sie es ernst meinte, und er war sicher, dass sie das Kind als Geschenk und nicht als Belastung empfand.

Dalton schluckte und bückte sich, um sich von Addy zu verabschieden. Er hielt ihre weichen Hände und sie lehnte sich an ihn. »Ich besuche dich heute beim Abendessen, Miss Addy.«

Sie küsste ihn sacht auf seine raue Wange, wie ein süßer kleiner Hauch. »Danke, dass du mich zu Clarisse gebracht hast, Dalton.« Er küsste sie auf die Stirn und stand auf. Addy legte ihre Hand in die von Clarisse und beide winkten ihm zum Abschied.

Als Dalton den Flur entlangging, zerriss es ihm das Herz, aber er wusste, dass Addy jetzt an dem Ort und bei dem Menschen war, wo sie in der gegenwärtigen Lage am ehesten hingehörte. Als er wieder im Lager war, ließ er Kim wissen, dass er es um des Mädchens willen getan hatte, nicht ihretwegen.

Schon seit einiger Zeit hatte Dalton sich Clarisse gegenüber immer wieder besorgt darüber gezeigt, dass sie die Nächte allein in der Quarantänestation verbrachte, statt mit allen anderen im Lager. Ihr neues Arrangement schlug jedoch zwei Fliegen mit einer Klappe: Clarisse und Addy würden jeden Abend zurückkommen, sodass sie sich in der sicheren Umgebung von Clarisses Schlafzelt und innerhalb der Grenzen des Lagers befanden. Das Mädchen durfte sich geliebt fühlen, und sowohl sie als auch Clarisse waren nachts in Sicherheit. Dalton schämte sich dennoch und hatte das Gefühl, das Kind betrogen zu haben. Aber er wusste, dass er Addy jeden Tag besuchen konnte.

***

Als Clarisse am Abend im Speisezelt an ihm vorbeiging, brachte die Begegnung Dalton zurück in die Gegenwart. Er lächelte sie an; ein Lächeln, das sie erwiderte. Er war froh, dass er zwei Menschen glücklich gemacht hatte. Nun, genau genommen drei, wenn er seine Frau mit einschloss, obwohl diese Tatsache nur ein Nebenprodukt war.

Clarisse brachte Addy das Tablett mit ihrem Abendessen. Während die meisten sich für den Barbecue-Hühnchenersatz auf Reis entschieden, hatte Clarisse für Addy puren Reis mit etwas Margarine und ein wenig Salz und Pfeffer mitgebracht, da sie wusste, dass das Mädchen die kräftig gewürzte Barbecue-Sauce nicht mochte. Dazu gab es einen Löffel Mischgemüse, das sie getrocknet eingelagert und mit Wasser und Gewürzen wieder aufgekocht hatten. Eine Scheibe hausgemachtes Brot und einige Spalten Mandarinen aus der Dose rundeten die Mahlzeit ab.

Um die Anspannung ein wenig abzubauen, bemühte sich Clarisse beim Abendessen, mit Kim ins Gespräch zu kommen. Sie wollte gern daran glauben, dass sich Kim von all ihren vielen Aufgaben im Lager überfordert gefühlt und in Addys bestem Interesse gehandelt hatte. Obwohl sie wusste, dass Dalton sie am liebsten bei sich behalten hätte und sie sozusagen nur zweite Wahl war, beschwerte sie sich nicht. Addy machte ihr Leben komplett. Zumindest beinahe.

Als sie mit ihrem Tablett zurückkam, machte Clarisse Kim ein Kompliment für ihre Kochkünste. »Ich weiß nicht, wie du das machst. Du schaffst es, jeden Abend etwas anderes zu kochen und jedem etwas Schmackhaftes zu bieten, worauf er sich freuen kann.« Obwohl es sie Mühe kostete und ihr Lächeln womöglich etwas gezwungen wirkte, hoffte sie, dass Kim ihr das Lob abnahm. In Wahrheit interessierte sich Clarisse nicht besonders für diese Frau. Sie hatte das Gefühl, dass Kim nicht einmal ihren Ehemann zu schätzen wusste und sich als Mutter des Lagers aufspielte, aber sie behielt ihre leichte Verachtung für sich.

»Nun, wir alle haben unsere Aufgaben. Ich bin einfach dankbar, dass ich bis auf ein paar Ausnahmen allen ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann«, sagte Kim in ihrem Singsang mit einem kleinen Seitenhieb auf Addy. Dann, als ob sie sich an eine Frage für Clarisse erinnerte – vielleicht wollte sie auch nur um Daltons willen mit ihr mehr als die üblichen Floskeln austauschen – sagte sie: »Clarisse? Tammy und ich haben heute im Gewächshaus gearbeitet, und da ist eine Frage zur Kreuzbestäubung aufgekommen. Tammy sagt, dass man Kürbisse nicht neben artverwandten Pflanzen anbauen soll, aber ich erinnere mich daran, dass ich sie schon einmal problemlos neben Zucchini gepflanzt habe. Weißt du, was genau sie meint?«

»Die Sache ist nicht ganz einfach«, antwortete Clarisse. »Kürbisse können sich mit verwandten Pflanzen kreuzen und dann kommen manchmal merkwürdige Ergebnisse dabei heraus. Das sieht man nicht gleich bei der nächsten Ernte, da bekommt man noch, was man gepflanzt hat. Aber die Samen in den Früchten, die sind betroffen. Wenn man sie im nächsten Jahr aussät, sieht man das Ergebnis der Kreuzung an den Früchten. Manchmal sehen sie ziemlich komisch aus, manchmal exotisch, aber oft sind sie ungenießbar. Wenn es also darum geht, das Saatgut für die nächsten Jahre zu bewahren, was natürlich unter unseren Umständen das oberste Ziel ist, müssen wir die Pflanzen getrennt halten, damit sie sich nicht gegenseitig bestäuben können.«