Thriller Spannung 2021: 13 Urlaubs-Krimis auf 1527 Seiten

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3


Brian Cusack war ein eleganter Mann mit scharf geschnittenen Zügen und Augen, die ständig entzündet zu sein schienen. Er liebte Schalkrawatten und blütenweiße Stecktücher, die er weit aus der Brusttasche heraushängen ließ. Seine persönliche Note.

Er war ein Erfolgsmensch und schätzte sich selbst ziemlich hoch ein. Deshalb wagte er es auch, hin und wieder die Mafia zu hintergehen. Er wusste, dass das sehr gefährlich war, aber er liebte das Risiko, und er hielt sich für schlauer als die Männer, für die er tätig war. Warum sollte seine Schlauheit nicht Zinsen tragen?

Er saß an einem großformatigen Schreibtisch, auf dem sich die Post häufte. Geschäftsbriefe, Rechnungen, Vertragsentwürfe. Auch Verbrecher haben damit zu tun, wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben.

Aufgewachsen war Brian Cusack an der Gowanus Bay. Seine Eltern - er hatte sie kaum gekannt - waren arm gewesen und früh gestorben. Er hatte schon mit sechzehn auf eigenen Beinen stehen und selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen müssen. Bald hatte er begriffen, dass für ihn das leicht verdiente Geld nicht auf dem ehrlichen Weg lag, und so hatte er sich auf die andere Seite des Gesetzes geschlagen. Er hatte sich mit den richtigen Typen zusammengetan. Sie waren zumeist um ein paar Jahre älter als er gewesen und hatten ihm Verschiedenes beibringen können.

Es war für ihn eine Herausforderung gewesen, besser zu sein als jeder andere. Er legte seine Freunde herein, wo er konnte, und sie muckten nicht auf, denn wer sich mit Brian Cusack anlegte, der hatte kein langes Leben mehr vor sich.

Schritt für Schritt baute Cusack seine Position in Brooklyn aus. Er verstand es, Geld anzuhäufen, und damit kaufte er sich gute Männer, die für ihn heikle Jobs erledigten. Bald war er so groß, dass die Mafia auf ihn aufmerksam wurde. Aber man ließ ihn in Ruhe. Erst als seine Gewinne so beachtlich waren, dass sie der Ehrenwerten Gesellschaft ins Auge stachen, suchte man den Kontakt mit ihm.

Der Mob schlug ihm eine Beteiligung vor. Im Klartext hieß das: Die Mafia wollte an seinen Gewinnen teilhaben. Er war klug genug, um zu wissen, dass man ein solches Angebot nicht ablehnen durfte, und so wurde er ein Partner des Syndikats, der den Schutz dieser großen Organisation genoss und dafür eine Gewinnbeteiligung abgeben musste. Man ließ ihm weitgehend freie Hand. Er konnte nach eigenem Gutdünken entscheiden. Der Mafia war so lange alles recht, solange er die vereinbarten Prozente vom Gewinn regelmäßig ablieferte.

Doch mit der Zeit gefiel Brian Cusack diese Partnerschaft nicht mehr. Er hatte nichts davon. Der einzige Nutznießer war die Mafia. Folglich ließ sich der König von Brooklyn, zu dem er mittlerweile geworden war, etwas einfallen. Er zweigte Gelder ab, bevor er die Gewinne festsetzte und von diesen dann die Prozente für die Ehrenwerte Gesellschaft abzog.

Solange er dies im Kleinen tat, fiel das nicht auf. Jedes Unternehmen unterliegt gewissen Schwankungen. Als Cusacks Abstriche aber immer dreister wurden, muckte das Syndikat auf. Er erfuhr, dass sich die Commissione damit beschäftigen wollte, und er hörte, dass man auf ihn eine Prüfungsgruppe ansetzen wollte. Alfredo Sandrelli und seine cleveren Spürhunde sollten sich um seine Geschäfte kümmern.

Das löste in Brian Cusack einen Alarm aus, und er reagierte auf seine Weise. Sandrelli und seine Freunde lebten nun nicht mehr, und Cusack musste dafür sorgen, dass niemand auf die Idee kam, ihn mit dem Attentat in Verbindung zu bringen.

Cyril Murray stand hinter ihm. Cusack schnippte mit dem Finger. Murray, ein bulliger Typ mit Glotzaugen, trat einen Schritt vor. Er leitete die Geschäfte während Cusacks Abwesenheit, war aber bei weitem nicht in alles eingeweiht, denn uneingeschränktes Vertrauen brachte der König von Brooklyn nur sich selbst entgegen.

„Ja, Boss?“

„Die Nummer von diesem Journalisten ...“

„Von Christopher Copeland?“

„Ja. Wo ist die?“

„Sie muss auf deinem Schreibtisch liegen.“

„Da liegt so viel.“

Murray half dem Boss beim Suchen. Er entdeckte den Zettel unter der Schreibzeugtasche. „Hier“, sagte er und wedelte mit dem Papier.

„Ruf ihn an!“, verlangte Cusack.

„Okay.“

Murray drehte den Apparat zu sich, nahm den Hörer ab und tippte die Nummer des Journalisten. Es läutete fünfmal am anderen Ende der Leitung. Dann meldete sich Christopher Copeland.

„Hallo!“

„Mister Copeland?“

„Ja?“

„Einen Augenblick. Ich gebe Ihnen Mister Cusack.“

Cyril Murray reichte den Hörer an Cusack weiter.

„Hallo, Copeland. Wie geht’s immer?“

„Viel zu tun.“

„Von dem Leiden sind wir alle befallen. Was macht Ihre Galle?“

„Die gibt nun wieder Ruhe.“

„Vielleicht sollte mein Hausarzt Sie einmal aufsuchen. Der Mann ist große Klasse. Hervorragender Diagnostiker. Ausgezeichneter Therapeut. Soll ich ihm Ihre Adresse geben? Die Kosten übernehme selbstverständlich ich.“

„Meinetwegen. Er kann ja mal vorbeikommen.“

„Ich wette mit Ihnen, er findet im Handumdrehen raus, was mit Ihnen los ist und sagt Ihnen, wie Sie Ihr Leiden losbringen. Ein Phänomen, der Mann.“

„So was soll's ja geben. Ich bin einem solchen Arzt leider noch nicht begegnet.“

„Er verlangt natürlich sein Geld, das ist klar. Aber der ist jeden Dollar, den er kriegt, wert. Ich meine, was hat man außer seiner Gesundheit sonst noch, nicht wahr? Hat ein kluger Kopf nicht mal behauptet: Nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist?“

„Ein weiser Spruch.“

„Da Ihre Zeit ebenso knapp bemessen ist wie meine, müssen Sie mir erlauben, nun zum eigentlichen Grund meines Anrufs zu kommen. Sie erinnern sich noch an unser Gespräch, das wir in der vergangenen Woche unter vier Augen hatten.“

„Selbstverständlich“, sagte Christopher Copeland.

„Nun, die Sache wurde inzwischen aktuell. Ein Privatjet, der mit fünf Mafiosi besetzt war, wurde von einem Unbekannten mit einer Rakete, die aus Army-Beständen stammte, abgeschossen. Ich möchte, dass Sie sofort Ihre weitreichenden Beziehungen spielen lassen. Posaunen Sie in alle Welt hinaus, dass der Täter ein Mann ist, der mit dieser Tat einen persönlichen Rachefeldzug gegen die Mafia gestartet hat. Wie besprochen, werde ich mich für diese Gefälligkeit in gebührendem Maße erkenntlich zeigen.“

„Ich habe mir bereits eine kleine Backgroundstory zurechtgezimmert“, sagte Copeland.

„Wunderbar!“, lobte Brian Cusack. „Ich schätze es, wenn meine Freunde mitdenken. Lassen Sie hören!“

„Also dieser Mann ist verbittert, weil er durch das Syndikat seine Frau und seine Tochter verloren hat. Der Mob packte ihm eine Bombe unter seinen Wagen, aber nicht er stieg in das Auto ein, sondern ...“

„Ausgezeichnet“, lobte Cusack wieder.

„Ich lasse dabei offen, in welcher Stadt es zu dieser Tragödie gekommen ist. Auch den Namen des Mannes kann ich nicht nennen, denn er hat mich in meiner Wohnung anonym angerufen.“

„Großartig!“, sagte Cusack.

„Und er hat weitere Taten angekündigt.“

„Die Story ist so gut, dass sie echt sein könnte“, sagte der König von Brooklyn begeistert. „Ich wusste, dass Sie für mich genau der richtige Mann sind, Copeland. Ich glaube, ich werde künftighin öfter etwas für Sie zu tun haben. Lassen Sie Ihre Kollegen nun umgehend von diesem anonymen Anruf wissen, okay?“

„Selbstverständlich.“

„Mein Arzt wird Sie noch heute aufsuchen.“

„Vielen Dank.“

„Nichts zu danken. Ich bin aus ganz persönlichen Gründen an Ihrer Gesundheit interessiert“, sagte Brian Cusack und legte den Hörer in die Gabel. Er blickte Cyril Murray an und fragte: „Na, wie habe ich das wieder gedeichselt?“

„Bestens.“

„Ein Unbekannter. Ein Verrückter hat sich entschlossen, gegen die Mafia anzutreten. In Kürze wird das in allen Zeitungen stehen, alle Fernseh- und Rundfunkanstalten werden es berichten. Und wir haben mit dem tragischen Tod von Alfredo Sandrelli und seinen Freunden - den wir aus tiefstem Herzen bedauern - nichts zu tun.“




4


Es kam nicht oft vor, dass Roberto Tardelli mit einem zarten Kuss geweckt wurde, denn er war ein Tramp, der ständig in anderen Betten schlief. Nur wenn er in New York war, hatte er so etwas wie einen festen Wohnsitz, denn es existierte ein Dauerangebot, auf das er liebend gern zurückgriff, wenn ihn ein Auftrag in diese Metropole führte. Samantha Ford, eine junge Ärztin, mit der Roberto seit einigen Jahren befreundet war - ein Fall hatte sie damals zusammengebracht -, wäre ihm böse gewesen, wenn er sie nicht aufgesucht hätte.

 

Dass er dies dennoch nicht immer tat, lag daran, dass er das blonde Mädchen mit den strahlenden Veilchenaugen nicht in Gefahr bringen wollte. Wenn ihm also irgendwelche Gangster zu dicht auf den Fersen waren, wenn die Luft bleihaltig zu werden drohte, zog er es vor, in einem Hotel abzusteigen, damit Sam, wie er das hübsche Mädchen liebevoll nannte, nichts zustoßen konnte.

Ihre Lippen waren weich und warm. Er genoss den Kuss, räkelte sich und öffnete die Augen. Der Tag war noch nicht richtig angebrochen. Graues Licht lag über der Stadt.

Roberto seufzte.

„Bei strahlendem Sonnenschein kann jeder aufstehen, nicht wahr?“

„Guten Morgen“, sagte Samantha. „Der Kaffee ist schon fertig.“

„Du warst schon auf?“, sagte er erstaunt. „Ich habe nichts bemerkt.“

„Ich habe mich wie eine Einschleichdiebin aus dem Schlafzimmer gestohlen, damit du nicht aufwachst.“

„Sehr rücksichtsvoll.“

„Nun wird es langsam Zeit für dich.“

„Wie spät ist es denn?“

„Vier Uhr.“

„Eine barbarische Zeit.“

„Ich habe mir den Job im Hafen nicht ausgesucht“, meinte Samantha Ford.

„Du hast recht. Das war ich.“ Roberto arbeitete seit kurzem im Hafen von Brooklyn. Er wollte Brian Cusack kriegen, den sie den König von Brooklyn nannten und der ein Geschäftspartner der Ehrenwerten Gesellschaft war. Befreite er Brooklyn von Cusack, diesem gefährlichen Parasiten, dann verlor die Mafia eine gute Einnahmequelle, und dem Kampf gegen die Mafia hatte Roberto Tardelli gewissermaßen sein Leben gewidmet.

Die Hafenarbeit war ein hartes Brot, aber Roberto beschwerte sich nicht. Er konnte kräftig zupacken, war nicht zimperlich, und vor schwerer Arbeit war er noch nie fortgelaufen. Nur das frühe Aufstehen störte ihn, aber auch in diesen sauren Apfel biss er, nur um Brian Cusack das Handwerk legen zu können.

Während Roberto duschte, schob Samantha zwei Weißbrotscheiben in den Toaster. Obwohl sie ihren freien Tag hatte, nicht ins Krankenhaus musste und im Bett hätte bleiben können, so lange sie wollte, frühstückte sie mit Roberto.

Nach dem Frühstück zog Roberto eine warme blaue Wolljacke an und setzte eine gestrickte Mütze mit Rollrand auf.

„Sehe ich nicht zünftig aus?“, fragte er lächelnd.

„Wie ein echter Hafenarbeiter“, bestätigte ihm die junge Ärztin. „Kommst du mit deiner eigentlichen Arbeit voran?“

„Ich bin laufend am Sondieren. Es wird nicht leicht sein, Cusack ein Bein zu stellen, aber ich werde es schon irgendwie schaffen.“

Samantha begleitete ihn an die Tür.

„Ich wünsche dir einen erfolgreichen Tag.“

„Und was steht bei dir auf dem Programm?“

Samantha hob die Schultern.

„Weiß ich noch nicht. Vielleicht gehe ich ins Museum. Schade, dass wir nicht zusammen sein können.“

Roberto lächelte.

„Wir hatten die Nacht für uns, und das ist nicht immer so.“ Dann gab er ihr einen Abschiedskuss und verließ das Apartment. Er ahnte nicht, dass dieser Tag die Ereignisse gewaltig vorantreiben würde und er seinem Ziel einen Riesenschritt näherkommen sollte.




5


Es war feucht und kalt an diesem Morgen. Der Himmel - obwohl wolkenlos - war noch grau. Die Nacht konnte sich noch nicht entschließen, zu gehen, und der Tag war noch zu schwach, um sie zu vertreiben.

Still und verlassen lagen die riesigen Frachtkähne an den Piers von Brooklyn. Irgendwo kläffte ein Köter. Der Wind blies alte Zeitungsfetzen an den Fronten der Lagerhäuser vorbei. Wie Ungetüme aus der Vorzeit ragten die mächtigen Kräne empor. Bald würde hier das Leben erwachen, wenn die ersten Hafenarbeiter eintrafen. Doch noch war alles ruhig.

Auf einem der Kähne bewegte sich eine Plane. Sie wurde ein Stück zurückgeschoben. Ein Kopf tauchte auf. Vorsichtig. Der Mann peilte die Lage. Er hatte ein großes rundes Gesicht und dunkle Knopfaugen. Ein leidender Ausdruck stand in seinem Antlitz. Das Leben schien nicht gerade sanft mit ihm umgegangen zu sein. Wie ein Mensch, der ständig auf der Flucht ist, sah er aus.

Die Luft war rein. Er tauchte wieder unter die Plane.

„Wie sieht's aus?“, fragte ihn eine zaghafte Mädchenstimme aus der Dunkelheit. Sie gehörte Maria Wassinski, seiner Schwester. Er hieß Jossip Wassinski und war um fünf Jahre älter als sie.

Sie stammten aus Polen, einem Land, in dem sie nicht mehr leben wollten. Sie hatten einfach nicht mehr die Kraft dazu. Sie waren wegen ihrer politischen Aktivitäten verfolgt worden. Man hatte ihnen das Leben so schwer wie möglich gemacht, und sie hatten befürchtet, in ihrer Heimat vor die Hunde zu gehen. Deshalb hatten sie sich entschlossen, auszuwandern. Illegal natürlich, denn eine Ausreisegenehmigung hätte man ihnen nicht erteilt.

Sie hatten ihre gesamten Ersparnisse zusammengerafft, hatten sich nach Danzig begeben, hatten einen Matrosen bestochen und waren als blinde Passagiere auf diesen Frachter gelangt. Nach einer Fahrt, die kein Ende nehmen wollte, waren sie in New York eingetroffen. In der Freiheit. In Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

„Du wirst sehen“, sagte Jossip Wassinski immer zu seiner Schwester. „In Amerika werden wir unser Glück finden.“

Noch zweifelte Maria daran. Sie wusste nicht, ob es richtig war, daheim alles stehen und liegen zu lassen und davonzulaufen. Sie hatte Angst vor der Zukunft, denn Amerika würde sie nicht mit offenen Armen aufnehmen. Schließlich waren sie illegale Einwanderer, und gegen die hat jeder Staat dieser Welt etwas.

Sie hatten eine Adresse. Ein Landsmann würde ihnen weiterhelfen, wenn sie ihn aufsuchten. Jossip war voller Zuversicht, dass sich für sie alles zum Guten wenden würde. Er war kräftig. Er würde jede Arbeit annehmen, die man ihm anbot, und er würde fleißig arbeiten.

„Wir werden unseren Weg machen!“ Auch das war einer seiner Sprüche, die immer wiederkehrten. „Lass uns nur erst einmal amerikanischen Boden unter den Füßen haben, Maria.“

Seine Schwester brauchte vorerst nichts zu tun. Sie sollte Zeit haben, den richtigen Job zu finden. Jossip wollte nicht, dass sie unversehens auf die schiefe Bahn geriet. Man hatte ihn gewarnt. New York war nicht nur ein heißes Pflaster, sondern auch ein schlüpfriges, wenn man sich nicht vorsah.

„Es ist alles ruhig“, sagte Jossip. Er schlang seine Arme um Maria und drückte sie innig an sich. „Mein kleines Täubchen, du brauchst keine Angst zu haben. Es wird alles gut werden. Wir tun in wenigen Augenblicken den ersten Schritt in ein neues Leben. In diesem Land darf man sagen, was man sich denkt. Solange du das Gesetz nicht übertrittst, darfst du tun und lassen, was dir Spaß macht.“

Maria schüttelte den Kopf.

„Nein, Jossip. Das trifft auf uns beide nicht zu. Wir sind in diesem Land unerwünscht. Sobald du sagst, was du dir denkst, fällst du auf, und sobald man auf dich aufmerksam geworden ist, schiebt man dich ab. Dann geht es zurück nach Polen.“

„Polen“, sagte Jossip und strich zärtlich über das dunkelbraune Haar seiner schönen Schwester. „Polen gehört der Vergangenheit an, Maria. Unsere neue Heimat heißt Amerika.“ Er griff nach ihrer Hand, und dann krochen sie gemeinsam unter der Plane hervor. Sie schlichen geduckt über das Deck des Frachters. Zwei Schemen waren sie, die durch das Morgengrauen huschten.

Sie erreichten die Gangway. Jossip Wassinski blieb kurz stehen, um sich wieder gründlich umzusehen. Nachdem er festgestellt hatte, dass die Luft auch auf dem Kai rein war, lief er mit Maria die Gangway hinunter. Unten angelangt, pumpte er seine Lungen voll und sagte überwältigt: „Endlich, Maria! Endlich stehen wir auf amerikanischem Boden. Wir sind zu Hause.“

„Das kommt mir nicht so vor“, flüsterte Maria Wassinski. Sie blickte zur mächtigen Skyline von Manhattan hinüber. Oft schon hatte sie diese Ansicht auf Bildern gesehen. Aber sie hatte nicht gewusst, dass hier alles so groß und mächtig war. „Ich habe den Eindruck, ich bin in dieser Stadt ein winziges Sandkorn.“

Jossip nickte.

„Das bist du auch. Und das ist gut so. In irgendeiner Falte dieses Riesen werden sich zwei Sandkörner verlieren, und niemand wird sich darum kümmern. Deshalb ist es ja so leicht, in New York unterzutauchen. Knapp acht Millionen Einwohner leben hier. Kommt es da auf uns beide an?“

Sie schritten den Kai entlang. Container standen umher. Was in den Lagerhäusern keinen Platz mehr fand, wurde davor abgestellt. Jossip wusste ungefähr, in welche Richtung er gehen musste. Er hatte sich zu Hause einen alten Stadtplan angesehen. Maria hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie vertraute einfach - wie in allem - ihrem älteren Bruder, der für sie schon die richtigen Entscheidungen treffen würde.

Sie erreichten ein Lagerhaus, aus dem Stimmen drangen. Marias Hand drückte fester zu. Jossip bemerkte es. Er blickte das glutäugige Mädchen sanft lächelnd an.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Es kann dir nichts passieren. Ich bin bei dir. Solange ich dich beschütze, wird dir niemand ein Leid zufügen.“

Er huschte mit ihr hinter die Containergruppe. Vor dem Lagerhaus standen zwei Fahrzeuge. Das Rolltor war halb offen. Wer sich im Lagerhaus befand, konnte Jossip nicht sehen.

„Warte hier!“, sagte er zu seiner Schwester.

Sie blickte ihn erschrocken an.

„Was hast du vor?“

„Ich bin gleich wieder zurück.“

„Geh nicht weg, Jossip! Ich habe Angst. Lass mich nicht allein.“

„Du wirst dich hier verstecken und nicht von der Stelle rühren. In fünf Minuten bin ich wieder bei dir.“

Ehe ihm Maria widersprechen konnte, eilte er davon. Er schlich auf das Rolltor des Lagerhauses zu und sah einen Augenblick später vier Männer. Einer wurde von zwei großen Kerlen gehalten. Vor ihm stand ein bulliger Typ mit Glotzaugen.

Es war Cyril Murray, die rechte Hand Brian Cusacks, der an diesem Morgen schon früh aus den Federn gekrochen war, um Brad Rafferty, einem Schlitzohr, das den König von New York hereingelegt hatte, ins Gewissen zu reden.

„Hör zu, Brad“, knurrte Murray. „Ich denke, ich habe eine Eselsgeduld mit dir gehabt, aber einmal ist Schluss damit.“

„Verdammt noch mal, ich weiß nicht, wer die Container, die für Cusack bestimmt waren, geklaut hat“, beteuerte Rafferty zum x-ten Male.

Murrays Glotzaugen wurden schmal.

„Könntest du sie dir nicht unter den Nagel gerissen haben?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Du hast heute Nacht mit ’ner Menge Geld um dich geschmissen. Hast die Puppen tanzen lassen.“

„Darf ich das denn nicht?“

„Aber ja, wenn es ehrlich verdientes Geld ist schon. Woher hast du den Zaster?“

„Gewonnen.“

„Bei wem?“

„Ich war mit Freunden zusammen. Drüben in Manhattan. Sie hatten 'ne Pechsträhne. Ich habe ihnen die Hosen ausgezogen, und weil’s so großartig gelaufen ist, habe ich hinterher eben ein bisschen gefeiert. Ist da was dabei?“

 

„Du denkst wohl, die Schlauheit mit der Schöpfkelle gefressen zu haben, was?“, herrschte Murray ihn an. „Aber so clever wie du bin ich allemal noch. Ich glaube dir die Geschichte mit den fremden Männern nicht. In Brian Cusacks Budget klafft ein Loch von zehntausend Dollar. Dafür muss eine alte Frau ganz schön lange stricken, mein Lieber. Brian ist mächtig sauer auf dich, wie du dir denken kannst. Er mag Typen nicht, die ihn reinlegen. Wer könnte ihm das verdenken? Weißt du, was seine erste Reaktion war, als er erfuhr, dass du ihn bestohlen hast? ,Umlegen!‘, hat er gebrüllt. ,Legt das Schwein auf der Stelle um!‘ Aber ich konnte ihn beschwichtigen. Ich machte ihm klar, dass er nichts gewinnt, wenn er dich beseitigen lässt, dass er aber sehr wohl etwas gewinnen kann, wenn er dir dein Leben lässt, denn dann wirst du dich dafür bedanken, indem du das Geld herausrückst, um das du ihn geprellt hast.“

Rafferty schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Langsam bin ich es leid, immer wieder dasselbe sagen zu müssen.“

„Denkst du, mir geht es anders?“, knurrte Murray. „Junge, ich rate dir, nimm endlich die Zähne auseinander!“

„Ich habe Cusack nicht bestohlen.“

„Wer war es dann?“

„Das weiß ich nicht!“

„Okay, Freund. Du hast es nicht anders gewollt“, sagte Cyril Murray, und es klang so, als würde er bedauern, dass er nun Gewalt anwenden musste. Seine Männer hielten Brad Rafferty fest. Der Mann hatte keine Möglichkeit, auch nur einem einzigen Schlag auszuweichen. Er musste sie alle voll einstecken. Murray war früher Boxer gewesen. Er ließ von Rafferty erst ab, als er schrie: „Aufhören! Hör auf! Willst du mich erschlagen?“

„Wenn es sein muss, ja!“, blaffte Murray. Er holte zum nächsten Schlag aus.

Da brach Raffertys Widerstand.

„Okay! Okay!“, stöhnte er. „Du hast gewonnen! Okay, ich gebe zu, die Container für mich abgezweigt zu haben.“

„Na also“, sagte Murray zufrieden. „Warum nicht gleich?“

Rafferty konnte nicht mehr auf seinen eigenen Beinen stehen. Wenn Murrays Männer ihn nicht gehalten hätten, wäre er zu Boden gegangen. Schwer atmend hing er zwischen ihnen.

„Du hast das Zeug verkauft?“, fragte Murray.

„Ja. Aber ich habe keine zehn Riesen dafür gekriegt.“

„Wieviel denn?“

„Sechstausend.“

„Idiot. Ein guter Geschäftsmann wird aus dir nie.“

„Ich wollte das Geschäft so schnell wie möglich abwickeln. Das drückt immer auf den Preis.“

„Wo ist das Geld?“

„Es sind nur noch fünftausend Dollar übrig.“

„Na schön, Rafferty, und wo befinden sich die?“, wollte Cyril Murray wissen.

„In meiner Wohnung.“

Murray setzte ein eiskaltes Lächeln auf.

„Das wär's also. Nun kann ich dir verraten, was Cusack mir aufgetragen hat. ,Leg ihn um, sobald er dir gesagt hat, wo sich das Geld befindet.‘ Das hat der Boss mir befohlen. Du weißt, dass sich der König von Brooklyn hundertprozentig auf mich verlassen kann. Du hättest lieber spuren sollen, dann wäre dir das hier erspart geblieben.“

Der Bullige holte ein Springmesser aus der Tasche. Rafferty riss entsetzt die Augen auf.

„Murray! Nein! Um Gottes willen! Das kannst du doch nicht machen!“, schrie er.

Er kam noch einmal zu Kräften und wollte die beiden Kerle abschütteln, die ihn festhielten. Es gelang ihm nicht. Wie zwischen zwei Schraubstockbacken war er eingeklemmt.

„Ich kann“, sagte Murray eiskalt.

„Aber Cusack hat sein Geld doch wieder!“

„Einen Teil davon.“

„Den Rest beschaffe ich auch noch. Ich verspreche es.“

„Darauf verzichtet mein Boss, wenn er dafür weiß, dass du deine Strafe erhalten hast“, sagte Cyril Murray.

„Warte!“, schrie Brad Rafferty verzweifelt.

Doch Murray wartete nicht ...

Jossip Wassinski traf der Schock mit der Wucht eines Keulenschlages. New York - eine Stadt des Verbrechens! hatte ihm zu Hause in Polen einmal jemand gesagt. Man sei hier seines Lebens nicht sicher. Jede vierte Einwohner sei schon einmal überfallen worden, hieß es. Jossip hatte das alles für übertrieben gehalten. Für eine antiamerikanische Propaganda.

Doch nun war er selbst kaum auf amerikanischem Boden, Zeuge eines kaltblütigen Mordes geworden. Er zitterte vor Entsetzen. Wie in Zeitlupe sah er Rafferty in sich zusammensinken. Dem Polen traten dicke Schweißperlen auf die Stirn.

Ein Mord! Vor seinen Augen war ein Mord verübt worden! Ein Mensch war getötet worden! Und er hatte es gesehen, aber nicht verhindern können! In seiner Kehle war plötzlich ein schmerzhaftes Würgen. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Auch das war seine neue Heimat. Auch so sah sie aus. Grausam. Verdorben. Brutal. Ein Menschenleben schien hier nichts wert zu sein.

Maria! Seine Schwester fiel ihm ein. Er sah die Verbrecher wie durch einen trüben Schleier, und er hörte ihre Stimmen, als würden sie durch dicke Daunenkissen dringen.

„Was machen wir mit ihm?“, fragte einer der Männer.

„Lassen wir ihn hier liegen?“, fragte der andere.

„Werft ihn ins Wasser!“, entschied Cyril Murray.

Jossip war wie gelähmt. Er hatte das Gefühl, umzufallen, wenn er sich jetzt umdrehte. Aber er musste weg von hier. So schnell wie möglich. Er konnte nicht am Tor stehenbleiben. Die Gangster würden den Toten in wenigen Augenblicken aus dem Lagerhaus tragen und ins Wasser werfen. Er musste zurück zu Maria. Endlich fühlte er sich dazu imstande, sich umzuwenden und zu seiner Schwester zurückzueilen.

Sie sah den Schweiß auf seiner Stirn und die Panik in seinem Gesicht. Erschrocken weiteten sich ihre Augen.

„Heilige Muttergottes, was ist geschehen, Jossip? Du bist weiß wie eine getünchte Wand!“

Er legte ihr die Hand auf den Mund.

„Ein Mann wurde ermordet“, flüsterte er. „Ich hab's gesehen ...“

Maria Wassinski befreite sich von der Hand ihres Bruders.

„Das müssen wir der Polizei melden“, presste sie aufgeregt hervor.

„Wir? Die illegalen Einwanderer?“

„Es ist unsere Pflicht, Jossip.“

„Was geht es uns an, wenn sich hier die Ratten gegenseitig totbeißen?“

„Du darfst nicht zusehen, wie ein Mensch getötet wird und es hinterher einfach vergessen!“

„Wir müssen an uns selbst denken.“

„Jossip, dies ist unsere neue Heimat. Wenn wir hier mit einem halbwegs reinen Gewissen leben wollen, dürfen wir nicht einfach weggehen, als wäre alles in Ordnung, als ginge dieser Mord uns nichts an. Er geht uns sehr wohl etwas an, denn er wurde in unserer Heimatstadt verübt, und wir sind für alles, was hier geschieht, von nun an mitverantwortlich. Wenn wir diese Verbrecher nicht schalten und walten lassen, wie es ihnen passt, wird sich ihre Bewegungsfreiheit zwangsläufig einengen.“

Jossip Wassinski drückte seine Schwester nach unten.

„Still! Sie kommen“, raunte er ihr zu.

Und dann trugen die Gangster Brad Rafferty aus dem Lagerhaus ...