Ideologie, Identität, Repräsentation

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Ideologie, Identität, Repräsentation
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Stuart Hall

Ideologie, Identität, Repräsentation

Ausgewählte Schriften 4

Herausgegeben von Juha Koivisto und Andreas Merkens


Aus dem Englischen von Kristin Carls, Dagmar Engelken, Stefan Howald, Tobias Nagl, Nora Räthzel, Victor Rego-Diaz, Bettina Suppelt, Thomas Weber

Stuart Hall – Ausgewählte Schriften bei Argument:

Ideologie, Kultur, Rassismus (Schriften 1)

Rassismus und kulturelle Identität (Schriften 2)

Cultural Studies (Schriften 3)

Ideologie, Identität, Repräsentation (Schriften 4)

Populismus, Hegemonie, Globalisierung (Schriften 5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der deutschen Fassung vorbehalten

© Argument Verlag 2004

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-854-0

Fünfte Auflage 2016

Inhalt

Vorwort

Stuart Hall ist einer der wichtigsten – wenn nicht der wichtigste – Begründer der Cultural Studies. Unter den linken Projekten gehören diese, wenigstens im englischen Sprachraum, zu den erfolgreicheren. Inzwischen gibt es entsprechende Studienprogramme und Lehrstühle an den Universitäten, und mit dem International Journal of Cultural Studies sowie dem European Journal of Cultural Studies wurden vor einigen Jahren zwei neue Zeitschriften von akademischen Großverlagen lanciert. Die neue internationale Association for Cultural Studies, vergleichbar zur ISA (International Association for Sociology) hat bereits ihr erstes Business Meeting im Rahmen der fünften internationalen Crossroads Konferenz in Illinois (2004) abgehalten. Die Kehrseite dieses Zugewinns an akademischer Anerkennung, so sagen manche linke Kritiker, die sich schon in einer Minderheitsposition innerhalb der Cultural Studies sehen, besteht in der Depolitisierung des Ansatzes: Die Analyse der umkämpften gesellschaftlichen Verhältnisse – auch der eigenen – findet sich zugunsten einer qualitativen Soziologie bzw. einer dekonstruktivistischen Lektüre populärer Texte verdrängt, in der das eingreifend-politische Selbstverständnis der Cultural Studies verloren geht; der Anspruch also, Theorie in wechselseitiger Verbindung zu den Subjekten, Gruppen und Netzwerken der sozialen und kulturellen Emanzipation zu entwickeln (vgl. Barker, 2003). Zudem zeigt sich, dass starker institutioneller Druck und akademische Traditionen, eine Disziplinierung und Formalisierung der eigenen Theoriearbeit bewirken können, deren lähmende Wirkung auch auf eine erfolgreiche intellektuelle Bewegung nicht ausbleibt.

Wie uns freilich nicht nur die Cultural Studies vor Augen führen, die schwere Kunst sich kritisch zu positionieren statt passiv positioniert zu werden (wobei letzteres die selbsttätige ›einfügende Bedrängung‹ nicht ausschließt), ist angesichts einer allgemeinen Verengung von Wissenschaft und Erkenntnis auf ihre Marktgängigkeit, eine notwendige Herausforderung. Hier können Halls theoretische Entwürfe einen entscheidenden Beitrag leisten, steht seine Arbeit doch für eine produktive Unruhe im Denken, die sich immer wieder neuen theoretischen und politischen Fragen stellt, die Grenzen überschreitet und dabei am Anspruch festhält, das unlösbare Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis aufrechtzuerhalten. Eine dialogische Vorgehensweise, die keinen endgültigen Standpunkt des Wissens behauptet, sich dem immer auch »willkürlichen Abschluss« (Hall, 2000, 36) eigener intellektueller Reflektionen bewusst ist, und dennoch darum ringt eine Positionierung zu vollziehen, die auf politisches Handeln zielt, die »immer über ihre Intervention in einer Welt nachdenkt, in der sie etwas verändern, etwas bewirken könnte« (ebenda, 51).

Dieser vierte Band der Ausgewählten Schriften erörtert das Wechselspiel von Ideologie, Identität und Repräsentation. Gibt es etwas Selbstverständlicheres als die eigene Identität? Können wir die Pluralität von Identitäten behaupten? Nachgefragt werden die umkämpften Praktiken und Politiken von Repräsentation, in denen Identifikationen gebildet werden. Ereignisse, Gegenstände und Personen tragen ihre eigenen Bedeutungen nicht auf Schildern geschrieben vor sich her, vielmehr erfahren sie erst durch den Eintritt in den Diskurs eine spezifische Festlegung – innerhalb eines konkurrierenden Systems von Interpretationen – die immer auch auf Selektion basiert, die auf der Hervorhebung und auf dem Ausschluss von Merkmalen aufbaut. Bedeutungen sind daher weder außerhalb von Herrschaftsverhältnissen und dem Spiel der sozialen Kräfte, noch sind sie ein für alle mal festgeschrieben durch die Ökonomie oder die Politik. Allerdings sollten wir mit Hall von »tendenziellen Ausrichtungen« (im vorl. Band, 29) sprechen, die politisch und kulturell aus den materiellen Bedingungen erwachsen, in denen sich gesellschaftliche Gruppen und Klassen ideologisch artikulieren und Repräsentationspraxen der ›Differenz‹ und ›Andersheit‹ hervorbringen.

In seinen Arbeiten widmet sich Stuart Hall wesentlich dem Prozess der konfliktären Herstellung dieser Repräsentationen, den ihnen innewohnenden Machtspielen, die Bedeutungen und Wahrheiten festlegen, die bestimmte Welteinsichten und Identitäten ermöglichen und andere wiederum verschließen. Am Ausgangspunkt dieser Analysen steht eine die Debatten der Cultural Studies anleitende Frage, die erkenntnistheoretisch das Verhältnis zu dem vom französischen Sprachwissenschaftler de Saussure begründeten (Post-)Strukturalismus verhandelt: Wie kann die Analyse der materiellen Praxen und Politiken von Repräsentation, etwa durch rassistische Stereotypisierung, mit dem theoretischen Vermächtnis von de Saussure, der die Sprache als ein System von Zeichen bestimmt, welches auf Differenzen basiert, erfasst werden? Sein Modell hilft uns in den Sozialwissenschaften einerseits essentialistische Lesarten zu überwinden, Identitäten als instabil und beweglich zu verstehen, auf der anderen Seite tendiert eine entsprechende Kritik dazu, Bedeutungspraxen nur von einem linguistischen Standpunkt aus zu durchdenken. Sobald wir beginnen Bezeichnungen im System der Differenz politisch-gesellschaftlich entlang unterschiedlicher ›Werte‹ zu bestimmen, überschreiten wir notwendig den Bereich der Linguistik, wir untergraben damit Saussures grundlegende Dichotomie von langue und parole, die eine solche Analyse der Bedeutungspraxen blockiert. In Derridas philosophischen Erkundungen – oder vielleicht seiner philosophischen ›Ausbeutung‹ – von Saussures zentraler Idee der Differenz, finden wir diese Problematik fortgeschrieben, wenn es darauf ankommt, die Materialität von Bezeichnungen über ihre Einbindung in antagonistische soziale Verhältnisse zu verstehen.

Halls Überlegungen zum Wechselspiel von Ideologie, Identität und Repräsentation, wie sie in verschiedenen Beiträgen, bei unterschiedlicher thematischer Schwerpunktsetzung, im Zeitraum von über zwanzig Jahren entstanden sind, verdichten sich maßgeblich entlang dieser theoretischen Herausforderung. Eine Auswahl dieser Texte, teils schon Klassiker geworden, finden sich in dem vorliegenden Band dokumentiert. Dabei gelingt es Hall durch den konstruktiven Rückgriff auf Theoretiker wie Gramsci, Volosinov, Althusser, Pecheaux und Foucault, identitätsstiftende Repräsentationspraxen als umkämpft und herrschaftsmächtig durchsetzt zu theoretisieren, analytische Werkzeuge zu entwickeln, um die ideologischen Prozesse, Kämpfe und Konjunkturen der kapitalistischen Gegenwart zu kritisieren. Wider den Fallstricken einer Identitätspolitik, die sich in der Vertretung ›ihrer‹ spezifischen Interessen verliert, entwickelt er in den Jahren ein kreatives Denken, das unterschiedliche Logiken repräsentiert, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang, das gegliederte Ganze, aufzugeben.

Ein besonderer Dank gilt schließlich den Übersetzerinnen und Übersetzern, ohne deren unentgeltliche und zeitaufwendige Mitarbeit dieses Buch nicht hätte realisiert werden können,

Tampere und Hamburg, August 2004

Die Herausgeber

Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr

1. Das Problem der Ideologie im Marxismus heute

In den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten hat die marxistische Theorie eine bemerkenswerte, aber einseitige und ungleichmäßige Wiederbelebung erfahren. Einerseits wurde sie erneut zum hauptsächlichen Gegenpol zur ›bürgerlichen‹ Gesellschaftstheorie. Andererseits sind viele junge Intellektuelle durch diese Wiederbelebung hindurch gegangen und nach einer hitzigen und raschen Lehrzeit auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Sie haben mit dem Marxismus ›ihre Rechnung beglichen‹ und sind aufgebrochen zu neuen intellektuellen Feldern – aber nicht ganz. Der Post-Marxismus bleibt eine unserer größten und blühendsten zeitgenössischen Schulen. Die Post-Marxisten verwenden marxistische Konzepte, wobei sie ständig deren Unangemessenheit demonstrieren. Tatsächlich scheinen sie noch immer auf den Schultern gerade derjenigen Theorien zu stehen, die sie soeben endgültig zerstört haben. Hätte es den Marxismus nicht gegeben, der ›Post-Marxismus‹ hätte ihn erfinden müssen, damit seine weitere ›Dekonstruktion‹ den ›Dekonstrukteuren‹ fernerhin etwas zu tun gibt. Der Marxismus erhält damit die kuriose Eigenschaft eines Lebens-nach-dem-Tode. Er wird ständig ›überwunden‹ und ›bewahrt‹. Dieser Vorgang lässt sich von nirgendwo lehrreicher beobachten als vom Standpunkt des Ideologieproblems.

 

Ich beabsichtige weder, den genauen Windungen und Wendungen dieser neueren Auseinandersetzungen nachzuspüren, noch versuche ich, die sie begleitenden verschlungenen Theoriebildungen zu verfolgen. Stattdessen möchte ich die Debatten über Ideologie in den weiteren Kontext der marxistischen Theorie als ganzer stellen. Ich möchte sie auch als ein allgemeines Problem darstellen, da es sowohl ein Problem der Theorie als auch ein politisches und strategisches Problem ist. Ich möchte die schlagendsten Schwächen und Grenzen in den Formulierungen des klassischen Marxismus über Ideologie ausmachen und einschätzen, was erreicht wurde, was vergessen werden kann und was im Lichte der Kritiken festgehalten – und vielleicht umgedacht – werden muss.

Zunächst aber: warum hielt das Ideologieproblem einen so hervorragenden Platz innerhalb der marxistischen Diskussion der letzten Jahre besetzt? Perry Anderson beobachtete in seiner Bestandsaufnahme der westeuropäischen marxistischen Intellektuellenszene (Anderson 1978) die intensive Beschäftigung dieser Kreise mit Problemen, die sich auf Philosophie, Epistemologie, Ideologie und auf die Überbauten beziehen. Er sah dann eindeutig eine Deformation in der Entwicklung marxistischen Denkens. Der Vorrang dieser Fragen im Marxismus reflektiere die allgemeine Isolation westeuropäischer marxistischer Intellektueller von den Erfordernissen politischer Massenkämpfe und -organisationen; die Abgetrenntheit ihrer »extrem schwierigen Sprache«, die »niemals durch eine direkte oder aktive Beziehung zu einem proletarischen Publikum kontrolliert« wurde (ebd., 83); ihre Distanz zur popularen Praxis und ihre fortdauernde Unterstellung unter die Herrschaft bürgerlichen Denkens. Dies resultierte, so Anderson, in einer allgemeinen Abwendung von den klassischen Themen und Problemen des reifen Marx und des Marxismus. Die übermäßige Beschäftigung mit dem Ideologischen könne als beredtes Zeichen dafür genommen werden.

Vieles spricht für dieses Argument – was diejenigen bezeugen werden, die die theoretizistische Flutwelle im ›westlichen Marxismus‹ der letzten Jahre überlebt haben. Die Akzentsetzungen des ›westlichen Marxismus‹ mögen wohl die Erklärung sein für die Art und Weise, in der das Ideologieproblem konstruiert, wie die Debatte geführt und bis zu welchem Grad es in die Sphären spekulativer Theorie abstrahiert wurde. Dies darf aber nicht beinhalten, dass die marxistische Theorie, trotz der vom ›westlichen Marxismus‹ produzierten Verzerrungen, getrost auf ihrem festgelegten Weg fortschreitend und der einmal aufgestellten Tagesordnung folgend, das Ideologieproblem an seinem untergeordneten, zweitrangigen Platz belässt. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems hat einen objektiveren Grund. Erstens in den realen Entwicklungen der Mittel, mit denen das Massenbewusstsein geformt und transformiert wird: im massiven Anwachsen der ›Kulturindustrien‹. Zweitens in der beunruhigenden Frage der ›Zustimmung‹ der Mehrzahl der Arbeiterklasse zum System der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften in Europa und damit – entgegen aller Erwartung – deren teilweiser Stabilisierung. Selbstverständlich wird der ›Konsensus‹ nicht durch die Mechanismen der Ideologie allein aufrechterhalten. Beides kann aber nicht getrennt werden. Das Sichtbarwerden des Ideologieproblems spiegelt auch wirkliche theoretische Schwächen der ursprünglichen marxistischen Formulierungen über Ideologie wider. Und es wirft Licht auf einige der entscheidendsten Fragen der politischen Strategie und der Politik der sozialistischen Bewegung in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.

Beim kurzen Überblick über einige dieser Fragen möchte ich nicht so sehr die Theorie als vielmehr das Problem der Ideologie in den Vordergrund stellen. Das Problem der Ideologie ist, innerhalb einer materialistischen Theorie zu erklären, wie gesellschaftliche Ideen entstehen. Wir müssen verstehen, welche Rolle sie in einer bestimmten Gesellschaftsformation spielen, um den Kampf für die Veränderung der Gesellschaft zu orientieren und den Weg zu bahnen für eine sozialistische Transformation. Unter Ideologie verstehe ich die mentalen Rahmen – die Sprachen, Konzepte, Kategorien, Denkbilder und Vorstellungssysteme –, die verschiedene Klassen und soziale Gruppen entwickeln, um der Funktionsweise der Gesellschaft einen Sinn zu geben, sie zu definieren, auszugestalten, verständlich zu machen.

Das Ideologieproblem betrifft deshalb die Art und Weise, in der verschiedenartige Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und dadurch zur ›materiellen Gewalt‹ werden. In dieser mehr politischen Perspektive hilft uns die Ideologietheorie, zu analysieren, wie ein bestimmter Set von Ideen die gesellschaftliche Denkweise eines historischen Blocks – in Gramscis Sinne – dominiert und damit dazu beiträgt, solch einen Block von innen her zu vereinheitlichen und seine Herrschaft und Führerschaft über die Gesellschaft als ganze aufrecht zu erhalten. Es hat insbesondere etwas mit den Konzepten und Sprachen des praktischen Denkens zu tun, das eine bestimmte Form von Macht und Herrschaft stabilisiert oder das die Volksmassen an ihren untergeordneten Platz in der Gesellschaftsformation anpasst und sie mit ihm versöhnt. Es hat auch zu tun mit den Prozessen, durch die neue Bewusstseinsformen, neue Entwürfe der Welt entstehen, die die Volksmassen zur historischen Tat gegen das herrschende System bewegen. Bei einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Kämpfen stehen diese Fragen auf dem Spiel. Sie müssen geklärt werden, um das Terrain des ideologischen Kampfes besser zu verstehen und zu meistern. Dazu brauchen wir nicht nur eine Theorie, sondern eine Theorie, die der Komplexität dessen angemessen ist, was wir zu erklären versuchen.

In den Werken von Marx und Engels ist eine solche Theorie nicht schon fix und fertig verpackt. Marx entwickelte keine allgemeine Erklärung der Funktionsweise gesellschaftlicher Ideen, die vergleichbar wäre mit seinem historischtheoretischen Werk über die ökonomischen Formen und Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise. Seine Anmerkungen auf diesem Gebiet zielten nie auf einen ›gesetzmäßigen‹ Status. Missversteht man sie als Aussagen von jener mehr theoretisch exakten Art, landet man dort, wo das Problem der Ideologie einst für den Marxismus begann. Tatsächlich erfolgte seine Theoretisierung dieses Gegenstandes viel mehr ad hoc. Folglich unterliegt der Marxsche Gebrauch des Ausdrucks ›Ideologie‹ starken Schwankungen. Heutzutage hat er – wie man an der oben von mir vorgeschlagenen Definition sehen kann – einen viel weiteren, mehr deskriptiven und weniger systematischen Bezug als in den klassischen marxistischen Texten. Wir benutzen ihn heute, um auf alle organisierten Formen gesellschaftlichen Denkens zu verweisen. Diese Verwendungsweise lässt den Grad und die Natur der ›Verzerrungen‹ dieses Denkens offen. Mit Sicherheit verweist er mehr auf den Bereich des praktischen Denkens und Urteilens (auf die Form also, in der die meisten Ideen die Köpfe der Massen ergreifen und sie zur Tat bewegen können) als einfach auf gründlich ausgearbeitete und in sich konsistente ›Denksysteme‹.

Wir meinen damit sowohl das praktische als auch theoretische Wissen, das die Leute dazu befähigt, sich die Gesellschaft ›auszugestalten‹, und in dessen Kategorien und Diskursen wir unsere objektive Positionierung in den gesellschaftlichen Verhältnissen ›ausleben‹ und ›erfahren‹.

2. Marx’ Ideologiemodell und seine Kritiker: Dekonstruktion‹ oder Rekonstruktion

Marx hat den Ausdruck ›Ideologie‹ praktisch bei vielen Gelegenheiten so verwendet. Seine Verwendung in dieser Bedeutung ist also tatsächlich durch sein Werk sanktioniert. So sprach er in einer berühmten Passage zum Beispiel von den »ideologischen Formen, worin sich die Menschen … [eines] Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten« (MEW 13, 9). Im Kapital spricht er häufig in Nebenbemerkungen das »gewöhnliche Bewusstsein« des kapitalistischen Unternehmers oder die Denkformen des kapitalistischen »Alltagslebens« an. Er meint damit die Formen spontanen Denkens, in denen der Kapitalist sich die Funktionen des kapitalistischen Systems vorstellt und seine praktischen Verhältnisse dazu ›lebt‹ (d.h. wirklich erlebt). In der Tat gibt es schon hier Anhaltspunkte für die späteren Verwendungsweisen des Ausdrucks, von denen viele wohl nicht glauben würden, dass sie durch Marx’ eigenes Werk gerechtfertigt sind. Die spontanen Formen des praktischen bürgerlichen Bewusstseins zum Beispiel sind real, aber sie können keine adäquaten Gedankenformen sein, da es Aspekte des kapitalistischen Systems gibt – zum Beispiel die Produktion des Mehrwerts –, die mit den herkömmlichen Kategorien einfach nicht gedacht oder erklärt werden können. Andererseits können sie auch nicht einfach falsch sein, da diese praktischen Bürger anscheinend durchaus in der Lage sind, ohne die Hilfe eines anspruchsvolleren oder ›richtigeren‹ Verständnisses dessen, worin sie sich bewegen, Profite zu machen, das System zu bedienen, seine Verhältnisse aufrechtzuerhalten, die Arbeit auszubeuten.

Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Man kann aus Marx’ Worten durchaus ableiten, dass derselbe Set von Verhältnissen – der kapitalistische Kreislauf – auf mehrere, verschiedene Arten dargestellt oder (wie die moderne Schule sagen würde) innerhalb verschiedener Diskurssysteme repräsentiert werden kann. Da gibt es – um nur drei zu nennen – den Diskurs des ›bürgerlichen common sense‹, die anspruchsvollen Theorien der klassischen politischen Ökonomen wie Ricardo, von dem Marx so viel gelernt hat, und natürlich Marx’ eigenen theoretischen Diskurs, den Diskurs des Kapital selbst.

Sobald wir uns von einer religiösen und doktrinären Marx-Lektüre lösen, sind die Verbindungswege zwischen vielen der klassischen Verwendungsweisen des Ideologiebegriffs und seinen neueren Ausarbeitungen nicht mehr so geschlossen, wie es uns gegenwärtige theoretizistische Polemiken glauben machen wollen. Tatsache ist jedoch, dass Marx den Ausdruck ›Ideologie‹ meistens verwendete, um speziell auf die Äußerungsformen bürgerlichen Denkens zu referieren, vor allem auf dessen negative und verzerrte Merkmale. Er neigte auch dazu – zum Beispiel in der Deutschen Ideologie, dem gemeinsamen Werk von Marx und Engels –, diesen Ausdruck im Kampf gegen seiner Auffassung nach unrichtige Ideen zu verwenden – oft gegen gut unterrichtete und systematische Ideen (die wir heute ›theoretische Ideologien‹ oder, Gramsci folgend, ›Philosophien‹ nennen, im Gegensatz zu den Kategorien des praktischen Bewusstseins oder zu dem, was Gramsci den ›Alltagsverstand‹ nannte). Marx gebrauchte den Ausdruck als eine kritische Waffe gegen die spekulativen Mysterien des Hegelianismus, gegen die Religion und die Religionskritik, gegen die idealistische Philosophie und die vulgären und degenerierten Varianten der politischen Ökonomie. In Die Deutsche Ideologie und Das Elend der Philosophie bekämpften Marx und Engels bürgerliche Ideen. Sie fechten die antimaterialistische Philosophie an, die die Herrschaft solcher Ideen untermauerte. Um ihre Polemik zuzuspitzen, vereinfachten sie viele ihrer Formulierungen. Unsere nachfolgenden Probleme entstanden teilweise dadurch, dass diese polemischen Umkehrungen als Grundlage für die Arbeit einer allgemeinen positiven Theoriebildung betrachtet wurden.

Innerhalb dieses breiten Rahmens der Verwendungsweisen des Ausdrucks ›Ideologie‹ gelangte Marx zu bestimmten vollständiger ausgearbeiteten Thesen, die dann die theoretische Basis der Theorie in ihrer so genannten klassischen Form bildeten. An erster Stelle die materialistische Prämisse: Ideen entstehen aus den materiellen Bedingungen und Umständen, in denen sie hervorgebracht werden, und sie spiegeln diese wider. Sie drücken gesellschaftliche Verhältnisse und deren Widersprüche im Denken aus. Besonders die Vorstellung, dass die Ideen den Motor der Geschichte liefern und unabhängig von den materiellen Verhältnissen sich weiterentwickeln und ihre eigenen autonomen Effekte erzeugen, wird als das Spekulative und Illusorische in der bürgerlichen Ideologie dargestellt. Zweitens die These von der Determiniertheit: Ideen sind lediglich die abhängigen Effekte der letztlich determinierenden Ebene der Gesellschaftsformation – des Ökonomischen in letzter Instanz –, so dass Veränderungen des Letzteren sich früher oder später als entsprechende Modifikationen der Ersteren bemerkbar machen. Drittens die festen Entsprechungen zwischen der Herrschaft in der sozioökonomischen Sphäre und im Ideologischen: die ›herrschenden Ideen‹ sind die Ideen der ›herrschenden Klasse‹ – die Klassenlage der Letzteren liefert dabei die Kopplung und Garantie der Korrespondenz mit den Ersteren.

 

Die Kritik an der klassischen Theorie zielte auf genau diese Aussagen. Zu sagen, Ideen sind ›bloße Reflexe‹, begründet zwar ihren Materialismus, belässt sie aber ohne spezifische Wirksamkeit in einem Bereich reiner Abhängigkeit. Sagt man, dass Ideen ›in letzter Instanz‹ durch das Ökonomische determiniert sind, begibt man sich auf den Weg des ökonomischen Reduktionismus. Ideen können letztlich auf das Wesen ihrer Wahrheit reduziert werden – ihren ökonomischen Gehalt. Der einzige Halt vor diesem letztendlichen Reduktionismus ergibt sich durch den Versuch, ihn etwas zu verzögern und sich durch eine wachsende Zahl von ›Vermittlungen‹ einen Manövrierraum zu erhalten. Zu sagen, dass die Herrschaft einer Klasse die Garantie der Vorherrschaft bestimmter Ideen ist, heißt, sie dieser Klasse als ausschließliches Eigentum zuzuschreiben und einzelne Bewusstseinsformen als klassenspezifisch zu definieren.

Es sollte festgehalten werden, dass diese Kritiken, obgleich sie sich direkt auf Formulierungen beziehen, die das Ideologieproblem betreffen, in der Tat den Gehalt der allgemeineren, umfassenderen Kritiken rekapitulieren, die gegen den klassischen Marxismus selbst vorgebracht werden seinen rigiden strukturellen Determinismus, seine zwei Varianten des Reduktionismus – den Ökonomismus und Klassenreduktionismus –, seine Art, die Gesellschaftsformation selbst zu begreifen. Marx’ Ideologie-Modell wurde kritisiert, weil es die Gesellschaftsformation nicht als eine bestimmte komplexe Formation begreife, die zusammengesetzt ist aus verschiedenen Praxen, sondern als eine einfache (oder, wie es Althusser in Für Marx und Das Kapital lesen nannte, als eine ›expressive‹) Struktur. Althusser meinte damit, dass eine Praxis – ›das Ökonomische‹ – unmittelbar alle anderen Praxen determiniert und jede Wirkung einfach und gleichzeitig auf allen anderen Ebenen entsprechend reproduziert (d.h. ›ausgedrückt‹) wird.

Wer die Literatur und die Debatten kennt, wird leicht die Hauptlinien der von verschiedenen Seiten im einzelnen vorgebrachten Revisionen dieser Positionen ausmachen. Sie setzen ein mit Engels’ Kommentaren über das, »was Marx gemeint hat« (besonders in den Altersbriefen), mit der Verneinung, dass es solch einfache Entsprechungen gibt oder dass die ›Überbauten‹ gänzlich ohne eigene spezifische Wirkungen sind. Die Bemerkungen von Engels sind ungeheuer fruchtbar, anregend und produktiv. Sie liefern zwar nicht die Lösung, aber den Ausgangspunkt für jede ernsthafte Reflexion des Ideologieproblems. Die Vereinfachungen entstanden seiner Auffassung nach dadurch, dass Marx sich im Kampf gegen den spekulativen Idealismus seiner Zeit befand. Es waren einseitige Verzerrungen, die notwendigen Übertreibungen der Polemik. Die Kritiken werden weitergeführt durch die groß aufgemachten Bemühungen von marxistischen Theoretikern wie Lukács, die – polemisch – an der strengen Orthodoxie einer bestimmten ›hegelianischen‹ Marx-Lektüre festhielten, während sie praktisch eine ganze Reihe von ›vermittelten und vermittelnden Faktoren‹ einführen, die den Hang zum Ökonomismus und Reduktionismus, wie ihn einige originale Formulierungen von Marx beinhalten, abschwächen und verschieben. Dazu gehört – aber aus einer anderen Richtung kommend – Gramsci, dessen Beitrag weiter unten diskutiert wird. Sie gipfeln in den raffinierten theoretischen Eingriffen Althussers und der Althusserianer, die gegen den Ökonomismus und Klassenreduktionismus und den Ansatz der ›expressiven Totalität‹ kämpfen.

Althussers Revisionen (in Für Marx und insbesondere in dem Aufsatz Ideologie und Ideologische Staatsapparate) haben eine entschiedene Abwendung von dem Ansatz, Ideologie als ›verzerrte Ideen‹ und ›falsches Bewusstsein‹ zu denken, gefördert. Sie haben den Weg zu einer stärker linguistischen oder ›diskursiven‹ Ideologiekonzeption geöffnet. Sie haben die gesamte vernachlässigte Fragestellung auf die Tagesordnung gesetzt, wie Ideologie verinnerlicht wird: Wie kommen wir dazu, ›spontan‹ innerhalb der Grenzen der Denkkategorien zu sprechen, die außerhalb von uns existieren und die, genauer gesagt, uns denken? (Das ist das Problem der so genannten Anrufung der Subjekte im Zentrum des ideologischen Diskurses. In der Folge hat dies dazu geführt, in den Marxismus psychoanalytische Interpretationen der Frage einzubringen, wie Individuen in die ideologischen Kategorien der Sprache überhaupt eintreten.) Indem er (z.B. in Ideologie und Ideologische Staatsapparate) an der Funktion der Ideologie für die Reproduktion der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und (in Elemente der Selbstkritik) an dem metaphorischen Nutzen der Basis-Überbau-Metapher festhielt, versuchte Althusser noch einmal so etwas wie eine letzte Umgruppierung auf dem klassischen marxistischen Terrain.

Seine erste Revision aber war zu ›funktionalistisch‹. Wenn es die Funktion der Ideologie ist, die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse gemäß den ›Anforderungen‹ des Systems zu ›reproduzieren‹, wie erklärt man dann subversive Ideen oder ideologischen Kampf? Und die zweite war zu ›orthodox‹. Althusser selbst war es, der die ›Basis/Überbau‹-Metapher so gründlich verschoben hatte. Tatsächlich waren die Türen, die er öffnete, genau die Ausgänge, durch die viele die Problematik der klassischen marxistischen Ideologietheorie insgesamt verließen. Sie gaben nicht nur den spezifischen Ansatz von Marx in der Deutschen Ideologie auf, »herrschende Klasse« und »herrschende Ideen« zu koppeln, sondern auch die Beschäftigung mit der Klassenstrukturierung der Ideologie und deren Rolle für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Hegemonie.

Diskurstheorien und psychoanalytische Theorien, die ursprünglich als theoretische Stützen der kritischen Arbeit der Erneuerung und Weiterentwicklung der Theorie gedacht waren, lieferten stattdessen Kategorien, die solche des früheren Paradigmas ersetzten. Auf diese Weise wurden die wirklichen Schwächen und Lücken in der ›objektiven‹ Intention der marxistischen Theorie bei der Frage der Bewusstseinsmodalitäten und der ›Subjektion‹ der Ideologien, auf die Althussers Verwendung der Ausdrücke »Anrufung« (von Freud entlehnt) und »Positionierung« (von Lacan entlehnt) zielen, selbst zum ausschließlichen Gegenstand der Untersuchung. Das einzige Problem der Ideologie war jetzt, wie ideologische Subjekte durch die psychoanalytischen Prozesse geformt werden. Die theoretischen Verbindungsstränge waren damit gelöst. Dies ist der langsame Niedergang der ›revisionistischen‹ Bearbeitung der Ideologie, der schließlich (bei Foucault) mit der Abschaffung der Kategorie ›Ideologie‹ überhaupt endet. Dennoch bestehen diese hochgeistigen Theoretiker – als wären sie von Marx’ Geist verfolgt, der immer noch in der theoretischen Maschinerie herumspukt – aus ziemlich obskuren Gründen weiterhin darauf, dass ihre Theorien ›wirklich‹ materialistisch, politisch, historisch usw. sind.

Ich habe diese Geschichte in stark verkürzter Form rekapituliert, da ich nicht beabsichtige, mich im Detail mit ihren Argumenten und Gegenargumenten zu beschäftigen. Stattdessen möchte ich ihren Faden aufgreifen und ihre Stärke und Überzeugungskraft insofern anerkennen, als sie zumindest die klassischen Aussagen über Ideologie substanziell verändert haben. Angesichts dessen möchte ich einige der früheren Marxschen Formulierungen erneut untersuchen und überlegen, ob sie im Lichte der vorgebrachten Kritiken um- und ausgebaut werden können – wozu die meisten guten Theorien imstande sein sollten – ohne dabei einige ihrer wesentlichen Eigenschaften und Einsichten (die man gewöhnlich den ›rationalen Kern‹ nennt) zu verlieren. Grob gesagt: ich mache das, weil ich – wie ich zu zeigen hoffe – in vielem die Stärke der vorgebrachten Kritiken anerkenne. Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass sie jede nützliche Einsicht, jeden wesentlichen Ansatzpunkt in einer materialistischen Ideologietheorie aufheben. Wenn, dem modischen Kanon folgend, im Lichte der vernichtend vorgebrachten, klugen und überzeugenden Kritiken, nichts weiter übrigbleibt, als die Arbeit einer fortwährenden ›Dekonstruktion‹, dann ist dieser Essay einer kleinen, bescheidenen ›Rekonstruktion‹ gewidmet – ohne, wie ich hoffe, durch die rituelle Orthodoxie allzu sehr entstellt zu sein.