GRAHAMS HOFFNUNG (Survivor 2)

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Aus der Reihe: Survivor #2
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Kapitel 2

Alltag

Graham legte etwas Feuerholz nach, um die anhaltende Kälte zu vertreiben. Danach sah er ein weiteres Mal nach Ennis und fand ihn aufrecht sitzend und an sein Kopfkissen gelehnt. Er schnitzte an einem dünnen Holzstab, aus dem vielleicht einmal ein guter Pfeil werden mochte. Die Holzspäne fielen achtlos auf die Bettdecke. Ihm fiel auf, wie sehr Ennis am ganzen Körper bis zu den Händen zitterte. Graham hatte kein gutes Gefühl dabei, ihn mit einer scharfen Klinge am weichen Holz arbeiten zu sehen.

»Ist dir kalt?«, fragte Graham, doch Ennis ignorierte die Frage. Er starrte weiter nach vorn und schlug blind Späne aus dem Holz. Graham legte seine Hand auf Ennis' Schulter, was ihm endlich seine Aufmerksamkeit einbrachte. Zuerst wirkte sein Blick, als sähe er nur einen Fremden, aber nach einem zweiten Blinzeln blitzte ein Funken Erkennen in seinen Augen auf. »Ist dir kalt?«, wiederholte Graham und versuchte, ruhig zu bleiben, um ihn nicht mit der scharfen Klinge in der Hand aufzuschrecken.

Ennis hielt inne und ließ den Pfeil und das Messer auf seinen Schoß sinken, als ob er einen Moment brauchte, um festzustellen, ob er vor Kälte zitterte oder ob der beständige, brennende Schmerz das Zittern verursachte. »Nein«, sagte er langsam mit finsterem Gesicht.

»Möchtest du im Wohnzimmer am Feuer sitzen? Ich helfe dir.«

»Ich würde es schon allein schaffen, aber du kannst mir gern helfen.« Ennis' alte, knorrige Hände klappten vorsichtig das Messer zusammen, wie sie es schon unzählige Male in seinem langen Leben getan hatten. Graham stieß einen stillen, erleichterten Atemzug aus. Er wollte den Stolz des Alten nicht verletzen, indem er ihm sein Messer wegnahm. Er zog die mit Holzspänen übersäte Decke zur Seite und streckte die Arme aus, um Ennis aufzuhelfen.

»Ich muss mal«, sagte Ennis. Also half Graham ihm, langsam schlurfend den Weg zur Toilette zurückzulegen. Nur widerwillig ließ er ihn allein ins Bad und blieb im Flur stehen, nachdem Ennis ihm bedeutet hatte, die Tür zu schließen. Graham ließ ihm seinen Willen. Verdammt, ich will auch nicht, dass mir jemand aufs Klo hilft, wenn ich ein alter Mann bin. Trotzdem wartete Graham nahe der Tür. Dann kam ihm der Gedanke, einen Blick um die Ecke zu werfen, um nachzusehen, ob Ennis das Glas Wasser getrunken hatte, das ihm zuvor gebracht worden war. Das Glas stand voll bis zum Rand auf dem Nachttisch. Oh Mist. Da der alte Mann zitterte und offenbar keinen Schluck trank, begann Graham sich Sorgen zu machen, dass er nicht nur krank, sondern vermutlich auch dehydriert war. Er hat wahrscheinlich eine Blasenentzündung.

Als Graham an der sauberen und glänzenden Küche vorbeikam, bemerkte er, dass Tala bereits unterwegs war. Sicher ist sie im Gewächshaus und kümmert sich um die Setzlinge für den Frühling. Geht sie mir aus dem Weg? Sie liebte es, Zeit im Gewächshaus zu verbringen – das galt für sie alle. Die hoffnungsvollen kleinen Pflänzchen standen auf eine bestimmte Weise dafür, dass am Horizont dieser düsteren Welt endlich Licht zu sehen war. Sie waren ein Meilenstein in ihrem neuen Leben. Wenn nur der verdammte Schnee endlich schmolz, damit sie den neuen Garten einrichten konnten und einen Schritt weiterkamen. Je früher, desto besser. Sie brauchten diesen Erfolg, emotional ebenso wie in ihrem Kampf ums Überleben.

Das Gewächshaus, das sie auf einer ihrer vielen Plündertouren gefunden hatten, stand neuerrichtet zwischen der Blockhütte und dem Zugang zum See – eine willkommene Gabe des Zufalls und ein Vorbote guter Dinge, auf die sie so sehr hofften. Tala war schwer begeistert gewesen, als die Männer mit dem zerlegten Gewächshaus zurückgekommen waren. Seitdem teilte sie ihren Tag zwischen den Aufgaben in der Blockhütte wie dem Saubermachen und dem Essenkochen einerseits, und den Arbeiten mit Erde, Samen und Setzlingen andererseits. Sie hatte mehrere Tage damit verbracht, Stück für Stück das Innere des Häuschens zu säubern und soweit wie möglich keimfrei zu machen. Sobald die Männer eine ausreichend große Fläche vom Schnee befreit hatten, hatten alle mit angepackt und das Gewächshaus wie ein riesiges Puzzle wieder zusammengesetzt.

Jetzt benutzte Tala jeden Behälter, den sie auftreiben konnte, um Setzlinge zu ziehen. Graham seinerseits sammelte in den verlassenen Häusern alte Zeitungen ein, um runde Pflanzgefäße herzustellen, so wie es ihm seine Mutter jeden Frühling in Issaquah beigebracht hatte.

Sie stellten Tische ins Gewächshaus, bestückten sie mit Setzlingen und montierten erbeutete Pflanzenlampen darüber, um trotz des sonnenarmen Winters die Photosynthese und damit das Wachstum anzukurbeln. Tala drohte sehr überzeugend jedem, der nur daran dachte, die aufkeimenden zarten Sprossen zu berühren. Schimmelpilze und Bakterien waren die größte Bedrohung für die jungen Pflanzen und Tala wachte genauso mit Argusaugen über das junge Grün wie über ihre neu gefundene Familie.

Graham musste leise kichern, als ihm einfiel, wie Tala einmal Sheriff ausgeschimpft hatte, weil seine neugierige Nase den Setzlingen zum ersten und einzigen Mal zu nahe gekommen war. Sie hatte finster den Kopf geschüttelt und drohend den Finger auf den geliebten Hund gerichtet. Sheriff hatte, offenbar etwas perplex ob ihrer eigentümlichen Gestik und Mimik, seinen Kopf fragend zur Seite geneigt. Seine großen braunen Augen hatten Graham besorgt angesehen. Hat sie ihren Verstand verloren? Zumindest hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht, dass er sich von den Pflanzen fernzuhalten hatte, und jetzt kam Sheriff nicht einmal mehr in die Nähe der Tische.

Inzwischen nahm niemand mehr die Narben wahr, die Tala in den brutalen Händen ihrer beiden furchtbaren Entführer erlitten hatte. Graham war glücklich gewesen, als er endlich den Gipsverband von ihrem Bein aufschneiden und entfernen konnte, nachdem Clarisse erklärt hatte, der Knochen sei jetzt hinreichend verheilt. Sie machten daraus eine großartige Tradition, die sie Gips-Bruch-Tag nannten, und verwandelten den Akt der Heilung in eine Art Feier. Sie alle brauchten Anlässe zum Feiern, kleine und große. Tala war danach noch eine oder zwei Wochen lang behutsam umhergehumpelt und Graham hatte ihr geholfen, ihre Wadenmuskeln zu trainieren. Bald hatte sie wieder wunderbar allein laufen können. Ihre äußeren Narben waren gut verheilt.

Aber Graham knurrte vor Wut in sich hinein, wenn er an Talas innere Narben dachte. Tatsächlich war alles gerade noch gut ausgegangen, aber Tala weigerte sich standhaft, ihm oder irgendjemand anderem gegenüber zu erkennen zu geben, wie entsetzt und ohnmächtig sie sich gefühlt haben musste. Ohne Daltons und Ricks beherztes Eingreifen wäre Talas Schicksal besiegelt gewesen. Auch Sam trug schwer an der Last seines eigenen Schicksals, selbst wenn er nicht am Virus gestorben und stattdessen zum Träger geworden war. Dass er deswegen von seiner Tochter getrennt leben musste, war kaum zu ertragen.

Grahams Gedanken trugen ihn immer weiter fort. Tala und er waren einander nähergekommen, in gewisser Hinsicht näher, als er und seine Frau sich jemals gewesen waren. Das ergab sich schon allein aufgrund der Erlebnisse und Gefahren, die sie gemeinsam durchgestanden hatten. Dass Tala plötzlich auf Distanz zu ihm ging, verriet ihm, dass sie sich über etwas Sorgen machte; etwas, das über Ennis' sich immer weiter verschlechternden Zustand hinausging. Ihr Schweigen beunruhigte ihn, weil er sie gut genug kannte, um zu dem Schluss kommen zu müssen, dass sie ihm aus irgendeinem Grund etwas verschwieg – etwas Wichtiges.

Ennis drehte den Türknauf und gestikulierte, Graham solle die Tür für ihn aufschieben. Der alte Mann hatte versäumt, sein Hemd in die Hose zu stecken, wie er es normalerweise tat, aber schließlich hatte er in diesen Tagen auch niemanden, den er beeindrucken musste. Je länger der Winter andauerte, umso ungepflegter sahen sie alle aus. Ennis wirkte erschöpft von diesem kleinen Ausflug ins Bad. Er stützte sich auf Grahams Arm.

»Möchtest du am Feuer sitzen?«, fragte Graham erneut. Die knochigen Hände des alten Mannes zitterten weiter, und die eiskalte Luft, die durch die Risse im Holz ins Innere zog, brachte sie alle dazu, immer mindestens zwei Schichten Kleidung übereinander zu tragen.

»Ja, das ist eine prima Idee.« Es war gut, zumindest ein wenig Kraft in seiner heiseren Stimme zu hören. »Wo ist mein Mädchen?«

Froh über dieses erste Zeichen, dass Ennis klar bei sich war, fragte Graham: »Du meinst Macy?«

»Genau, Macy. Wo ist sie?«

»Unterwegs. Keine Sorge, sie ist bald wieder hier.« Graham führte ihn zum Schaukelstuhl, der am Ofen im Wohnzimmer stand. Er half Ennis, sich hinzusetzen, griff nach der Decke, die über der Lehne hing, und legte sie über seinen Schoß. Er schob noch ein Holzscheit nach und stocherte ein wenig in der Glut, dass die Funken im emaillierten, gusseisernen Inneren des Ofens stoben. Nachdem er die Ofentür geschlossen hatte, fragte er Ennis: »Hast du Schmerzen?«

»Nein, nein. Mir geht es gut.«

Graham bezweifelte das stark. In den letzten Wochen war Ennis immer schmaler geworden. Graham wünschte, er hätte ein Mittel, das dem alten Mann half, länger bei ihnen zu bleiben. Vor allem um Macys willen. Sie war Ennis besonders nahegekommen. Oft las sie ihm abends nach dem Essen aus den Büchern vor, die Graham bei seinen Plündertouren fand. Jeden Abend las Macy ein Kapitel vor, und danach war Ennis endlich bettschwer und ließ sich – stets von Graham – ins Bett helfen.

Am frühen Morgen war es immer Sam, der Ennis in seinen Stuhl am Feuer half und ihm seinen Kaffee brachte, bevor er sich an die Arbeit machte. Sie alle hatten Ennis sehr ins Herz geschlossen, und Graham befürchtete, dass sein unvermeidlicher Tod der Gruppe einen schweren Schlag versetzen würde.

 

Sie sahen beide auf, als Tala durch die Eingangstür trat und sie schnell hinter sich zumachte, um die Wärme in der Hütte zu halten. Ihre Sorgenfalten verschwanden plötzlich, als sie Ennis erblickte, und sie lächelte Graham dankbar zu. Für ihn hatten sich damit alle Gedanken an etwaige Geheimnisse, die sie von ihm fernhielt, erledigt.

»Guten Morgen, Ennis. Wie wäre es mit einem Kaffee?« Tala zog ihre dicke Winterjacke aus, ging zu Ennis und drückte den alten Mann.

»Schon gut. Ihr beiden müsst endlich aufhören, so einen Aufriss um mich zu machen«, sagte Ennis.

»Wir machen keinen Aufriss. Wir versuchen nur, uns anständig um dich zu kümmern. Du würdest das gleiche für uns tun«, sagte Graham.

»Nein, würde ich auf keinen Fall! Ihr macht viel zu viel Ärger, als dass man sich um euch auch noch kümmern sollte«, sagte Ennis neckisch. Er war selbst amüsiert über seine Antwort und lachte laut auf.

Tala lächelte Graham zu und flüsterte: »Wenigstens reißt er immer noch Witze.« Als der alte Mann sie für einen kurzen Moment nicht ansah, schüttelte Graham den Kopf.

»Dein Kaffee kommt in einer Minute«, sagte Tala und hob ihre Stimme ein wenig, damit er sie hören konnte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Um Ennis' Würde zu wahren, gab Graham ihr zu verstehen, sie eine Weile allein zu lassen. Er wollte von Mann zu Mann mit ihm reden.

»Ich könnte jetzt ein Stück Bananenkuchen vertragen«, rief Ennis ihr nach. »Bananenkuchen fehlt mir sehr.« Er hielt seine beiden knorrigen alten Hände vor sich, die zitterten, als er damit ein Rechteck formte.

»Leider werden wir für sehr lange Zeit keine Bananen mehr zu Gesicht bekommen«, sagte Graham. Er befühlte die Stirn des alten Mannes. »Ganz im Ernst, Ennis, du hast Fieber. Und ich denke auch, dass du Schmerzen hast und es nur nicht zeigen willst. Du trinkst auch nichts. Hast du eine Blasenentzündung?«

Der alte Mann schnaubte und sah nach unten. »Wehe, ihr verschwendet Medikamente an mich. Ich bin längst auf dem letzten Weg nach Hause, Graham. Die Kinder und Tala, sie werden die Medikamente später viel dringender brauchen. Es werden keine mehr hergestellt, das hast du sicher schon mitbekommen?«

Das Geständnis schockierte und verärgerte Graham. »Wie lange geht das schon, Ennis? Verdammt, wir können jederzeit mehr Medikamente besorgen. Ja, sie werden nicht mehr hergestellt, aber es gibt sicher noch einige Vorräte in der Nähe. Du kannst dich nicht so für uns opfern. Herrgott noch mal, Ennis.« Er streckte wieder die Hand nach dem Gesicht des alten Mannes aus, aber Ennis versuchte, sie beiseite zu schlagen. »Nein, Ennis, lass das, Mann. Gehst du überhaupt noch auf den Topf? Du weißt, was ich meine.« Er versuchte zu flüstern.

»Nein, kaum. Es schmerzt höllisch«, gab der Alte zu.

»Verdammt, dass muss doch nicht sein! Tala, bring ihm etwas Wasser und das Antibiotikum«, rief er laut und ignorierte Ennis' Proteste, als er aufstand und Tala das Gewünschte abnahm. »Lass ihm bitte Zeit und bleib ruhig, sonst schaltet er komplett auf stur. Wir haben keine Schmerzmittel, und die Antibiotika brauchen ein paar Tage, um zu wirken«, sagte sie leise.

»In dem alten Haus in Cascade, in dem vor dem Ende der Welt ein fast genauso alter Arzt gelebt hat, finden wir bestimmt auch Schmerzmittel«, sagte Graham und reichte dem starrsinnigen alten Mann die beiden Tabletten zusammen mit dem Wasser. »Nimm die und trink einen großen Schluck«, befahl er. Dann erinnerte er sich an Talas Worte. »Bitte.«

Ennis nahm die Medizin, sah zu Graham hoch und sagte stur: »Du bist nicht mein Boss.« Er schüttelte den Kopf, aber schluckte die Tabletten trotzdem. Während er trank, sagte Graham: »Ich bin jetzt dein Boss, und das ist auch gut so. Wir tauschen später, und dann bist du mein Boss.«

Graham drehte sich um, als Macy mit kalten, rosigen Wangen hereinkam. »Tala, ich bin bereit. Ich funke die Prepper an. Soll ich irgendwelche Neuigkeiten übermitteln?«

»Ja, sag ihnen, Sam, Mark und Marcy gehen am Morgen auf unsere letzte Hirschjagd in dieser Saison«, sagte Tala. Graham war dankbar, dass sie Ennis' Zustand nicht erwähnte. Am besten, sie behielten es vorerst für sich.

»In Ordnung«, sagte Macy und verdrehte die Augen. »Ich freue mich schon jetzt, dass sie für ein paar Tage nicht hier herumlungert.« Sie ging in den Schlafraum und setzte sich an den Tisch, auf dem das Funkgerät mit der Verbindung zum Lager der Prepper stand. Die tägliche Kommunikation wurde gerade zu einer ihrer Routineaufgaben. Jeden Morgen kontaktierten sich beide Gruppen, berichteten sich gegenseitig die Lage und tauschten Neuigkeiten aus.

Macy drückte auf den Knopf des Mikrofons. »Hi, Rick, Macy hier«, sagte sie.

»Nein, nein, nein, du machst das völlig falsch«, antwortete Rick.

»Warum muss ich mich unbedingt mit Twin Two melden? Du benutzt nie ein Rufzeichen«, beschwerte sich Macy mit Nachdruck.

»Rick ist mein Rufzeichen. Ich erfinde die Regeln nicht, ich sorge nur dafür, dass sie eingehalten werden«, zog er sie mit dem alten Klischee auf.

»Schön. Hier Twin Two«, sagte Macy mit so viel Sarkasmus in der Stimme, wie sie hineinlegen konnte.

»Viel besser«, sagte Rick. »Was hast du heute Morgen Neues für uns?«

»Alles ist gut. Sam, Mark und Marcy gehen für drei Tage auf die Hirschjagd. Morgen früh fahren sie los«, sagte sie.

»Okay. Klingt nach einem Plan. Wir halten uns ab 0800 vom Nordausgang fern. Hier ist alles ruhig, bis auf das Banjo-Turnier, das wir veranstalten. Außerdem haben wir entdeckt, dass es den Bigfoot wirklich gibt, und wir machen eine Pizza-Party. Entschuldigung, aber ihr seid nicht eingeladen«, sagte er frotzelnd.

Macy biss nicht an. Stattdessen schaffte sie es, ihre Stimme komplett ausdruckslos zu halten. »Ich werde die guten Nachrichten weiterleiten. Macht euch einen spektakulären Tag, Rick. Twin Two out«, sagte sie und wartete Ricks Bye-bye kaum ab, bevor sie auflegte.

Macy fand den Umgang mit Rick oft anstrengend. Warum sie immer noch an einem toten Verfahren festhalten sollten, verstand sie nicht. Sie mochte diesen Begriff, totes Verfahren, und sie benutzte ihn gern, wenn es um die Themen Schule, Politik und Zahnspangen ging. Bei gerade einmal zwei Prozent der Bevölkerung, die noch am Leben waren, lag die Wahrscheinlichkeit bei nahezu null, dass sich jemand in ihren Funkverkehr hineinschaltete. Nichtsdestotrotz gefiel es ihr, eine Aufgabe im Camp zu haben, die wichtig war, und sie hatte sich freiwillig dafür gemeldet. Nachdem das Funkgespräch beendet war, schrieb sie in ihr Logbuch die Zeit und die ausgetauschten Informationen. Das Wortgeplänkel ließ sie weg. Dann ging sie zurück in die Küche, um nach Tala zu sehen.

»Ich übernehme jetzt meine Wachschicht«, sagte Macy, als sie die Küche durchquerte. Sie sah, dass Tala sich mit geschlossenen Augen über die Spüle lehnte und tief atmete. »Geht es dir gut?«, fragte Macy alarmiert.

Tala legte ihr schnell eine Hand auf den Rücken, um Macy aus der Küche zu schieben. »Es geht mir gut. Ich glaube, ich habe nicht genug geschlafen, das ist alles.«

»Ja, ich habe dich heute schon sehr früh gehört. Hast du vielleicht was gegessen, das seine besten Zeiten schon hinter sich hatte?«

»Nein, ich glaube nicht. Mir geht es gut, kümmere dich ruhig um deinen Wachdienst.«

»Okay«, murmelte Macy, machte sich aber immer noch Sorgen. So schwach auf den Beinen hatte sie Tala noch nicht erlebt. Die Krankheit eines jeden von ihnen betraf sie alle. Nach der Pandemie fürchteten sie jede Erkrankung, ob es nun rational war oder nicht. Für den Moment beließ es Macy dabei und ging ihres Weges, aber sie schwor sich, Tala im Auge zu behalten.

Auf dem Weg nach draußen machte Macy Station bei Ennis. Er blickte zu ihr auf, und als sie ihn anlächelte, streckte er die Hand aus und tätschelte ihren Arm, als wollte er sich vergewissern, dass sie tatsächlich existierte. Nach der Anstrengung blieb ihm keine Kraft mehr für Worte. Geistesabwesend wandte er sich wieder der Glut des Ofens zu. Macy zog seine Decke zurecht und nahm ihren Mantel, den Sam mit Wolfsfell gefüttert hatte, damit er sie in diesem langen, kalten Winter warm hielt. Sie steckte ihre Pistole in das Holster und hängte sich ihren Bogen und den Köcher um.

Sie küsste ihn auf die Wange. »Mach's gut, alter Herr.«

Ennis blickte noch einmal nach oben in ihre blauen Augen. »Jawohl. Sei vorsichtig, junges Mädchen. Halte deine Ohren offen, deinen Blick ruhig und vertraue deinen Instinkten. Vertraue immer deinen Instinkten da draußen. Sie werden dein Leben retten.«

»Das mache ich, Ennis.« Sie strich ihm über die Wange und er hielt ihre Hand einen Augenblick zu lange. Sie lächelte ihn an und zog sich zurück.

***

Macy musste blinzeln, damit sich ihre Augen an das grelle Morgenlicht gewöhnten, das vom Schnee reflektiert wurde. Der schnelle Rhythmus von Bangs kleiner Schaufel, mit der er sich einen Weg zum Hühnerstall bahnte, begrüßte sie, als sie auf der Veranda ihre Handschuhe anzog. Graham werkelte unter der Haube ihres treuen 1975er International Harvester Scout (»Am Ende der Woche bis ans Ende der Welt«) im zeitgenössischen Beige und füllte verschiedene Flüssigkeiten nach. Im Gegensatz zu ihrem zweiten Auto, einem Pick-up mit offener Ladefläche, bot der Scout eine geschlossene Bauweise – gerade im Winter ein unschätzbarer Vorteil. »Wir sind dran, Bang«, rief sie. »Wachdienst!«

»Hast du mit drüben telefoniert?«, fragte Graham.

»Ja, Graham. Es ist alles gut.«

»Hat er wieder mit den Kameras angefangen?«

»Nein, ich glaube, das hat er aufgegeben.«

»Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, hat er das Thema nochmal aufgebracht und sich über diese Ungerechtigkeit beklagt. Ich habe ihm gesagt, wenn noch jemand auf der Welt übrig ist, der wahre Ungerechtigkeit erfahren hat, dann ist es Sam. Rick fehlen nicht oft die Worte«, kicherte Graham und ließ die Motorhaube mit einem Scheppern herunterfallen.

»Wie schade. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie uns so lange ausspioniert haben.«

»Nun ja, es hat sich am Ende als eine gute Sache herausgestellt, wenn man bedenkt, was passiert ist.«

»Er besteht immer noch darauf, dass ich mich mit Twin Two melde«, sagte Macy trocken.

Graham lachte laut auf, während Bang zu Macy rannte, bereit, seine Pflicht zu erfüllen.

»Legen sie schon Eier?«, fragte sie.

»Nein, noch nicht. Ich denke, es ist ihnen immer noch zu kalt.«

Macy gab ihm einen der Handwärmer, die Tala genäht und mit Reis gefüllt hatte und die sie gleich zusammen mit dem Frühstück im Ofen erwärmte. Sie legte sie morgens bei der Tür bereit, damit die Hände derjenigen, die einen langen Wachdienst vor sich hatten, zumindest eine Zeit lang warm blieben. Macy steckte einen weiteren Handwärmer in Bangs Tasche und half ihm, seine Jacke zuzumachen.

»Heute bin ich am See dran«, sagte sie lächelnd.

»Ich weiß. Bis nachher«, sagte Bang und hüpfte mit Sheriff im Schlepptau die Einfahrt hinauf. Die Seeseite bot dank der Wildtiere mehr Abwechslung als der Wachdienst an der Einfahrt, die zur Straße hinaufführte.

Macy winkte Graham zu, der zurückwinkte, während sie den Schotterweg zum See hinunterging. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Sie kniff die Augen vor der überwältigenden Helligkeit des grellweißen Sonnenlichts zusammen, das von dem weißen Schnee auf der Lichtung reflektiert wurde. Auf dem Weg zum See und im Schatten der Bäume wurde es deutlich kälter. Rick hatte jetzt eine der Überwachungskameras auf sie gerichtet, obwohl sie vergessen hatte, wo genau sie montiert war. Auf Verdacht winkte sie zum Gruß in Richtung der ungefähren Position. Alles im Namen der Sicherheit, aber Macy fand es noch immer unheimlich, überall beobachtende Augen auf sich zu wissen. Es war gelinde gesagt furchtbar, andauernd und ständig ausspioniert zu werden.

Als sie hörte, wie sich ihre Zwillingsschwester Marcy auf dem Hochsitz bewegte, stellte sie sich auf den wahrscheinlich gleich losbrechenden Streit ein, der in diesen Tagen zum schlechten Standard geworden war.

»Du bist wieder zu spät«, beschuldigte Marcy sie beim Herunterklettern.

»Bin ich nicht. Komm von deinem hohen Ross runter, Marcy. Ich bin gerade erst angekommen.«

»Denkt dran, Mädchen – kein Streit!« Grahams Stimme kam warnend über Funk.

Marcy schob ihrer Schwester das Funkgerät brüsk in die Hand. »Du hast angefangen.«

 

»Hör auf damit, Marcy. Ich will nicht schon wieder die Mülltonne saubermachen, du etwa?«, flüsterte Macy streng, während sie das Gerät gegen ihren Mantel drückte, damit Graham sie nicht hörte.

Ohne ein weiteres Wort stapfte Marcy den Pfad zur Hütte hinauf, und Macy fragte sich, warum ihre Schwester bei jeder Gelegenheit Streit suchen musste. Sie schnaubte und setzte ihren Stiefel auf die erste Stufe der Leiter, um nach oben zu klettern. Mit dem Fernglas, das immer auf dem Hochsitz blieb, suchte sie die Umgebung ab. Abgesehen von einem kleinen grauen Hirsch, der am westlichen Ufer des zugefrorenen Sees nach einer Stelle zum Trinken suchte, herrschte Einsamkeit. Sie gab Graham, der schon darauf gewartet hatte, ihre Meldung durch. Danach lehnte sie sich zurück und dachte über die problematische Beziehung zu ihrer Zwillingsschwester nach.

Sie war heilfroh, dass Marcy für ein paar Tage weg sein würde. Macy konnte nicht verstehen, warum ihre Schwester jede Gelegenheit nutzte, um zu sticheln. Im nächsten Monat würden sie beide sechzehn, und Tala hatte angekündigt, einen richtigen Kuchen für sie backen zu wollen – vorausgesetzt, eines der Hühner legte ein Ei. Macy spottete über sich selbst. Letztes Jahr um diese Zeit hatte sie sich von ihren Eltern egoistisch noch ein iPad gewünscht, und nun hoffte sie ganz bescheiden darauf, dass ein Huhn ein Ei legte, damit sie ihren Geburtstag mit einem schlichten Kuchen feiern konnten. Trotz des Weltuntergangs ging das Leben weiter. So viel hatte sich in nur wenigen Monaten verändert.

Eine Träne kullerte über ihre Wange. Sie vermisste Mom und Dad mehr als alles andere. In diesem Moment hätte sie beinahe Marcy für einen von ihnen getauscht. Beinahe.

Das Schnattern der heranfliegenden Gänse war zu hören, bevor Macy sie sehen konnte. Sie kreisten noch ein paar Mal in der Luft und landeten dann auf dem zugefrorenen See. »Ihr Lärmvögel«, sagte sie zu sich selbst. Irgendwie erinnerten sie die Gänse an den SeaTac-Flughafen bei Seattle, wo die Flugzeuge ebenfalls am Himmel ihre Kreise gezogen hatten, bevor sie in den Landeanflug übergegangen waren. Das schien jetzt endlos weit weg zu sein.

Ihre Melancholie wurde durch eine graue, vierbeinige Gestalt durchbrochen, die vom gegenüberliegenden Ufer auf den See stürzte, einem der Wasservögel hinterherjagte und auf dem Eis ausglitt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, bis sie das Hämmern selbst in ihren schmalen Handgelenken spürte. Sie nahm einen tiefen Atemzug in der eisigen Luft, drückte den Mikrofonknopf am Funkgerät und wiederholte dreimal konzentriert, wie Rick es mit ihr trainiert hatte: »Wolf auf dem See, Wolf auf dem See, Wolf auf dem See.«

Fast sofort stürmten Graham, Sam und Mark den Pfad hinunter. Stets bewaffnet und bereit waren die Männer in jeder Notlage eine formidable Kraft, mit der zu rechnen war. Die Sichtung eines Wolfs oder eines Bären bedeutete immer, dass es ernst wurde; beides bot die Chance auf Fleisch und Pelz.

Macy hielt ihren Blick weiter auf den See gerichtet, wo sie zwei weitere der dunkelgrauen Tiere auf das Eis stürmen sah. Aber sie hielt sich zurück und versuchte nicht einmal, mit ihrer Pistole oder dem Bogen auf die Tiere zu zielen. Die drei Männer eilten an ihr vorbei und begaben sich in Position. Die drei Wölfe waren in Sichtweite, und wenn dies keine ernsthafte Angelegenheit gewesen wäre, hätte Macy sich über die Szene totlachen können. Wieder und wieder rutschten die Wölfe auf dem Eis aus, während die Gänse mühelos davonflatterten.

Graham zielte und traf einen Wolf, der sofort zu Boden ging. Die beiden anderen legten auf die zwei Wölfe an, die zurück in den Wald flohen. Die übrigen Gänse flogen laut schnatternd eilig davon, als das Gewehrfeuer durch die Winterlandschaft dröhnte.

Mark traf einen zweiten Wolf und auch Sam feuerte sein Gewehr ab. Alle hielten den Atem an und verfolgten den knappen Fehlschuss, während der letzte Wolf zwischen den Bäumen verschwand. Nichtsdestotrotz konnten sie sich glücklich schätzen, zwei der Tiere erlegt zu haben.

»Gute Arbeit, Macy«, sagte Graham, während die anderen beiden Männer auf den See liefen, um die Beute zu holen. »Gut, dass ich den Scout schon heute Morgen für die Jagd vorbereitet habe. Sieht so aus, als würde ich den Rest des Tages im Gewächshaus verbringen und den beiden Kameraden das Fell über die Ohren ziehen.«

Graham hatte von seinem Vater gelernt, wie man Tiere häutete, aber Sam hatte ihm noch einige gute Kniffe zeigen können, um möglichst viel von den Fellen zu bewahren und nichts zu verschwenden. Sie nutzten alles und machten daraus warme Mäntel, Decken und Fäustlinge. Macy wusste, dass Graham den ermüdenden Prozess des Häutens genauso wenig mochte, wie er und alle anderen den Keil mochten, den die Tötungen zwischen Tala und Sam getrieben hatten.

Graham musste daran denken, dass selbst jetzt der große Konflikt anhielt, der sich an der Verwendung der getöteten Wölfe entzündet hatte. Zum Glück hatten sie sich alle nach ihrem ersten Streit auf einen Kompromiss einigen können. Sam gab sich immer größte Mühe, nicht ein Jota zu verschwenden bei allen Tieren, die sie erlegten. Talas Aufgabe war es, das Fleisch der Tiere zu trocknen und zu konservieren. Als es jedoch um den ersten erlegten Wolf ging, zog sie eine rote Linie. Talas indianisches Erbe hielt sie davon ab, Wolfsfleisch zu essen. Sie weigerte sich sogar, das Fleisch oder die Felle auch nur anzufassen, da ihre Tradition den Verzehr von Wolfsfleisch als Tabu betrachtete.

Ihre Großeltern hatten ihr diese Tradition weitergegeben. Obwohl sie nicht erklären konnte, warum, sagte sie, der Brauch habe etwas mit der Seele des Tieres zu tun. Sam pflichtete ihr bei, anstatt sich über sie lustig zu machen, wie sie es erwartet hatte. Jeder von ihnen hatte etwas, das ihm besonders wichtig war, und der Umgang mit Wölfen war eben Tala heilig. Schließlich bedeutete Tala nichts anderes als »Wolf«.

Die Aussicht, im schlimmsten Fall zu verhungern, hatte ihre Sicht auf die Dinge jedoch verändert. Also waren sie einen Kompromiss eingegangen: Sie alle würden darauf verzichten, Wolfsfleisch zu essen, es sei denn, eine Hungersnot kam ins Spiel. Wenn Nahrung knapp wurde, durfte es keine Rolle spielen, womit sie ihr Überleben sicherten. Graham kündigte an, im Notfall selbst die geräucherte Wolfswurst herzustellen, wenn Tala nichts mit den erjagten Wölfen zu tun haben wollte. Fürs Erste blieb die Lage so: Sie verzehrten alles, außer Wolfsfleisch.

Die sonst immer gelassene und vernünftige Tala hatte sie überrascht, als sie felsenfest bei ihrer Abneigung gegen das Fleisch geblieben war. Aber sie alle hatten ihr zugehört, und sie alle gewährten ihr diese Besonderheit. Tala stellte sonst wenige Forderungen.

Später gab Sam zu, dass er den Geschmack von Wild nie gemocht hatte. Wolfsfleisch schmeckte überraschenderweise sehr nach Hühnchen, und außerdem fühlte es sich an, als würde man seinen eigenen Hund essen. Da sie alle Sheriff liebten, war das ein Grund mehr, kein Wolfsfleisch zu essen.

Graham blickte auf das Eis, wo Mark und Sam die grauen Wölfe ans Ufer zogen. Mark ließ sein Tier fallen und sprintete den Pfad hinauf, um sich einen Schlitten zu holen. Schnaubend und schnaufend stieß er seinen Atem in kleinen Wölkchen aus.

Im selben Moment kam knisternd Talas Stimme über das Funkgerät, das an Grahams Gürtel befestigt war. Sie berichtete kurz, dass sie die Ursache des Aufruhrs im Lager der Prepper gemeldet hatte, damit sie sich keine Sorgen machten, was es mit dem Tumult aus ihrer Richtung auf sich hatte. »Danke, Schatz«, sagte er.

Sheriff kam herbeigelaufen, um Marks Jagderfolg zu inspizieren. Er beschnüffelte den großen Grauen und trabte weiter, um auch den nächsten, der nur vier Fuß entfernt lag, unter die Nase zu nehmen.