Thriller Spannung 2021: 13 Urlaubs-Krimis auf 1527 Seiten

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6


Als Roberto Tardelli im Hafengebiet eintraf, war die Polizei bereits da, und Froschmänner tauchten im Hafenbecken nach der Leiche. Roberto stieg von seiner Kawasaki. Er, der Hafenarbeiter, hatte sich dieses heiße Eisen zugelegt, und alle seine neuen Kollegen wussten, dass dieser Maschine seine ganze Liebe galt.

Er bockte die Maschine auf und nahm den Sturzhelm vom Kopf. Nachdem er das riesige Ding an die Maschine gehängt hatte, setzte er seine Wollmütze auf und begab sich mit natürlichem Interesse zu den Einsatzfahrzeugen der Polizei.

Zahlreiche Schaulustige - fast durchwegs Hafenarbeiter - hatten sich eingefunden. Eine spürbare Spannung lastete über der Szene. Roberto erreichte die Menschengruppe.

Er entdeckte Joe Atkins. Seit Tagen arbeitete er mit ihm zusammen. Sie hatten sich angefreundet. Atkins trug eine schwarz glänzende Lederweste und verwaschene Jeans.

Roberto Tardelli legte ihm die Hand auf die Schulter. Der muskulöse Hafenarbeiter wandte sich um. „Ah, Roberto.“

„Was wird hier gesucht?“

„Die Bullen erhielten einen anonymen Anruf. Im Lagerhaus soll ein Mann gekillt worden sein. Die Leiche haben die drei Gangster dann im Wasser versenkt.“

Roberto nickte. Einer der Froschmänner tauchte auf und gab mit Handzeichen zu verstehen, dass sie den Toten gefunden hatten. Er ging gleich wieder nach unten, und wenig später wurde die Leiche an Land gebracht. Ein schweres Eisenstück baumelte an seinen Beinen.

Die Leute drängten näher heran. Die Cops hatten Mühe, sie zurückzuhalten.

„Kennst du den Toten?“, fragte Roberto.

„Ich glaube ja“, antwortete Joe Atkins.

„Wer ist es?“

„Brad Rafferty. Ein unsauberer Typ. Schacherte mit allem und jedem. Was nicht niet- und nagelfest war, hat er geklaut. Ich glaube, sein Name hat auf Brian Cusacks Lohnliste gestanden.“

„Was hat er für Cusack getan?“, erkundigte sich Roberto.

Atkins zuckte mit den Schultern.

„Ich nehme an, er hat für ihn gestohlen. Wahrscheinlich hat er für ihn auch die Ohren offengehalten, um zu erfahren, wo sich etwas Lohnendes unter den Nagel reißen ließ. Solche Leute hat Cusack viele in diesem Hafen.“

„Wer mag Rafferty umgebracht haben?“

Wieder zuckte Atkins mit den Schultern.

„Das wird wohl nie rauskommen. Aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass dieser Mann in Cusacks Auftrag ermordet wurde.“

„Und aus welchem Grund?“

„Vielleicht hat Rafferty den König von Brooklyn angeschmiert. Das wäre ihm zuzutrauen gewesen.“

Ein Leichenwagen traf ein. Brad Rafferty wurde in einen Zinksarg gelegt. Als man den Deckel auf die Metallwanne schraubte, entdeckte Roberto Tardelli unter den Neugierigen Keith Powers, den alten Penner, der mit Vorliebe seine Nächte in dieser Gegend verbrachte.

Vor vier Tagen - Roberto war zu früh dran gewesen - hatte er den Penner verschlafen aus dem Wrack eines Rettungsbootes klettern sehen. Sie hatten sich eine Weile über die Nichtswürdigkeit des Lebens unterhalten, und als Robertos Kollegen eingetrudelt waren, hatte sich Keith Powers aus dem Staub gemacht, denn er verabscheute die Arbeit und vielleicht auch jene, die sie verrichteten.

Roberto drängelte sich zu ihm vor.

„Na, Keith. Wie war die Nacht?“

„Kalt“, sagte der Penner. Er war nicht so dick, wie er aussah. Sein Leibesumfang sah deshalb so aufgebläht aus, weil er sämtliche Kleidungsstücke, die er besaß, anhatte. Sein Haar war grau, und graue Bartstoppeln bedeckten seine Wangen. „Haben Sie eine Zigarette für mich?“

„Leider nein.“

„Ach ja, ich vergaß, dass Sie Nichtraucher sind, Chef. Mann, wovon wollen Sie denn mal kaputt werden?“

„Jemand hat die Polizei anonym verständigt. Warst du das?“, fragte Roberto Tardelli.

„Ich doch nicht. Warum sollte ich so etwas tun?“

„Nun, vielleicht hat sich ausnahmsweise mal dein Gewissen geregt.“

„Bei mir regt sich schon lange nichts mehr, Chef. Die Zeiten sind vorbei. Heute will ich nur noch meine Ruhe haben.“

„Danach strebt jeder.“

„Aber die wenigsten erreichend.“ Roberto wies auf den Zinksarg, der soeben in den Leichenwagen gehoben wurde. „Hast du den Toten gekannt?“

„Nur vom Sehen. Mann, fangen Sie jetzt bloß nicht an, mich wie’n Bulle auszuquetschen, Chef. Das kann ich nämlich nicht vertragen. Ich bin allergisch gegen Bullen.“

„Dann solltest du dich desensibilisieren lassen.“

„Quatsch! Ich gehe ihnen einfach aus dem Weg, das reicht auch.“

„Wo hast du die heutige Nacht verbracht?“, erkundigte sich Roberto Tardelli.

„Dort drüben auf dem Kahn.“

„Dann müsstest du den Mord eigentlich mitgekriegt haben.“

„Hab' ich aber nicht.“

Roberto hatte den Eindruck, dass ihm der Penner irgendetwas verschwieg. Er holte eine Banknote aus der Tasche. „Bist du an zehn Dollar interessiert?“

Keith Powers leckte sich gierig die Lippen und seine Augen glänzten.

„Meine Güte, wieso sind Sie denn so scharf auf 'ne Information, Chef?“

„Die Sache interessiert mich.“

Der Penner zog Roberto beiseite. Er griff nach dem Geldschein, doch Roberto zog ihn schnell zurück.

„Nicht so hastig“, sagte er. „Erst möchte ich hören, was du gesehen hast.“

„Ich bin auf keinen Ärger erpicht, Chef.“

„Du wirst keinen kriegen.“

„Man lebt in dieser Gegend gefährlich, wenn man zu viel hört und sieht, deshalb halte ich lieber die Schnauze.“ Der Penner lächelte nervös. „Aber in Ihrem Fall will ich eine Ausnahme machen, Chef. Weil Sie mir so sympathisch sind, weil Sie in mir keinen Abfall der menschlichen Gesellschaft sehen und weil ich weiß, dass Sie den Mund halten können.“

„Das kann ich.“

„Also gesehen habe ich nicht, wie man den Mann gekillt hat. Ich war in der vergangenen Nacht ziemlich besoffen“, erzählte Keith Powers. „Ein alter Kumpel, der über Nacht zu Geld gekommen ist, - fragen Sie mich nicht wie, ich habe ihn auch nicht danach gefragt -, hat mit mir zusammen eine schöne Pulle geleert. Auf so viel Schnaps schlafe ich dann immer wie ein Toter. Deshalb habe ich niemand kommen und niemand gehen gehört.“

Roberto schmunzelte.

„Bis jetzt ist deine Geschichte noch nicht einmal einen Cent wert, Keith.“

„Abwarten. Ich verdiene mir den Zehner schon noch. Gucken Sie mal dort rüber! Sehen Sie das dunkelhaarige Mädchen und den Mann neben ihr?“ Roberto sah in die angegebene Richtung. Etwas abseits von den Schaulustigen standen die beiden. Sie schienen sich in ihrer Haut nicht wohlzufühlen und würden wohl auch nicht mehr lange bleiben. Fast hätte man den Eindruck haben können, die beiden hätten kein reines Gewissen.

„Was ist mit denen?“, fragte Roberto.

„Die haben den Mord mit angesehen. Das heißt - nur er. Sie nicht.“

„Bist du sicher?“

„Absolut. Die beiden haben die Polizei anonym angerufen.“

„Woher weißt du das?“

„Ich habe sie heimlich belauscht. Sie wollten zwar sehen, was hier passierte, aber sie drängten sich nicht in den Vordergrund. Sie merkten nicht, dass ich in ihrer Nähe war und so hörte ich, was sie leise miteinander redeten.“

Roberto fragte sich, was die beiden zu verbergen hatten. Sie waren armselig gekleidet, schienen aber ehrliche Leute zu sein. Sie hatten sicherlich einen triftigen Grund gehabt, die Polizei anonym zu benachrichtigen. Diesen Grund und noch einiges mehr hoffte Roberto Tardelli von ihnen zu erfahren. Er gab Keith Powers die zehn Dollar und steuerte auf das Mädchen und den Mann zu.




7


Die Massenmedien hatten ausführliche Berichte über den Tod der fünf Menschen gebracht, deren Jet mit einer Rakete abgeschossen worden war. Einige Zeitungen ließen es sich nicht nehmen, alte Storys neu zu garnieren und ihren Lesern noch einmal zu servieren. Das Thema Mafia hielt das Interesse der Leute immer wach. Wenn vom Syndikat die Rede war, gingen die Zeitungen weg wie die warmen Semmeln. Fotos von Kirk Douglas, Frank Sinatra und Gregory Peck erschienen. Die Schauspieler hatten mit ernster Miene die Hand zum Schwur erhoben, um zu beteuern, dass Frankie Boy kein Mitglied der Ehrenwerten Gesellschaft war. Dies und vieles andere wurde wiedergekäut, weil man den Lesern recht viel Mysteriöses und Suspektes bieten wollte.

 

Der Tod der fünf Mafiosi wurde nach allen Regeln der journalistischen Kunst ausgeschlachtet. Und alle Berichterstatter vergaßen nicht, darauf hinzuweisen, dass der Jet von einem unbekannten Mann abgeschossen worden war, der damit angeblich seinen privaten Rachefeldzug gegen die Cosa Nostra gestartet hatte.

Je nach politischer oder gesellschaftlicher Färbung wurde dem Leser eine melodramatische Story jenes Mannes geboten, der rot sah, nachdem er Frau und Tochter verloren hatte. Ein Mann, der überhaupt nicht existierte, rückte mit einem Mal in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Manche Leute sagten: „Bravo! So ist es richtig. Man muss der Mafia die Zähne zeigen!“ Andere drückten diesem Mann heimlich die Daumen und hofften, dass er unter den Mitgliedern der Ehrenwerten Gesellschaft weiter aufräumte.

Doch Pietro Gravina, ein angesehenes Mitglied des Syndikats, wollte die Geschichte des Unbekannten nicht so recht glauben. Er war es gewesen, der sich an die Commissione gewandt hatte, weil ihm aufgefallen war, dass Brian Cusack in letzter Zeit nicht mehr so viel wie früher ablieferte, obwohl die Geschäfte des Königs von Brooklyn nach wie vor gut florierten. Auf seine Veranlassung hin hatte die Commissione Sandrelli und seine Männer nach New York geschickt. Als Pietro Gravina hörte, dass Sandrellis Düsenflugzeug von einer Rakete zerfetzt worden war, hatte er sofort Brian Cusack mit diesem Anschlag in Zusammenhang gebracht.

Es gab keinen geheimnisvollen Unbekannten.

Der Mörder von Alfredo Sandrelli und seinen Freunden war Cusack, davon war Gravina überzeugt. Die Story mit dem unheimlichen Rächer war geschickt lanciert worden. Das wollte Gravina beweisen.

Er saß zu Hause an seinem Schreibtisch und telefonierte. Draußen graute der Morgen, und Gravina würde bald zu Bett gehen, denn er war ein Nachtmensch, der am Tag schlief. Er sprach mit seinen Mafia-Freunden über seinen Verdacht, und man bat ihn, die Beweise dafür zu beschaffen. „Das werde ich tun“, sagte er zu seinem letzten Gesprächspartner und legte den Hörer in die Gabel.

Die Tür öffnete sich, und Angela, seine dicke Frau, trat ein.

„Kannst du denn nicht wie ein normaler Mensch schlafen, Pietro?“, fragte sie gähnend. „Wir beide sind wie Sonne und Mond. Stehe ich auf, legst du dich nieder. Eine komische Ehe ist das. Manchmal frage ich mich, ob du mich überhaupt noch liebst.“

„Wie kannst du nur so etwas sagen, Angela?“, fragte Pietro Gravina und erhob sich. „Erfülle ich dir nicht jeden Wunsch? Wer hat dir den goldenen Ring in der vergangenen Woche gekauft? Der Mann, der dich nicht mehr ausstehen kann, eh?“

„Gewiss, du bist großzügig. Aber ich habe nicht sehr viel von dir. Wenn du nicht schläfst, arbeitest du, und wenn du nicht arbeitest, schläfst du. Für mich hast du kaum Zeit. Warum hat mich der Herr mit Unfruchtbarkeit bestraft? Wenn ich wenigstens Kinder hätte, würde ich alles leichter ertragen. Die einsamen Tage. Die einsamen Nächte.“

Er ging zu ihr und nahm sie in seine Arme.

„Wir könnten ein Kind adoptieren. Eins oder zwei ...“

„Man kriegt solche kleinen Würmer nicht so leicht. Manche Ehepaare warten mehrere Jahre. Bis dahin bin ich zu alt, um kleine Kinder großzuziehen. Ich bin neununddreißig.“

„Ich habe Beziehungen. Ich könnte die Sache beschleunigen“, sagte Gravina.

„Ist das dein Ernst? Oder sagst du das nur, damit ich dich in Ruhe lasse?“

„Wenn dir so viel daran liegt, Kinder um dich zu haben, sollst du welche bekommen“, versprach Pietro Gravina seiner Frau.

Sie küsste ihn.

„Verzeih mir! Ich habe dir unrecht getan. Du bist ein guter Mensch. Ich freue mich auf die Bambini. Ich werde endlich eine Aufgabe haben. Wir werden eine Familie sein. Eine richtige Familie, Papa.“

„Ich werde noch heute anrufen“, versprach Gravina, und seine Frau war davon überzeugt, dass er sein Wort halten würde. „Geh' jetzt“, sagte er. „Ich habe noch zu tun.“

„Soll ich dir einen Espresso bringen?“

„Ja. Der würde mir guttun.“ Angela Gravina verließ das Arbeitszimmer ihres Mannes. Er hörte sie in der Küche hantieren, wandte sich um und griff nach dem Telefonhörer. Er wählte eine siebenstellige Nummer. Eine verschlafene Stimme meldete sich.

„Guten Morgen, Tony“, sagte Gravina.

„Pietro?“, kam es verwundert und ärgerlich aus dem Hörer.

„Ganz recht.“

„Sag mal, du tickst wohl nicht richtig. Weißt du, wie spät es ist?“

„Zeit für dich, aufzustehen“, erwiderte Gravina.

„Ich denke nicht daran.“

„Ich brauche dich. Also wirst du deinen fetten Hintern aus dem Bett schwingen und auf dem schnellsten Wege hierherkommen, sonst lernst du mich kennen!“, sagte Pietro Gravina barsch.

Der Mann, mit dem er sprach, gab sich gleich weit weniger streitsüchtig.

„Was ist denn passiert?“

„Erzähle ich dir alles, sobald du hier bist. In zwanzig Minuten klingelst du an meiner Tür, wenn du keinen Ärger haben willst.“

„Na schön. Ich komme.“

„Du bist ein wahrer Freund. Das schätze ich so sehr an dir“, sagte Gravina spöttisch und legte auf.

Seine Frau brachte den Espresso. Sie blickte ihn liebevoll an, dachte wohl schon an die liebe Familie, die sie mit ihrem Mann bilden würde. Dass Pietro Gravina ein hohes Tier bei der Ehrenwerten Gesellschaft war, wusste sie nicht. Sie ahnte nur, dass er mit dem Syndikat zu tun hatte, und das gefiel ihr nicht. Aber welche italienische Frau hätte es gewagt, ihrem Mann in seine Geschäfte hineinzureden?

Diese Dinge wurden vom Privatleben zumeist streng getrennt, deshalb stellte es eine Ausnahme dar, dass Gravina den Mann, den er vorhin angerufen hatte, zu sich ins Haus bestellt hatte. Aber außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen.

Gravina nahm die Espressotasse in Empfang. Der Kaffee duftete herrlich. Dass er den Negerschweiß vor dem Schlafengehen trank, störte ihn nicht. Er würde trotzdem wie ein Murmeltier, das Winterschlaf hielt, schlafen können.

Als Angela Gravina den Raum wieder verlassen wollte, sagte er: „Ach, Angela ...“

Sie drehte sich halb um. „Ja, Pietro?“

„In Kürze wird hier Tony Tornado eintreffen. Du führst ihn gleich in mein Arbeitszimmer, ja?“

Angelas Blick wurde ärgerlich.

„Habe ich dir nicht schon mehrere Male gesagt, dass ich Tony Tornado nicht in meinem Haus haben will?“

„Es ist auch mein Haus, vergiss das nicht, und ich hätte ihn nicht herbestellt, wenn es nicht wichtig wäre“, erwiderte Gravina schroff.

„Dieser Mann hat das Unglück an seinen Schuhen.“

„Komm, spiel jetzt nicht die hellsichtige Hexe!“

„Ich will nicht, dass er es in unser Haus trägt.“

„Das wird er nicht. Er bleibt höchstens zehn Minuten, dann geht er wieder. Du wirst freundlich zu ihm sein, verstanden? Ich brauche ihn. Er muss etwas für mich erledigen.“

Angelas Miene hatte sich verfinstert.

„Tony Tornado“, sagte sie verächtlich. „Ich verstehe nicht, wie du dich mit solchen Leuten abgeben kannst.“

„Man kann sich die Männer, mit denen man arbeitet, nicht immer aussuchen, aber davon verstehst du nichts.“

Angela Gravina verließ das Arbeitszimmer ihres Mannes. Fünfzehn Minuten später läutete es. Gravina hörte Angela mit Tony Tornado reden. Die beiden wechselten nur wenige Worte miteinander. Dann öffnete sich die Tür, und Angela sagte: „Dein Besuch ist da, Pietro.“

„Er soll hereinkommen“, verlangte Gravina.

Tornado betrat den Raum. Angela blieb draußen. Sie schloss die Tür, und einen Moment lang überlegte sie, ob sie lauschen sollte. Aber dann schüttelte sie ärgerlich über sich selbst den Kopf. Nein, so etwas hatte sie noch nie getan, und sie würde es auch in Zukunft nicht tun. Was nicht für ihre Ohren bestimmt war, wollte sie nicht hören, und was sie wissen sollte, das erzählte ihr Pietro sowieso. Es wäre nicht richtig gewesen, den eigenen Mann auszuspionieren, deshalb zog sich die Frau zurück.

Gravina nickte zufrieden, als Tony Tornado eintrat.

„Na also“, sagte er brummig. „Da bist du ja.“

Tornado bleckte die Zähne.

„Bin ich nicht immer schnellstens zur Stelle, wenn du mich rufst? Obwohl ich sagen muss, dass ich gern noch zwei Stunden geschlafen hätte.“

„Du wirst noch genug schlafen - wenn du tot bist“, sagte Gravina.

Tornado stand vor seinem Schreibtisch. Ein Mann wie ein Felsblock. Er war nicht schön und nicht hässlich. Ein Durchschnittsmensch war er aber trotzdem nicht. In Mafia-Kreisen war er für seine Härte und seine Gefühlskälte bekannt. Wenn er sich jemanden vorknöpfte, der hatte nichts zu lachen.

Tony Tornado wurde zumeist dann herangezogen, wenn eine heikle Angelegenheit besonders schnell erledigt werden sollte. Tornado war nicht zimperlich. Vor seinen Methoden zitterten alle, die ihn kannten. Niemand wünschte sich, dass Tony Tornado sich ihn einmal aufs Korn nahm.

„Setz dich!“, sagte Gravina. Er bediente sich Tornados von Zeit zu Zeit wie eines Instruments.

Der große Mann nahm Platz. Er maß fast zwei Meter. Das war ungewöhnlich für einen Italiener. Er hatte auch kein schwarzes Haar, sondern war brünett. Seine Augen blickten mitleidlos und stechend.

„Was hast du auf dem Herzen?“, fragte Tornado.

„Du weißt, dass es gestern fünf Tote gegeben hat“, sagte Gravina. „Fünf Mitglieder des Syndikats haben ihr Leben verloren. Eine Rakete hat es ausgelöscht.“

„An dieser Sensation konnte keiner vorbeisehen. Alle Zeitungen, das Fernsehen und die Rundfunkanstalten berichteten darüber. Ein Verrückter übte Selbstjustiz. Er hat dem Mob den Kampf angesagt. Er möchte es bei diesem einen Verbrechen nicht belassen. Weitere werden folgen. Das hat er jedenfalls angekündigt.“

Gravina nickte. „So lautet die offizielle Version.“

„Gibt es noch eine andere?“, fragte Tornado verwundert.

„Meine“, sagte Gravina. Er öffnete die Zigarrenschachtel, die auf seinem Schreibtisch stand, und nahm sich eine Havanna. Er bot auch Tornado eine an, doch der lehnte mit den Worten ab: „Noch nicht so früh am Morgen. Das tut meinen Bronchien nicht gut.“

„Ist dir bekannt, wessen Flugzeug die Rakete zerfetzt hat?“, fragte Gravina.

„Alfredo Sandrellis.“

„Und weißt du, aus welchem Grund er nach New York kam?“

„Nein. Davon stand nichts in der Zeitung.“

„Natürlich nicht. Man könnte Sandrelli als eine Art Betriebsprüfer bezeichnen. Wenn eines unserer Unternehmen nicht mehr genügend Geld abwirft, sieht er nach, ob unser Vertragspartner nicht zu viel in die eigene Tasche wirtschaftet.“

„Er kam also nach New York, um sich so einen Knaben vorzunehmen?“

„Sehr richtig.“

„Wen?“, wollte Tony Tornado wissen.

„Brian Cusack.“

„Den König von Brooklyn?“

„Genau den“, sagte Pietro Gravina. „Cusack muss davon Wind bekommen haben, dass ihm die Commissione Sandrelli auf den Hals hetzen wollte, und er hat dagegen schnellstens etwas unternommen.“

Tony Tornado wiegte den Kopf.

„Du meinst, er hat den Jet abschießen lassen?“

„Ich bin davon überzeugt. Und damit niemand auf die Idee kommen kann, dass er mit dieser Sache etwas zu tun hat, hat er die Geschichte mit dem persönlichen Rachefeldzug eines unbekannten Mannes erfunden.“

„Gerissen - wenn es wahr ist, was du sagst.“

„Es ist wahr. Ich kenne Brian Cusack gut genug. Ich weiß, was man ihm zutrauen kann.“

„Okay, er hat sich Sandrelli vom Hals geschafft, aber hat er damit etwas gewonnen? Ich meine, den Job, den Sandrelli getan hat, tun doch bestimmt auch noch andere für die Commissione.“

„Das schon. Aber niemanden musste einer, der ein falsches Spiel spielt, mehr fürchten als Alfredo Sandrelli. Der kam allen drauf. Vor dem konnte man nichts verheimlichen. Er war ein absolutes Ass auf seinem Gebiet.“ Gravina hatte viel Zeit für die Glutkrone an seiner Zigarre verwendet. Nun paffte er genießend. Den Rauch blies er über den Schreibtisch. Träge kroch der graublaue Dunst über die Arbeitsplatte.

 

„Was soll ich nun tun?“, erkundigte sich Tornado.

„Ich möchte, dass du die Beweise für meine Behauptung beschaffst.“

„Wird nicht leicht sein.“

„Das kümmert mich nicht. Wichtig ist nur, dass du dieses Ziel so schnell wie möglich erreichst, damit ich Cusack die Rechnung präsentieren kann. Er hat den Bogen eindeutig überspannt. Er denkt, er ist gerissener als wir alle zusammen, glaubt, er kann uns geistig in die Tasche stecken, aber der Raketenanschlag auf den Mafia-Jet soll ihm das Genick brechen. Mach dich sofort an die Arbeit! Geld spielt keine Rolle. Schmiere jeden, von dem du dir eine Information versprichst! Bestich die Leute, die dir Nachteiliges über Brian Cusack erzählen können, und verschaffe mir den Beweis, dass der König von Brooklyn Sandrelli und seine Mitarbeiter ins Jenseits befördern ließ!“

Tornado nickte mit zusammengezogenen Brauen.

„In Ordnung, Pietro. Ich werde mich darum kümmern. Wenn Cusack wirklich etwas mit diesem Mordanschlag zu tun hat, finde ich es heraus.“

„Er hat, darauf kannst du Gift nehmen. Er hat!“