Ideologie, Identität, Repräsentation

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4. ›Stellungskriege‹: Klassen, Sprache und hegemonialer Kampf

Ich glaube, dass eine ähnliche Art der ›Re-Lektüre‹ vorgenommen werden kann bei einem anderen Set von Aussagen über Ideologie, die in den letzten Jahren heftig umstritten waren: nämlich die Klassendeterminiertheit von Ideen und die direkten Entsprechungen zwischen ›herrschenden Ideen‹ und ›herrschenden Klassen‹. Laclau hat definitiv die Unhaltbarkeit der Aussage gezeigt, dass Klassen als solche die Subjekte fest zugeschriebener Klassenideologien sind (Laclau 1981). Er hat auch die Aussage demontiert, dass bestimmte Ideen und Begriffe ausschließlich zu einer bestimmten Klasse ›gehören‹. Er demonstriert sehr eindrucksvoll, dass keine Gesellschaftsformation diesem Bild der zugeschriebenen Klassenideologien entspricht. Er weist überzeugend nach, warum die Vorstellung, dass besondere Ideen dauerhaft an eine besondere Klasse gebunden sind, dem widerspricht, was wir heute über die tatsächliche Natur der Sprache und des Diskurses wissen. Ideen und Begriffe treten weder in der Sprache noch im Denken in einer solchen vereinzelten, isolierten Weise auf, die Inhalt und Referenz unveränderlich fixiert. Sprache ist im weitesten Sinne der Träger des praktischen, kalkulierenden Denkens und des Bewusstseins, aufgrund der Art und Weise, wie bestimmte Bedeutungen und Gegenstandsbezüge historisch verfestigt wurden. Ihre zwingende Kraft aber beruht auf den ›Logiken‹, die eine Aussage mit einer anderen in einer Kette zusammenhängender Bedeutungen verbinden, dort, wo die sozialen Konnotationen und die historische Bedeutung sich verdichten und zueinander in Resonanz treten. Zudem sind diese Ketten niemals dauerhaft verfestigt, weder in ihren internen Bedeutungssystemen noch in ihren Beziehungen zu den gesellschaftlichen Klassen und Gruppen, zu denen sie ›gehören‹. Andernfalls wäre der Begriff des ideologischen Kampfes und die Bewusstseinsveränderung – zentrale Fragen für die Politik jedes marxistischen Projekts – leerer Schein, der Tanz toter rhetorischer Figuren.

Gerade weil die Sprache, das Medium des Denkens und der ideologischen Berechnung, »mehrfach akzentuiert« ist, wie Volosinov sagt, ist das ideologische Feld immer ein Feld von sich überschneidenden Akzenten und der Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen:

»Denn auch die verschiedenen Klassen benutzen ein und dieselbe Sprache. Infolgedessen überschneiden sich in jedem ideologischen Zeichen unterschiedlich orientierte Akzente. Das Zeichen wird zur Arena des Klassenkampfes.(…) Ein Zeichen, das aus der Spannung des sozialen Kampfes ausgesondert wird und sich sozusagen außerhalb des Klassenkampfes befindet, muss notwendigerweise verkümmern, zur Allegorie degenerieren und zum Objekt nicht eines lebendigen Verständnisses, sondern zur Philologie werden.« (Volosinov 1975, 71f.)

Dieser Ansatz ersetzt die Vorstellung fester ideologischer Bedeutungen und den Klassen zugeschriebener Ideologien durch die Begriffe der ideologischen Kampffelder und die Aufgabe der ideologischen Transformation. Die allgemeine Bewegung in diese Richtung, weg von einer abstrakten, allgemeinen Ideologietheorie, hin zur konkreten Analyse, wie Ideen in bestimmten historischen Situationen »die Menschenmassen [›organisieren‹, und das Terrain] bilden …, auf dem die Menschen sich bewegen, Bewusstsein von ihrer Stellung erwerben, kämpfen usw.«, gibt dem Werk Gramscis – von dem dieses Zitat stammt (Gramsci, 1991ff, Bd. 4, Heft 7, 876) – seine zukunftsträchtige Bedeutung in der Entwicklung marxistischen Denkens des Ideologischen.

Eine der Konsequenzen dieser Art von theoretischer Revisionsarbeit lag häufig darin, das Problem der Klassenstrukturierung der Ideologie und der Art und Weise, in der Ideologie in die gesellschaftlichen Kämpfe eingreift, insgesamt zu beseitigen. Diese Herangehensweise ersetzt häufig die inadäquaten Vorstellungen von den Klassen en bloc zugeschriebenen Ideologien durch eine ebenso unbefriedigende ›diskursive‹ Vorstellung, die das völlig freie Fließen aller ideologischen Elemente und Diskurse beinhaltet. Das Bild von großen, unbeweglichen Klassenbatallionen auf dem Kampffeld, mit dem ihnen zugeschriebenen ideologischen Gepäck und ihren ideologischen Nummernschildern auf dem Rücken, wie es Poulantzas einmal gezeichnet hat (Poulantzas 1974, 204), wird hier ersetzt durch die Unendlichkeit subtiler Variationen, durch welche die Elemente eines Diskurses scheinbar spontan untereinander kombiniert und rekombiniert werden, ohne irgendwelche anderen materiellen Zwänge als die, die durch die diskursiven Operationen selbst geliefert werden.

Nun ist es völlig richtig, dass der Begriff ›Demokratie‹ keine vollständig fixierte Bedeutung hat, die ausschließlich dem Diskurs der bürgerlichen Formen politischer Repräsentation zugeschrieben werden kann. ›Demokratie‹ im Diskurs des ›Freien Westens‹ trägt nicht dieselbe Bedeutung, als wenn wir von ›popular-demokratischem‹ Kampf oder von der Vertiefung des demokratischen Gehalts im politischen Leben sprechen. Wir können nicht zulassen, dass der Ausdruck vollständig vom Diskurs der Rechten entwendet wird. Wir müssen stattdessen ein strategisches Ringen um den Begriff selbst entwickeln. Selbstverständlich ist dies keine rein ›diskursive‹ Operation. Machtvolle Symbole und Slogans dieser Art, die politisch stark aufgeladen sind, pendeln nicht bloß in der Sprache oder in der ideologischen Repräsentation von einer Seite zur anderen. Die Enteignung des Begriffs muss bekämpft werden durch die Entwicklung einer Reihe von Polemiken in der Durchführung besonderer Formen des ideologischen Kampfes: Es geht darum, eine Bedeutung des Begriffs aus dem Bereich des öffentlichen Bewusstseins herauszulösen und sie in die Logik eines anderen politischen Diskurses zu verpflanzen. Gramsci hat gerade gezeigt, dass der ideologische Kampf nicht so vor sich geht, dass die ganze, integrale Denkweise einer Klasse durch ein anderes voll ausgebildetes Ideensystem verdrängt wird:

»Worauf es ankommt, ist die Kritik, der ein solcher ideologischer Komplex von den ersten Vertretern der neuen Geschichtsepoche unterzogen wird: durch diese Kritik ergibt sich ein Prozess der Unterscheidung und der Veränderung im relativen Gewicht, das die Elemente der alten Ideologien besaßen: was zweitrangig und untergeordnet oder auch beiläufig war, wird als hauptsächlich aufgenommen, wird zum Kern eines neuen ideologischen und doktrinalen Komplexes. Der alte Kollektivwille zerfällt in seine widersprüchlichen Elemente, weil die untergeordneten dieser Elemente sich gesellschaftlich entwickeln usw.« (Gramsci, 1991ff, Bd. 5, Heft 8, 1051)

Kurz: Diese Konzeption des ideologischen Kampfes ist die eines ›Stellungskrieges‹. Sie bedeutet auch, die verschiedenen ›Demokratie‹-Konzepte innerhalb einer ganzen Kette assoziierter Ideen zu artikulieren. Und das heißt, diesen Prozess der ideologischen De-Konstruktion und Re-Konstruktion mit einer Reihe organisierter politischer Positionen und mit einer bestimmten Anordnung sozialer Kräfte zu artikulieren. Ideologien werden nicht deshalb als eine materielle Kraft wirksam, weil sie den Bedürfnissen voll ausgebildeter gesellschaftlicher Klassen entspringen. Aber auch das Gegenteil ist wahr – obgleich es das Verhältnis zwischen Ideen und gesellschaftlichen Kräften umgekehrt anordnet: Keine ideologische Konzeption kann jemals materiell wirksam werden, sofern und solange sie nicht artikuliert werden kann mit dem Feld der politischen und gesellschaftlichen Kräfte und den Kämpfen zwischen den verschiedenen Kräften.

Es ist sicherlich nicht notwendigerweise eine Form des Vulgärmaterialismus, wenn wir sagen, dass Ideen – auch wenn wir sie nicht in bestimmten festen Kombinationen der Klassenlage zuschreiben können – tatsächlich aus den materiellen Bedingungen entstehen, in denen die gesellschaftlichen Gruppen und Klassen existieren, und diese widerspiegeln können. In diesem Sinne – das heißt historisch – kann es wohl bestimmte tendenzielle Ausrichtungen geben, zum Beispiel zwischen denen, die zu den Prozessen der modernen kapitalistischen Entwicklung in einem ›Krämerladen‹-Verhältnis stehen, und ihrer Neigung, sich vorzustellen, dass die ganze fortgeschrittene kapitalistische Ökonomie nach Art eines ›Krämerladens‹ begriffen werden kann (vgl. Hall 1982, 118). Ich glaube, dies meinte Marx im Achtzehnten Brumaire, als er sagte, es sei nicht unbedingt notwendig, dass die Leute ihr Geld tatsächlich als Mitglieder des Kleinbürgertums verdienen, damit sie kleinbürgerliche Ideen anziehend finden. Nichtsdestoweniger legte er nahe, dass es eine Verwandtschaft oder gleiche Tendenz gibt zwischen der objektiven gesellschaftlichen Lage dieser Klassenfraktionen und den Schranken und Horizonten des Denkens, zu dem sie spontan hingezogen werden (vgl. MEW 8, 142). Das war ein Urteil über die charakteristischen Denkformen, die idealtypisch bestimmten Positionen in der Gesellschaftsstruktur entsprechen, aber bestimmt keine einfache Gleichsetzung zwischen Klassenpositionen und Ideen in der tatsächlichen historischen Realität. Das Entscheidende bei den historischen Tendenzbeziehungen ist, dass nichts unvermeidlich, notwendig oder für immer festgelegt ist. Die tendenziellen Linien der Kräfte definieren lediglich die Gegebenheit des historischen Terrains.

Sie zeigen an, wie das Terrain historisch strukturiert worden ist. Es ist also durchaus möglich, dem Begriff der ›Nation‹ eine fortschrittliche Bedeutung und Konnotation zu geben, die »Schaffung einen popularnationalen Kollektivwillens« [anzustreben], wie Gramsci ausführte (Gramsci, 1991ff, Bd.7, 1539). In einer Gesellschaft wie Großbritannien aber ist der Begriff der Nation bis heute konsistent artikuliert mit der Rechten. Vorstellungen von ›nationaler Identität‹ und ›nationaler Größe‹ sind eng verbunden mit imperialer Vorherrschaft, gefärbt mit rassistischen Konnotationen und untermauert durch eine vierhundertjährige Kolonisationsgeschichte, Weltmarktbeherrschung und weltweite Schicksalsmacht über eingeborene Völker. Es ist deshalb äußerst schwierig, der Vorstellung von ›Britannien‹ eine gesellschaftlich radikale oder demokratische Referenz zu geben. Diese Assoziationen sind nicht für alle Zeit gegeben. Aber sie sind schwer aufzubrechen, da das ideologische Terrain dieser besonderen Gesellschaftsformation so machtvoll durch ihre Vorgeschichte in dieser Weise strukturiert wurde. Diese historischen Zusammenhänge definieren die Art und Weise, wie das ideologische Terrain einer einzelnen Gesellschaft eingeteilt wurde. Das sind die von Gramsci erwähnten ›Spuren‹: die »verfestigte[n] Schichtungen in der Popularphilosophie« (Gramsci, 1991 ff, Bd. 6, Heft 11, 1376)), die keinen Bestand mehr haben, aber die Felder abstecken und definieren, auf denen der ideologische Kampf sich tendenziell abspielt.

 

Für Gramsci war das vor allem das Terrain dessen, was er den »Alltagsverstand« nannte: eine historische, keine natürliche oder universelle oder spontane Form popularen Denkens, notwendigerweise fragmentarisch, zerstückelt und episodisch. Der Alltagsverstand ist aus sehr widersprüchlichen ideologischen Formen zusammengesetzt: man findet in ihm »Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird« (ebenda). Und Gramsci betonte nun, dass genau auf diesem Terrain der ideologische Kampf am häufigsten stattfindet, weil dieses Netzwerk von präexistierenden Spuren und Elementen des gesunden Menschenverstandes für die Masse des Volkes den Bereich des praktischen Denkens konstituiert. Der »Alltagsverstand« wurde zu einem der Einsätze, um die der ideologische Kampf geführt wird. Und letztlich wird »die Beziehung zwischen ›höherer‹ Philosophie und Alltagsverstand wird von der ›Politik‹ gewährleistet« (Gramsci 1991, Bd. 6, Heft 11, 1382).

Ideen werden letzten Endes nur dann wirksam, wenn sie sich mit einer bestimmten Konstellation gesellschaftlicher Kräfte verbinden. In diesem Sinne ist der ideologische Kampf ein Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Kampfes um Herrschaft und Führung – kurz, um Hegemonie. Für die »Hegemonie« in Gramscis Sinne aber ist wesentlich nicht das bloße Hinaufarbeiten einer ganzen Klasse zur Macht, mit ihrer voll ausgebildeten ›Philosophie‹, sondern der Prozess, durch den ein historischer Block gesellschaftlicher Kräfte konstruiert und die Überlegenheit dieses Blocks gesichert wird. Wir begreifen also das Verhältnis zwischen ›herrschenden Ideen‹ und ›herrschenden Klassen‹ am besten, wenn wir es im Sinne von Prozessen ›hegemonialer Herrschaft‹ denken.

Gibt man andererseits die Frage oder das Problem der ›Herrschaft‹ – der Hegemonie, Beherrschung und Autorität – auf, weil die Art, in der es ursprünglich gestellt wurde, unbefriedigend ist, würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Herrschaft der herrschenden Ideen wird nicht dadurch garantiert, dass sie immer schon mit den herrschenden Klassen gekoppelt sind. Vielmehr ist die wirksame Kopplung herrschender Ideen an den historischen Block, der in einer bestimmten Periode hegemoniale Macht erlangt hat, genau das, was der Prozess des ideologischen Kampfes sicherstellen will. Sie ist das Ziel der Übung – nicht die Aufführung eines schon geschriebenen und abgeschlossenen Drehbuchs.

5. Für eine nicht-ökonomistische Theorie der ökonomischen ›Determination‹

Es dürfte klar sein, dass dieses Argument sehr weitgehende Konsequenzen hat für die Entwicklung der marxistischen Theorie insgesamt, obgleich es hier nur in Verbindung mit dem Ideologieproblem dargelegt wurde. In Frage steht eine bestimmte Konzeption von ›Theorie‹: Theorie als Ausarbeitung einer Reihe von Garantien. Umstritten ist auch eine bestimmte Definition von ›Determination‹. Ausgehend von der Lektüre, die ich oben vorgeschlagen habe, ist klar, dass der ökonomische Aspekt des kapitalistischen Produktionsprozesses wirkliche begrenzende und einschränkende (d.h. determinierende) Wirkungen auf die Kategorien hat, in denen die Produktionskreisläufe ideologisch gedacht werden und umgekehrt. Das Ökonomische liefert das Repertoire an Kategorien, die im Denken verwendet werden. was das ökonomische nicht kann, ist (a) die Inhalte bestimmter Gedanken bestimmter gesellschaftlicher Klassen oder Gruppen zu einer bestimmten Zeit zu liefern, (b) ein für allemal festzulegen oder zu garantieren, von welchen Ideen welche Klasse Gebrauch machen wird. Das Determinierende des ökonomischen für das Ideologische kann deshalb nur darin liegen, dass es die Grenzen setzt für die Definition des Operationsfeldes, indem es das ›Rohmaterial‹ des Denkens festlegt. Die materiellen Umstände sind ein Netz von Zwängen, die ›Existenzbedingungen‹ für praktisches und vorausschauendes Denken über die Gesellschaft.

Diese Konzeption der ›Determination‹ unterscheidet sich von der des ›ökonomischen Determinismus‹ im gewöhnlichen Sinn, oder derjenigen, die aus dem Denken der Beziehungen der verschiedenen Praxen in einer Gesellschaftsformation nach dem Muster der expressiven Totalität folgt. Die Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Ebenen sind in der Tat determiniert, das heißt: sie sind wechselseitig determinierend. Die Struktur der gesellschaftlichen Praxen – das Ensemble – ist jedoch deshalb weder frei fließend noch immateriell. Es ist aber auch keine transitive Struktur, die ausschließlich als Übertragung der Effekte in einer Richtung, von der Basis nach oben, zu verstehen ist. Das ökonomische kann nicht eine endgültige Geschlossenheit im Bereich des Ideologischen bewirken, in dem präzisen Sinne, dass ständig ein bestimmtes Resultat garantiert wird. Es kann nicht immer ein bestimmtes Set von Entsprechungen gewährleisten oder bestimmten Klassen bestimmte Denkweisen liefern, die ihrer Stellung innerhalb seines Systems entsprechen. Dies genau deshalb, weil (a) ideologische Kategorien nach ihren eigenen Entwicklungs- und Evolutionsgesetzen entfaltet, generiert und transformiert werden, obwohl sie selbstverständlich aus dem gegebenen Material heraus erzeugt werden; und (b) aufgrund der notwendigen ›Offenheit‹ der historischen Entwicklung für die Praxis und den Kampf. wir müssen die reale Unbestimmtheit des Politischen anerkennen – der Ebene, die alle anderen Praxisebenen verdichtet und deren Funktionieren in einem bestimmten Machtsystem gewährleistet.

Diese relative Offenheit oder relative Unbestimmtheit ist auch notwendig für den Marxismus selbst als eine Theorie. Das ›Wissenschaftliche‹ der marxistischen Politiktheorie liegt darin, dass sie die Grenzen politischer Handlungen zu verstehen sucht, die gegeben sind durch das Terrain, auf dem sie operieren. Dieses Terrain wird nicht durch Kräfte definiert, die wir mit naturwissenschaftlicher Exaktheit vorhersagen können, sondern durch die bestehende Balance der gesellschaftlichen Kräfte, durch die spezifische Art der konkreten Konjunktur. Der Marxismus ist ›wissenschaftlich‹, weil er sich selbst als determiniert versteht und weil er eine Praxis zu entwickeln sucht, die theoretisch orientiert ist. Aber er ist nicht ›wissenschaftlich‹ in dem Sinne, dass die politischen Resultate und die Konsequenzen der Führung politischer Kämpfe in den ökonomischen Sternen vorherbestimmt sind.

Ein Verständnis von ›Determination‹ eher im Sinne von Grenzziehungen, der Festlegung von Parametern, der Definierung von Handlungsräumen, der konkreten Existenzbedingungen, der ›Gegebenheit‹ gesellschaftlicher Praxen, als im Sinne der absoluten Vorhersagbarkeit bestimmter Resultate, ist die einzige Grundlage eines ›Marxismus ohne Gewähr‹. Es bildet den offenen Horizont marxistischer Theoriebildung – eine Determiniertheit ohne eine von vornherein garantierte Geschlossenheit. Das Paradigma gänzlich abgeschlossener, vollkommen vorhersagbarer Denksysteme ist Religion oder Astrologie, nicht Wissenschaft. Aus dieser Perspektive wäre es vorzuziehen, den ›Materialismus‹ der marxistischen Theorie als ›Determination durch das Ökonomische in erster Instanz‹ zu denken, weil der Marxismus sicher zu Recht gegen jeden Idealismus daran festhält, dass keine gesellschaftliche Praxis oder keine Anordnung von Verhältnissen frei von den determinierenden Effekten der konkreten Verhältnisse dahinschwebt, in denen sie angesiedelt ist. Die ›Determination in letzter Instanz‹ war dagegen lange Zeit der Zufluchtsort für den verlorenen Traum oder die Illusion der theoretischen Gewissheit Und das wurde zu einem hohen Preis erkauft, weil Gewissheit Orthodoxie stimuliert, die eingefrorenen Rituale und die Intonation der bereits bezeugten Wahrheit und all die anderen Attribute einer Theorie, die unfähig ist zu frischen Einsichten. Sie repräsentiert das Ende des Prozesses der Theorie, der Entwicklung und Verfeinerung neuer Begriffe und Erklärungen, die allein das Zeichen eines lebendigen Denkens ist, das noch etwas von der Wahrheit über neue historische Realitäten aufnehmen und begreifen kann.

Aus dem Englischen von Thomas Weber

Bedeutung, Repräsentation, Ideologie –
Althusser und die poststrukturalistischen Debatten

Althusser überzeugte mich davon, und ich bleibe davon überzeugt, dass Marx sich die Gesamtheit aller Beziehungen, die eine Gesellschaft ausmachen – Marxens ›Totalität‹ –, als eine komplexe und nicht eine einfache Struktur vorstellte. Deshalb kann innerhalb dieser Totalität die Beziehung zwischen deren verschiedenen Ebenen – also zwischen dem Ökonomischen, Politischen und Ideologischen (wie es Althusser sieht) – nicht einfach oder unmittelbar sein. Deshalb ist die Auffassung, die verschiedenen Arten sozialer Widersprüche könnten auf den verschiedenen Ebenen der sozialen Praxis anhand eines leitenden Prinzips der sozialen und wirtschaftlichen Organisation (in klassisch marxistischen Begriffen: der Produktionsweise) abgelesen werden, oder die verschiedenen Ebenen einer sozialen Formation könnten als unmittelbare Beziehung zwischen Praxen formuliert werden, weder hilfreich noch entspricht sie der Art und Weise, in der Marx sich die soziale Totalität vorstellte. Natürlich ist eine soziale Formation nicht nur komplex strukturiert, weil alles mit allem zusammenhängt – das ist der traditionelle soziologische, multifaktorielle Ansatz, der keinerlei Prioritäten zulässt. Eine soziale Formation ist eine »Struktur mit Dominante«. Sie hat bestimmte spezifische Tendenzen; sie hat eine bestimmte Form; sie ist eindeutig strukturiert. Deshalb bleibt der Begriff ›Struktur‹ wichtig. Nichtsdestotrotz ist es eine komplexe Struktur, in der sich eine Ebene von Praxen nicht in einfacher Weise auf eine andere reduzieren lässt. Die Reaktion gegen diese beiden Tendenzen hin zum Reduktionismus in der klassischen marxistischen Ideologietheorie ist seit längerem im Gange – tatsächlich haben bereits Marx und Engels diese Art Revisionismus in Gang gesetzt. Aber Althusser war in dieser Hinsicht die Schlüsselfigur der modernen Theorie, der sich deutlich von alten Vorstellungen verabschiedete und eine überzeugende Alternative anbot, die im Rahmen einer marxistischen Fragestellung verbleibt. Das war eine wichtige theoretische Errungenschaft, wie stark wir mittlerweile auch die Begriffe von Althussers Durchbruch kritisieren und abändern mögen. Ich glaube auch, dass Althusser Recht hat, wenn er zeigt, dass Marx 1857 in der Einleitung zu den Grundrissen (Marx 1953), seinem am stärksten methodologischen Text, die soziale Formation in dieser Weise gedacht hat.

Ein weiterer grundsätzlicher Fortschritt Althussers besteht darin, dass er mir ermöglichte, innerhalb und mit der Differenz zu leben. Althussers Bruch mit einer monistischen Konzeption des Marxismus verlangte danach, die Differenz theoretisch aufzuarbeiten – anzuerkennen, dass es verschiedene soziale Widersprüche mit verschiedenen Ursprüngen gibt; dass die Widersprüche, die den historischen Prozess vorantreiben, nicht immer an derselben Stelle erscheinen und nicht immer dieselbe Wirkung erzielen. Wir haben über die Artikulation zwischen verschiedenen Widersprüchen nachzudenken; über die verschiedenen konkreten Umstände und Zeiträume, in denen sie wirksam sind, über die verschiedenen Formen, durch die sie wirken. Ich glaube, Althusser hat Recht, wenn er auf die starrköpfig monistischen Gewohnheiten vieler renommierter Marxisten hinweist, die bereit sind, um der Komplexität willen so lange mit der Differenz zu spielen, als sich eine Garantie für die spätere Einheit findet. Aber die bedeutsamen Fortschritte gegenüber dieser verspäteten Teleologie finden sich bereits in der Einleitung zu den Grundrissen von 1857. Dort sagt Marx zum Beispiel, dass alle Sprachen natürlich einige Gemeinsamkeiten besitzen. Andernfalls wären wir nicht fähig, sie als Teile eines gemeinsamen sozialen Phänomens aufzufassen. Aber wenn wir so etwas sagen, dann haben wir nur auf einer sehr allgemeinen Abstraktionsebene etwas über Sprache gesagt: auf der Ebene der Sprache im Allgemeinen. Wir haben unsere Untersuchung erst begonnen. Das bedeutsamere theoretische Problem besteht darin, die Spezifik und die Differenz verschiedener Sprachen zu denken, die zahlreichen Determinierungen bestimmter linguistischer und kultureller Formationen sowie die bestimmten Aspekte, die sie voneinander unterscheiden, konkret zu analysieren. Marxens Einsicht, dass die kritische Analyse vom Abstrakten zum Konkreten voranschreitet, welches das Resultat vieler Determinierungen ist, stellt einen seiner tiefgründigsten und am meisten missachteten erkenntnistheoretischen Vorschläge dar, den sogar Althusser in gewisser Weise falsch interpretiert.1

 

Ich muss allerdings sogleich anfügen, dass mir Althusser erlaubt, ›Differenz‹ in bestimmter Weise zu denken, die sich von den Traditionen unterscheidet, die sich zuweilen auf ihn berufen. Wenn man sich zum Beispiel die Diskurstheorie anschaut – den Poststrukturalismus oder Foucault –2, dann wird man dort nicht nur die Verschiebung von der Praxis zum Diskurs feststellen, sondern auch, wie die Betonung der Differenz – der Mehrstimmigkeit der Diskurse, des ständigen Verrutschens der Bedeutung, des endlosen Gleitens des Bedeuteten – mittlerweile über den Punkt hinaus vorangetrieben wird, wo sich die notwendige Ungleichheit einer komplexen Einheit theoretisieren lässt, oder sogar die ›Einheit in der Differenz‹ einer komplexen Struktur. Deshalb, glaube ich, muss uns Foucault, jedes Mal, wenn er in Gefahr steht, die Dinge zusammenzubringen (etwa die zahlreichen erkenntnistheoretischen Umbrüche, die er verfolgt, die alle zufällig mit dem Umbruch vom ancien régime zur Moderne in Frankreich zusammenfallen), hastig versichern, dass niemals irgend etwas mit irgend etwas anderem zusammenpasst. Die Bedeutung liegt immer auf dem ständigen Verrutschen, weg von jeder vorstellbaren Vereinigung. Ich glaube, man kann Foucaults beredtes Schweigen über den Staat nicht anders verstehen. Natürlich wird er sagen, er wisse, dass der Staat existiere; welcher französische Intellektuelle weiß das nicht? Aber er kann ihn nur als einen abstrakten leeren Raum behaupten – der Staat als Archipel Gulag –, das abwesende/anwesende Andere zum ebenso abstrakten Widerstand. Sein Programm sagt: »Nicht nur der Staat, sondern auch die verstreute Mikrophysik der Macht«, seine Praxis bevorzugt ständig die letztere und ignoriert die Macht des Staates.

Foucault hat Recht, wenn er kritisiert, dass sich manche Marxisten den Staat als ein einheitliches Objekt vorstellen, zum Beispiel als den vereinigten Willen des ZKs der herrschenden Klasse, wo sich dieses heutzutage auch gerade versammelt. Aus dieser Vorstellung entspringt das notwendige ›Zusammenspannen‹ von allem und jedem. Ich stimme ihm zu, dass man so nicht mehr über den Staat denken kann. Der Staat ist eine widersprüchliche Formation, der über verschiedene Handlungsweisen verfügt und an zahlreichen Orten wirksam wird; er hat mehrere Zentren und viele Dimensionen. Er hat sehr deutliche und vorherrschende Tendenzen, aber er besitzt keinen eindeutig eingeschriebenen Klassencharakter. Auf der andern Seite bleibt der Staat einer der wichtigsten Orte in einer modernen kapitalistischen Gesellschaft, an dem politische Praxen verschiedenster Art verdichtet werden. Die Funktion des Staates besteht teilweise gerade darin, eine Reihe politischer Diskurse und sozialer Praxen, die an verschiedenen Orten die Übersetzung und Umwandlung von Macht leisten, zusammenzubringen und in einer komplexen Struktur zu artikulieren – wobei einige dieser Praxen nur sehr wenig mit der politischen Sphäre im engeren Sinn zu tun haben, sondern sich auf andere Bereiche beziehen, die nichtsdestotrotz mit dem Staat in Verbindung stehen, zum Beispiel das Familienleben, die Zivilgesellschaft, Fragen des Geschlechts/Gender und wirtschaftliche Beziehungen. Der Staat ist das Beispiel einer Verdichtung, die diesem Ort des Zusammentreffens verschiedener Praxen ermöglicht, in eine systematische Praxis der Regulierung, der Herrschaft und der Norm, der Normalisierung innerhalb der Gesellschaft verwandelt zu werden. Der Staat verdichtet sehr unterschiedliche soziale Praxen und verwandelt sie in funktionierende Macht und Vorherrschaft über spezifische Klassen und andere soziale Gruppen. Um eine solche Vorstellung zu denken, sollte man nicht die Differenz durch ihr Spiegelbild, die Einheit, ersetzen, sondern beide innerhalb eines neuen Konzepts denken – dem der Artikulation.3 Genau diesen Schritt verweigert Foucault.

Deshalb haben wir Althussers Fortschritt nicht allein durch sein Beharren auf der ›Differenz‹ zu charakterisieren – was der Schlachtruf des Derrida’schen Dekonstruktivismus ist –, sondern durch die Notwendigkeit, Einheit und Differenz zu denken, die Differenz innerhalb einer komplexen Einheit, ohne dass dies Differenz als solche privilegiert. Falls Derrida Recht hat mit der Behauptung, das Bedeutete verrutsche ständig, in ständigem ›Aufschub‹, dann stimmt es auch, dass es ohne eine willkürliche ›Festlegung‹, oder dem, was ich ›Artikulation‹ nenne, keinerlei Bezeichnung oder Bedeutung gäbe. Was ist denn Ideologie anderes als genau diese Festlegung der Bedeutung durch Herstellen einer Kette von Entsprechungen, mittels Auswahl und Kombination? Deshalb möchte ich im Folgenden nicht den proto-Lacan’schen, neo-Foucault’schen, prä-Derrida’schen Text von Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate von 1970, erläutern, sondern, trotz all seiner Fehler, den theoretisch weniger ausgefeilten Band Für Marx von 1965, der meines Erachtens schöpferischer und origineller ist, vielleicht weil er vorsichtiger operiert. Insbesondere der Essay Widerspruch und Überdeterminierung denkt genau über komplexe Formen der Determinierung nach, ohne sie auf eine einfache Einheit zu reduzieren. (Ich habe seit je Für Marx dem ausgearbeiteteren, strukturalistischeren Band Das Kapital lesen von 1968 vorgezogen: Eine Vorliebe, die sich nicht nur aus der Abneigung gegen die spinozistische, strukturalistisch-kausale Maschinerie im letzteren Text speist, sondern auch aus meinem Vorurteil gegen die modische intellektuelle Annahme, dass das ›Neuste‹ notwendigerweise das ›Beste‹ sei.) Ich beschäftige mich an dieser Stelle nicht mit der theoretischen Schlüssigkeit von Für Marx. Auf das Risiko hin, theoretisch eklektisch zu werden, neige ich dazu, ›Recht haben, aber nicht schlüssig zu sein‹, ›schlüssig, aber falsch zu sein‹ vorzuziehen. Indem es uns ermöglichte, über verschiedene Ebenen und verschiedene Arten der Determinierung nachzudenken, gab uns Für Marx, was uns Das Kapital lesen nicht gab: Die Fähigkeit, über historische Ereignisse oder bestimmte Texte zu theoretisieren (Die Deutsche Ideologie, Marx und Engels, 1970) oder bestimmte ideologische Formationen (Humanismus) als von mehr als einer Struktur determiniert zu sehen (das heißt, den Prozess der Überdeterminierung zu denken). Ich glaube, ›Widerspruch‹ und ›Überdeterminierung sind sehr reichhaltige theoretische Konzepte – eine von Althussers glücklicheren ›Anleihen‹ bei Freud und Marx; ich glaube nicht, dass Althusser selber in seiner Anwendung ihren Reichtum ausgeschöpft hat.