Revolution 1776 - Krieg in den Kolonien Sonderband

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Revolution 1776 - Krieg in den Kolonien Sonderband
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Thomas Ostwald

Revolution 1776 – Krieg in den Kolonien

Sonderband zur Serie Revolution 1776

Das Glück des Trommlers

Edition Corsar

Alle Rechte vorbehalten.

© Edition Corsar Dagmar und Thomas Ostwald 2021 Braunschweig

I.

Die große, schwere Limousine nahm die schmale Straße fast völlig ein. Gegenverkehr wäre ein Problem gewesen, aber niemand schien in dieser Jahreszeit eine so abgelegene Gegend aufzusuchen. Die Touristenströme, die in jedem Jahr zum Indian Summer durch die Neu-England-Staaten flossen, hatten interessantere Ziele.

Noch immer ging es leicht bergauf, und der unangenehme Nieselregen sprühte auf die Windschutzscheibe. Der Fahrer schaltete die nächste Interwallstufe ein. Im Fond des Fahrzeugs sah Max ständig aus dem Seitenfenster, dann wieder zwischen seinen Eltern nach vorn durch die Windschutzscheibe. Dunkelblaue, schwere Wolken hingen über den Bergen.

Vereinzelt standen Häuser an der schmalen Straße, trotz des unangenehmen Herbstwetters ein freundlicher Anblick mit ihren weißen Holzverschalungen, den bunten, eigenwilligen Briefkästen und den orange leuchtenden Halloween-Kürbissen, die überall viel zu früh vor den Türen standen und hingen.

„Manno, wann kommt denn das blöde Schlachtfeld endlich?", nörgelte jetzt seine Schwester.

Die Stimmung im Auto war gedrückt, und eigentlich sprach sie aus, was alle dachten. Vor etlichen Meilen waren sie auf diesen Weg abgebogen. Max hatte das Schild im letzten Augenblick entdeckt, aber es war bislang auch das einzige geblieben.

„Es muss hier gleich sein, bestimmt nicht mehr weit!"

Max sprach hastig, um Einwände im Keim zu ersticken.

„Stellt Euch bloß einmal vor, hier sind die mit schwerem Gepäck und den Fuhrwerken bei solchem Wetter entlang gezogen. Und bestimmt blieben die Räder im aufgeweichten Weg stecken!"

„Na, das kann uns zum Glück ja nicht passieren", antwortete sein Vater. „Die Straße ist zwar schmal, aber in gutem Zustand. Wir werden es schon finden, keine Sorge. Bislang haben wir ja alle Punkte nach Karte gefunden."

„Aber ausgerechnet so ein blödes Schlachtfeld. Was stellst du dir da eigentlich vor? Glaubst du, da liegen noch Gewehre rum und so'n Zeugs?"

Max sah seine Schwester missbilligend an.

„Natürlich nicht. Ich weiß auch nicht, was ich mir vorstelle. Es ist nur... es ist ein merkwürdiges Gefühl, da zu stehen, wo einmal gekämpft wurde. Und das waren auch Soldaten aus unserer Heimat! Sie kamen aus dem Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel!"

„Na ja, ich kann mir etwas Schöneres vorstellen", ließ sich jetzt die Mutter vom Beifahrersitz hören. „Aber wenn es für dich so wichtig ist, sehen wir es uns natürlich an."

Sie hatte sich umgedreht und lächelte ihrem Sohn zu.

„Wichtig, ja gut, ich kann mir dann vielleicht ein Bild von den Örtlichkeiten machen. Bislang war ja alles nur theoretisch. Das Material im Archiv und dann die Ausstellung im Museum waren schon gut, aber jetzt, ich meine, so richtig vor Ort..." Max brach ab und sah aus dem Fenster.

Trotz des grauen Himmels leuchteten von den Bergen die bunt gefärbten Bäume des Indian Summer. Er ärgerte sich, dass ausgerechnet jetzt das Wetter so schlecht wurde. Während der ganzen Fahrt hatten sie herrlichen Sonnenschein gehabt, von Boston bis in die White Mountains. Bestimmt waren es tolle Bilder, die sie von der Laubfärbung, den schönen, weißen Häusern, den reifen Kürbissen überall gemacht hatten. Jetzt, wo es für ihn darauf ankam, war es ein richtig ekliger Oktobertag. Trotzdem gab Max die Hoffnung nicht auf, ein paar interessante Fotos machen zu können. Es wäre für ihn der krönende Abschluss seiner Projektarbeit.

Alles hatte sich so gut gefügt. Erst das Referat über die Amerikanische Revolution, die sich in diesem Jahr zum 225. Male jährte, sonst hätten sie das Thema überhaupt nicht erwähnt. Dann die Idee für die Projektarbeit. Die Reise in die Neu-England-Staaten mit seinen Eltern zum Indian Summer. Direkt nach Boston, wo alles angefangen hatte. Erst die Tea-Party, dann die Gefechte bei Lexington und Concord.

Aber Max hatte noch mehr gefunden, als er im Archiv die Unterlagen durchsah. Es waren Männer aus seiner Stadt, die hier gekämpft hatten. Aus allen Teilen Deutschlands und aus dem benachbarten Ausland waren sie nach Braunschweig gekommen und hatten sich als Söldner anwerben lassen. Erst gingen sie nach Kanada, dann kämpften sie bei Fort Ticonderoga am Champlain-See und hier bei Hubbardton. Richtig begeistert hatte ihn das Thema schließlich, als er seinen Familiennamen in einer Liste mit über 2.000 Namen entdeckte. Es handelte sich um die Soldaten, die in Amerika geblieben waren: Entweder waren sie im Krieg getötet, an Krankheiten gestorben oder sie gehörten zu dem großen Teil der Braunschweiger, die sich nach Kriegsende mit voller Soldauszahlung entlassen ließen und sich überwiegend in Kanada, in der Nähe von Quebec, ansiedelten. Neugierig war er die gut lesbare Namensliste durchgegangen. Als sein Blick auf den Familiennamen Oberbeck fiel, zuckte er zusammen. Der Mann stammte aus der Harzgegend, und von dort kam seine Familie auch. Schließlich konnte Max mit diesem Bezug auch ein gewisses Interesse bei seinen Eltern erwecken. Zumindest langweilte er sie nicht mit seinen Berichten, was leider für seine Schwester Britta nicht zutraf.

„Da ist ein Schild und ein kleiner Parkplatz. Wer sagt es denn - alles gefunden!"

Die Stimme seines Vaters riss ihn aus seinen Gedanken. Ja, hier war die Einfahrt zum Schlachtfeld. Aber eine Schranke verhinderte die Weiterfahrt zum Visitor Center, kein anderes Auto parkte hier.

„Na, großartig! Alles umsonst. Die ganze Fahrerei hierher für nichts!", maulte seine Schwester, und Max starrte betroffen durch den Nieselregen auf die Schranke. Er entdeckte das Schild. Der Park war seit zwei Wochen geschlossen, sie waren zu spät gekommen.

„Und jetzt? Wollen wir weiter?"

„Auf keinen Fall!" Max war entschlossen, jetzt nicht aufzugeben. Im nächsten Augenblick hatte er die Wagentür geöffnet und stieg aus. Vorsorglich schloss er seine Jacke über der Kamera, die er an einer Schnur um den Hals gehängt hatte. Für ihn musste es eine gute Digitalkamera sein, die üblichen Handy-Fotos lehnte er entrüstet ab.

Sein Vater ließ das Fenster herunter und sah ihm zu, wie er das Schild fotografierte, auf dem erklärt wurde, um welches Schlachtfeld es sich handelte.

„Sieh' dir das an!"

Max zeigte auf den Text. In goldenen Buchstaben auf blauem Untergrund stand der Text, so wie überall in der Nachbarschaft, wenn es sich um einen historischen Ort handelte. „Noch nicht einmal den Namen des Generals haben sie richtig geschrieben." Er war in diesem Moment richtig wütend über so viel Gleichgültigkeit. Noch einmal überprüfte er den Fotowinkel. Das Licht im Sucher war grün, der Text einwandfrei zu lesen.

Max trat zur Schranke. Sie versperrte nur den Fahrzeugen den Weg, ein Fußgänger konnte problemlos an der Seite durchschlüpfen.

„Was hast du vor?", rief ihm sein Vater zu.

„Ich gehe schnell mal durch, okay?"

„Bei dem Wetter? Die Bilder werden doch nichts!"

„Macht nichts, jetzt bin ich hier und möchte wenigstens einen Blick auf die Gegend werfen und ein Foto machen!"

„Gut, aber sieh' zu, dass du bald wieder hier bist. So toll ist es hier wirklich nicht."

Max hatte sich schon zur Schranke umgedreht und umging sie.

„Na Klasse, das ist ja wohl nicht wahr. Jetzt will er wirklich noch zum Schlachtfeld?" Britta maulte weiter, aber ihre Mutter versuchte, zu vermitteln.

„Lass' ihn, er möchte doch für sein Projekt wenigstens das Bild haben. Wenn er schon hier ist, soll er auch die Zeit haben, sich das Schlachtfeld anzusehen. Außerdem können wir das Feld gut überblicken, jedenfalls bis zum Besucherzentrum. Vielleicht geht er noch bis zu dem Häuschen auf dem Hügel, aber das dauert doch nur Minuten.“

„Aber hier gibt es noch nicht einmal McDonald in der Nähe. Nur Landschaft, die öde Laubfärbung und sonst nichts."

„Bislang fandest du es doch auch schön. Heute haben wir Pech mit dem Wetter, aber das wird schon wieder. Und nun lass' deinen Bruder in Ruhe."

„Er ist ja sowieso schon weg, also was soll's. Hauptsache, er beeilt sich, damit wir weiterkommen." Britta nahm ihr Handy heraus und suchte die Facebook-Seite auf.

Max ging zügig auf der gewundenen Straße. Hinter jeder Kurve hoffte er, einen Blick auf das Schlachtfeld zu erhaschen, und wurde immer wieder getäuscht. Es ging ziemlich steil nach oben, und den Blick in die Umgebung verstellte ihm dichter Baumbewuchs.

Wie es wohl damals hier ausgesehen hatte? Bestimmt gab es kaum Bäume hier, denn wie hätte man sich sonst auf dem Schlachtfeld aufstellen können, zwischen lauter Bäumen?

Ihm wurde langsam warm, und gleichzeitig beschleunigte er seinen Schritt. Wie lange ging es denn noch hinauf? Jetzt wurde es auch noch neblig und immer trüber um ihn herum. In den Tannen an der Straße hingen Nebelfetzen wie kleine Wolken.

‚Das wird ja ein Superfoto!‘, schoss es Max durch den Kopf, als er wieder eine Kurve nahm. Er schien sich dem Gipfel zu nähern, konnte aber keine Einzelheiten erkennen. Dann stand er auf einer Kuppe neben dem Visitor Center. Tafeln erklärten, wo die Braunschweiger Truppen, die Engländer und die Amerikaner ihre Positionen bezogen hatten.

Im Visitor Center schien sich auch niemand aufzuhalten, aber die Deckenlampen brannten. Also drehte Max den typischen Messingknauf. Zu seinem Erstaunen ließ sich die Tür öffnen. Max zögerte, dann trat er ein. Vielleicht war doch jemand hier, der aufräumte und ihm etwas Auskunft geben konnte? Im kleinen Vorraum standen Stellwände mit erklärenden Texten, rechts gab es einen Kassentisch.

 

„Hallo?“ Sein Ruf blieb unerwidert. Im Hintergrund des hell erleuchteten Raumes entdeckte

Max eine aufgebaute Kamera, auf einem Stuhl Bekleidung, davor standen schwarze Lederschuhe mit glänzenden Messingschnallen. Fasziniert trat er näher und betrachtete die Uniform. Ein gelber Rock mit den typischen langen Schößen und eine dazu passende Weste hingen über dem Stuhl, ein Hemd und eine Kniebundhose lagen daneben.

Die Trommel stand nur wenige Schritte entfernt. Sie sah noch sehr neu aus und trug an der Seite ein aufgemaltes, verschlungenes Doppel-C, das Zeichen des Braunschweiger Herzogs Carl I.

Max hob zögernd das weiße Hemd mit den weit geschnittenen Armen hoch. Hier konnten sich bestimmt Touristen in den historischen Sachen fotografieren lassen. Mann, das wäre doch etwas! Bestimmt kam der Fotograf jeden Augenblick wieder, und dann konnte er schon bereit sein. Die paar Minuten würden ihm seine Eltern sicher verzeihen.

Ohne weiter nachzudenken, streifte sich Max das Hemd über den Kopf. Es war sehr lang und reichte weit über die Knie. Unter der hellen Kniebundhose lagen sogar lange, weiße Strümpfe. Also, rasch die Jeans herunter und ausprobieren!

Es war etwas mühsam, die langen Strümpfe bis auf den Oberschenkel hochzuziehen, aber er wollte das Foto perfekt haben. Schließlich hatte er das Hemd zugeknöpft, die zahlreichen Hosenknöpfe geschlossen und stand nun unschlüssig vor den Lederschuhen. Er sah sich noch einmal im Raum um und glaubte, jetzt ein Geräusch von draußen zu hören. Das war bestimmt der Fotograf, dachte sich Max, und zog die Lederschuhe an. Aber niemand kam herein. Also zog er sich die Weste über, dann den Uniformrock. Alles passte, als wäre es für ihn gemacht. Die Uniform wurde nur über der Brust mit einem Haken und einer Öse verschlossen. Max bewunderte den dicken, gelben Stoff und befühlte die Abzeichen an der Schulter, die das Zeichen der Musiker waren, wie er wusste. Er hatte sich den merkwürdigen Ausdruck dafür gemerkt: Schwalbennester nannte man diese Art der Abzeichen, die es noch heute bei den Spielmannzügen gab.

Als letztes probierte er den schwarzen Dreispitz. Auch er passte, und Max wurde richtig nervös bei dem Gedanken, so vor seine Eltern zu treten. Unsinn, seine Schwester würde sich ausschütten vor Lachen! Aber das Foto wollte er auf jeden Fall machen lassen. Wo nur der Fotograf so lange blieb?

Dann legte er das weiße Koppelzeug an, das für die Befestigung der Trommel diente, hakte die Trommel in die Vorrichtung und besah sich in dem großen Spiegel. Ein ungewohnter Anblick, aber er gefiel sich in der Uniform.

Max wartete noch einen Augenblick, dann trat er vor das Visitor Center und rief erneut:

„Hallo! Hallo!“

Aber niemand antwortete ihm.

Der Nebel schien sich weiter zusammenzuziehen, und er konnte vom Schlachtfeld kaum etwas erkennen. Trotzdem hatte er den Fotoapparat bereit, als er plötzlich Rufe hörte. Im ersten Augenblick nahm er an, dass seine Eltern die Geduld verloren hatten und nach ihm riefen. Dann erkannte er, dass die Stimmen seitlich vom Schlachtfeld kamen.

Also doch Touristen, die sich hierher verirrt hatten? Max lauschte und war sich fast sicher, dass die Stimmen deutsche Worte riefen, aber er konnte nichts verstehen. Jetzt hörte er deutlich eine Trommel schlagen und strengte sich an, etwas durch den Nebel zu erkennen.

Was hatte das zu bedeuten? War heute ein besonderer Feiertag, und wurde trotz des schlechten Wetters an ein Ereignis erinnert?

Jetzt zeichneten sich schemenhafte Gestalten ab, die aus den Nebelschwaden traten und in einiger Entfernung von ihm über das Schlachtfeld gingen. Max war verblüfft. Das waren Leute in bunten Uniformen, und jemand schlug eine Trommel. Dann musste er lächeln. Diese Amis! Er hatte aber auch ein Glück! Er musste gerade rechtzeitig gekommen sein, um ein Reenactment zu erleben, die Nachstellung eines historischen Ereignisses in originalgetreuen Uniformen. Darüber hatte er schon gelesen, und Gruppen dieser Art gab es in Deutschland wie in Amerika.

Immer mehr Soldaten kamen aus dem Nebel, marschierten über das Feld und kamen auf ihn zu. Max staunte über die Anzahl der Darsteller. Offenbar zog man direkt zum Visitor Center, das sich jetzt in seinem Rücken befand. Er zückte die Kamera, stellte das Objektiv ein und drückte ab. Egal, wie die Umgebung war, die Farben der Uniformen würden in jedem Fall einen guten Kontrast geben.

Lauter und lauter schlugen die Trommeln, gaben den Rhythmus vor, in dem die ganze Kolonne marschierte. Die Männer in den ersten Reihen trugen rote Uniformen, Dreispitze und hatten lange Musketen geschultert. Das waren die Engländer, kein Zweifel. Dann kamen Reihen mit blauen Uniformen, und Max wurde nervös. Das mussten Braunschweiger sein, denn die Uniformbilder hatte er sich genau angesehen. Was für ein Aufwand für eine solche Darstellung, und dann noch in einer Zeit, wo kein Tourist hier war!

Jetzt waren neue Kommandos zu hören, und die vorderen Reihen schwenkten direkt auf

Max zu. Als sie so dicht gekommen waren, dass er die Gesichter unterscheiden konnte, ließ er den Finger nicht mehr vom Auslöser. Die Kamera klickte und er war in diesem Moment sehr froh, dass er doch eine große Speicherkarte vor der Abreise gekauft hatte, auch wenn der Preis dafür nicht gerade niedrig war. Bislang hatte er nur einfache Karten im Fünf-Euro-Bereich gekauft, diese besaß eine Speicherkapazität von 128 GB und kostete dafür auch 20 Euro. Max verdrängte rasch den Gedanken an die zahlreichen Ausgaben, die er vor Reiseantritt hatte. Angefangen vom Kartenmaterial über Reiseführer hatte er viele Dinge erstanden, die er zu seinem großen Ärger in guter Qualität in den verschiedenen Visitor Center während der Reise kostenlos erhielt.

Die Soldaten hielten jetzt und standen in einer langen Reihe. Unteroffiziere mit ihren Spießen in der Hand achteten darauf, dass sie sich exakt ausrichteten, dann kam eine Gruppe mit Offizieren heran.

Etwas abseits stand eine größere Gruppe in grünen Uniformen mit roten Aufschlägen. Sie fielen Max sofort auf, denn die Männer hatten in ihrer ganzen Art etwas Lässiges und schienen die Uniform nur zu tragen, weil sie nichts Anderes tragen konnten. Sie standen nicht in den Reihen der anderen Soldaten, und einige hatten ihre auffallend kurzen Gewehre verkehrt herum geschultert. Das mussten die Jäger sein, die in diesem Krieg eine wichtige Rolle spielten. Max hatte gelesen, dass man diese Männer hauptsächlich unter Forstleuten anwarb. Sie waren als Scharfschützen eingesetzt.

Max war begeistert. Die Leute spielten wirklich perfekt ihre Rolle. Wenn das seine Eltern sehen könnten!

Befehle erschallten, Stimmen brüllten durcheinander. Dann kamen weitere Offiziere in blauen und roten Uniformen von der Seite, gingen auf die Soldaten zu. Die anderen salutierten und meldeten irgendetwas.

‚Schade, dass ich nicht dichter heran kann, aber das werden sie mir wohl kaum gestatten!‘, dachte Max gerade, als er plötzlich einen Stoß in den Rücken erhielt, der ihn fast auf die Straße warf. Er taumelte ein paar Schritte und rieb sich empört die schmerzende Stelle.

„Was treibt Er hier, Donnerwetter!", fauchte ihn eine gewaltige, tiefe Stimme an.

Verblüfft sah Max dem Mann in der blauen Uniform ins Gesicht. Er war groß und kräftig, hatte einen dicken Schnurrbart und sah prächtig in seiner Ausrüstung aus. Max musste ihn unwillkürlich bewundern, auch wenn er sich noch immer über diese merkwürdige Begrüßung ärgerte. Aber das war vielleicht nur ein derber Spaß, und er wollte zeigen, dass er verstanden hatte.

„Halten zu Gnaden!", rief er deshalb übermütig und salutierte vor dem Mann.

„Maul halten und rüber ins Glied!", brüllte ihn der Mann an.

Das ging jetzt aber etwas zu weit, fand Max. Auch wenn er vielleicht einen Unteroffizier darstellte, gab ihm das kein Recht, einen harmlosen Touristen so zu behandeln.

„Hören Sie, Mister, ich wollte nur ein paar Fotos machen und verschwinde gleich wieder. Meine Eltern warten nämlich ..."

„Hat Er mich nicht verstanden?", rief der Uniformierte jetzt erbost. Im nächsten Augenblick packte er Max am Ohr und zog ihn auf schmerzhafte Weise hinter sich her.

Max wollte protestieren, brachte aber vor Überraschung kein Wort heraus. Eine Frechheit! Und überhaupt - wieso sprach der Kerl deutsch mit ihm? Aber für weitere Überlegungen blieb ihm keine Zeit. Der Mann hatte ihn ein paar Schritte mitgezogen und blieb dann wieder stehen.

„Nehme Er seine Trommel auf und trete er ins Glied, oder er wird mich kennenlernen!"

„Jetzt ist es aber gut!", rief Max wütend aus, und im nächsten Augenblick brannte seine Wange. Der Kerl hatte es tatsächlich gewagt, ihn zu schlagen! Was dachte er sich denn?

Max wurde kurzerhand von dem kräftigen Mann am Kragen geschnappt und direkt zu den Soldaten gezogen. Er ging mit ihm an den ersten Reihen vorbei und schob ihn dann in zu mehreren Männern in blauen Uniformen.

Max wollte erneut laut schimpfen, als ihn der Blick seines Nebenmannes traf. Dieser Blick war so eigentümlich, dass Max verstummte. Der Mann wollte ihn offensichtlich warnen. Jedenfalls war Max eingeschüchtert und wartete ab, was passierte.

Aber man schien nur auf ihn gewartet zu haben. Im nächsten Augenblick hörte er einen neuen Befehl, und die Männer neben ihm führten eine Bewegung aus, die er unwillkürlich mitmachte. Gleich darauf setzten sie sich im Gleichschritt in Marsch, und die mächtige Stimme seines Peinigers rief ihm zu:

„Achtung, Trommler!"

Max sah verzweifelt zu seinem Nebenmann und wollte gerade sagen, dass er völlig unmusikalisch sei. Aber der nickte ihm aufmunternd zu, und Max schluckte kräftig. Noch immer brannte seine Wange, und diese unangenehme Erinnerung ließ seinen Widerstand schmelzen. Automatisch rührten sich seine Hände, ohne dass er wusste, wann er die Stöcke aufgenommen hatte. Zu seiner grenzenlosen Verblüffung schlug er einen gleichmäßigen Takt und marschierte neben den Männern, als hätte er nie etwas Anderes getan.

‚Ich muss träumen oder völlig verrückt geworden sein!‘, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Aber wenigstens hat der Nieselregen aufgehört. Na schön, wenn sie ihren Spaß mit Touristen so derbe machen, werden sie nicht viele Freunde finden. Ich gehe nur bis zum Visitor Center mit, und dann - tschüss, ihr Spinner!‘

Die Kolonne schwenkte erneut, und jetzt mussten sie gleich den Weg erreichen, der zurück zum Parkplatz führte. Max sah sich verblüfft um, konnte aber von der asphaltierten Straße nichts erkennen. Sollte er sich so getäuscht haben? Wahrscheinlich durch das zweimalige Schwenken der Gruppe. Also war die Straße da drüben, und in wenigen Minuten hatten sie sie erreicht. Aber wo war jetzt das Visitor Center?

Max trommelte weiter, und er hatte das Gefühl, als gehörten seine Hände nicht zu ihm. Sie spielten wie zwei kleine Tiere mit den Holzstöcken auf dem straff gespannten Kalbsfell, schlugen einen Rhythmus, den er nicht kannte, nie gespielt hatte, und dem er doch zwanghaft folgen musste. Noch immer keine Spur von dem Gebäude oder der Straße. Was sollte das?

Jedenfalls reichte es ihm jetzt. Er würde hier die Typen weitermarschieren lassen und sich seitlich in die Büsche schlagen.

Ein paar Schritte, und er musste die Straße erreichen. Plötzlich spürte er einen harten Druck in seinem Rücken und drehte erschrocken den Kopf zurück. Der Schnurrbärtige ging hinter ihm und hatte ihm das stumpfe Ende seines langen Spießes in den Rücken gedrückt. Damit dirigierte er Max in die richtige Richtung und sah ihn drohend an. Max schluckte, und warf einen Blick auf den Boden unter ihm. Noch immer ging er auf dem aufgeweichten Rasen. Er wollte stehen bleiben und sich umsehen, sich in den Arm zwicken und überzeugen, dass er nur träumte. Aber der unerbittliche Druck in seinem Rücken trieb ihn auf schmerzhafte Weise weiter. Max trommelte und bemühte sich, im Gleichschritt mit den Männern zu gehen, die ihren Blick starr nach vorn gerichtet hielten.

„Ein verrückter Traum!“, schoss es ihm durch den Kopf. „Jeden Augenblick wachst Du in einem Motelbett auf und lachst über alles!“

Aber der Traum hatte etwas sehr Realistisches.

2.

Endlos kam Max der Weg über die Hügel und durch die Waldstücke vor. Wie benommen ging er mit den anderen, trommelte mit ihnen, ohne ein Gefühl in den Händen zu haben. Das konnte wirklich nur ein Traum sein, ein dummer, alberner Traum. Er wartete darauf, endlich in einem der typischen Motelzimmer in dem breiten Bett zu erwachen. Ein Blick zu

 

seinem Nachbarn ließ ihn zweifeln. Der Trommler neben ihm war kaum älter als er, hatte ein schmales, blasses Gesicht, in das einige braune Haarsträhnen fielen, und sah sehr realistisch aus. Und wenn Max einen Blick hinter sich warf, konnte er in das grimmige Gesicht des Unteroffiziers sehen, der noch immer in seiner Nähe marschierte.

Nein, das war kein Traum. Das war ein Alptraum.

Jetzt hielten die Fahnenträger, und die Trommler nahmen neben ihm Aufstellung. Zu ihrem gleichmäßigen Takt rückten die Reihen mit den blau uniformierten Soldaten weiter vor, dann hielten auch sie.

Max reckte den Hals, um zu erkennen, was dort vor sich ging. Die Soldaten hatten auf einer lang gestreckten Ebene Halt gemacht, gegenüber befand sich ein Waldrand. Links konnte Max zwischen Bäumen Wasser blinken sehen. Während ihres Marsches hatte sich das trübe Wetter verzogen und die Sonne war zwischen den grauen Wolken durchgebrochen. Es schien doch noch ein schöner Tag zu werden.

Er sah, wie sich die erste Reihe der Soldaten hinkniete und die Gewehre hob, und auch die Reihe dahinter hatte die Gewehre angelegt. Max warf einen irritierten Blick zu seinem Nachbarn, aber der sah teilnahmslos nach vorn und trommelte. Dann kam ein Signal, die Trommeln schwiegen und wurden mit einer raschen Bewegung am Lederkoppel abgekippt.

Max spürte jetzt ein Kribbeln in den Handgelenken, aber das Geschehen vor ihm lenkte ihn ab.

Ein Offizier stand neben den schussbereiten Soldaten. Er hatte den Säbel gezogen und kommandierte mit kurzen, lauten Befehlen.

Im nächsten Augenblick krachte die Musketensalve, und dichter, weißgrauer Rauch hüllte die Soldaten ein. Gleich darauf krachte die zweite Salve, und die Pulverwolke vermischte sich mit der anderen. Dann kam Bewegung in die Reihen der dicht zusammenstehenden Männer. Max sah, wie zwei andere Reihen nach vorn traten, die erste Reihe sich hinkniete und die zweite wieder darüber anlegte.

Die anderen waren hinter die Reihen zurückgetreten und hantierten an ihren schwarzen Munitionstaschen, zogen die länglichen Papierröllchen heraus, bissen die Spitze ab, spuckten das Papier aus und schütteten Pulver in ihre langen Gewehre. Dann kam die Kugel darauf, die mit dem Ladestock tief in den Lauf hinabgestoßen wurde. Noch eine kurze Bewegung mit

dem Gewehr, die Zündpfanne am Schloss schnappte auf, etwas Pulver kam darauf, die Männer waren wieder schussbereit.

Fasziniert hatte Max den Soldaten zugesehen, die scheinbar völlig unbeirrt vom Geschehen um sie herum mit ihren Gewehren hantierten. Die vierte Salve krachte, und erneut setzte sich die Abteilung in Bewegung. Die Soldaten mit jden etzt fertig geladenen Musketen gingen nach vorn, um ihre Waffen anzulegen, die anderen wiederholten die gleichen Handhabungen des Ladevorgangs.

Viel Zeit zum Beobachten blieb Max nicht mehr.

Ein scharfes Kommando riss ihn aus seinem Staunen, die Trommler rückten ihre Instrumente zurecht, und gleich darauf begann erneut das gleichmäßige Schlagen. Die Abteilung rückte über die freie Fläche vor.

Max hatte keine Mühe, den Trommelschlag der anderen aufzunehmen, und es störte ihn auch nicht, bei dem ungewohnten Spiel zu marschieren. Er wunderte sich darüber nicht mehr, denn seine Umgebung fesselte seine Aufmerksamkeit viel stärker.

Die Soldaten gingen mit ausholendem, festem Schritt über das niedrige Gras. Max hätte noch nicht einmal sagen können, ob er Schüsse eines Gegners gehört hatte. Der Pulverqualm breitete sich nach den Salven schnell aus und nahm ihm die Sicht. Es roch unangenehm nach Schwefel, und der Geruch ging ihm nicht aus der Nase, reizte seine Schleimhäute und ließ seine Nase tränen.

‚Das fehlt mir noch, wenn ich jetzt meine Allergie bekomme‘, schoss es ihm durch den Kopf. Er litt seit Jahren an verschiedenen Allergien, ohne jedoch richtigen Heuschnupfen zu bekommen. Im Frühjahr begann es mit den Frühblühern, Haselnuss und Birke. Dann tränten seine Augen und die Nase lief, aber zum Glück nicht sehr ausgeprägt. Es war für ein paar Tage wie eine unangenehme Erkältung, dann war es wieder vorbei. Aber ohne Vorwarnung kam etwas Anderes auf ihn zu. Plötzlich hatte er einen pelzigen Rachen, völlig trocken und verbunden mit Würgereiz. Das konnte nach einem Apfel sein oder nach dem Essen einer Mohrrübe. Schokolade konnte ihn plötzlich zu Niesanfällen reizen, dann wieder aß er mit Genuss eine ganze Tafel auf, ohne auch nur ein Kribbeln in der Nase zu spüren.

Jetzt, mit diesem ungewohnten Pulvergeruch, schien alles gleichzeitig zu kommen. Er spürte nicht nur das Kribbeln in der Nase, sondern auch einen pelzigen Geschmack auf der Zunge. Für einen kurzen Moment dachte er an seine Metallbüchse mit Fisherman‘s Friends,

die in seiner Jacke steckten. Sie waren bei diesen Vorboten immer eine gute Hilfe. Aber seine Jacke trug er nicht mehr, und das vertraute Klackern der Metallbüchse fehlte ihm. Seine Augen tränten, und Max konnte kaum die Richtung erkennen, in der sie marschierten, als er neue Schüsse hörte. Sie klangen weiter weg und schwächer, und sie wurden von den Soldaten neben ihm nicht beantwortet. Gleichmäßig marschierte die ganze Gruppe weiter, die Trommler wirbelten ihre Stöcke, und Max liefen die Tränen über die Wangen.

Dann schien alles vorbei zu sein. Kurze Hornsignale erklangen, die Soldaten stellten sich in lang gezogenen Linien auf, die Trommeln schwiegen.

Max schniefte geräuschvoll und wagte es endlich, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Niemand schien ihn zu beachten, und selbst der blasse Trommler neben ihm sah mit großen Augen nach vorn, wo eben eine kleine Gruppe Soldaten in grünen Uniformen mit roten Aufschlägen herankam.

Die Männer stellten sich abseits von den Reihen der blau uniformierten Soldaten und musterten sie mit etwas belustigtem Blick. Jedenfalls kam es Max so vor, der in der ersten Reihe gleich neben dem Fahnenträger stand und deshalb die Neuankömmlinge gut sehen konnte.

Überhaupt machten sie einen seltsamen Eindruck auf ihn. Sie trugen zwar Uniformen, aber ihre ganze Haltung hatte etwas Nachlässiges. Schon wie sie zu den anderen herüberkamen, war Max aufgefallen. Da war nichts militärisches, Abgehacktes in ihren Bewegungen. Sie waren rasch, aber nicht im Gleichschritt gegangen, und jetzt standen sie in ihrer kleinen Gruppe auf einer Stelle, aber nicht wie die anderen Soldaten in einer Reihe.

Max fiel erneut auf, dass diese Grünröcke kurze Gewehre trugen, die sie jetzt nachlässig geschultert, mit dem Kolben nach oben, am Gewehrriemen festhielten. So etwas hatte er noch bei keinem Soldaten gesehen, und irgendwie war er von diesen Männern fasziniert. Ihre Gesichter waren gebräunt und erinnerten Max an irgendwelche Naturburschen, die er nicht einordnen konnte. Vielleicht an Skilehrer, schoss es ihm durch den Kopf. Im letzten Winter waren zwei Skilehrer aus Österreich in der Skischule im Harz, bei der Max seine Techniken verbessern wollte. Er grinste. Genau solche Typen waren es, sportlich und durchtrainiert, aber sich bewusst ganz cool gebend.

Offensichtlich sprach ein Offizier mit den Grünröcken. Max hatte keine Ahnung, welche Dienstgrade hier vertreten waren. Von den alten Abbildungen, die er für seine Jahresarbeit

zusammengesucht hatte, wusste er lediglich, dass die Offiziere einen Degen oder ein Schwert trugen. Außerdem hatten sie die Rockschöße von ihrem langen Uniformrock nie hinten aufgeschlagen, wie es alle Soldaten trugen.

Jetzt kam der Offizier zu ihnen und gab mit lauter, harter Stimme seine Befehle. Die Soldaten machten kehrt, der Fahnenträger setzte sich in Bewegung, die Trommler folgten ihm, und aus den Augenwinkeln sah Max, wie sich ihnen der ganze Zug anschloss. Sie mussten nicht trommeln und gingen in ruhigem Marsch etwa eine Stunde weiter, bis sie den Fluss erreichten, dessen Wasser er schon durch die Bäume hatte schimmern sehen.