Grundfragen der Sprachwissenschaft

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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Peter Schlobinski

Grundfragen der Sprachwissenschaft

Eine Einführung in die Welt der Sprache(n)

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Peter Schlobinski ist Professor für Germanistische Linguistik am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover.

2011 erhielt er den renommierten Konrad-Duden-Preis. Gemeinsam mit Jens Runkehl und Torsten Siever hat er 1998 das Projekt sprache@web ins Leben gerufen, von dem das Medienlinguistik-Portal mediensprache.net betrieben wird.

Mit 38 Abbildungen und 19 Tabellen

Umschlagbild: Hülle der Voyager Golden Record

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter

www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Wikimedia

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der

vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm

UTB-Band-Nr. 4125

ISBN: 978-3-8463-4125-4

Für Tido, Leni und Joschi

Inhalt

Vorwort

Konventionen, Symbole und Abkürzungen

Was ist Sprachwissenschaft?

1. Was ist/macht eigentlich ein Sprachwissenschaftler?

2. Was ist die Aufgabe der Sprachwissenschaft?

3. Haben sich die alten Griechen bereits mit Sprache beschäftigt?

4. Wer ist der berühmteste Sprachwissenschaftler und was ist sein Programm?

5. Theorie und Empirie in der Sprachwissenschaft

6. Wie gehen Sprachwissenschaftler vor?

7. Wer war die erste Professorin für Sprachwissenschaft in Deutschland?

8. Wer schrieb die erste Grammatik?

Sprache und Sprachen

9. Wie viele Sprachen gibt es auf der Welt?

10. Welche sprachlichen Grundtypen gibt es?

11. Welche ist die schwierigste Sprache der Welt?

12. Hat nur der Mensch Sprache?

13. Über den Ursprung der Sprache

14. Wie haben sich die Sprachen entwickelt?

15. Sprachen und Sprachfamilien

16. Was haben Sprachen gemeinsam?

17. Ist Gebärdensprache eine Sprache?

18. Was sind Plansprachen?

Sprache, Kommunikation, Handeln

19. Was sind sprachliche Zeichen?

20. Was ist Information?

21. Wie hängen Sprache und Kommunikation zusammen?

22. Wie könnten wir mit Außerirdischen kommunizieren?

23. Wie wir durch Sprache handeln

24. Wie ›5‹ als Aufforderungshandlung funktioniert

25. Warum Wünsche nicht wahr werden

26. Wie wir argumentieren

27. Rahmenbrüche

28. Die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation

Sprache, Bedeuten, Verstehen

29. Was soll es bedeuten?

30. Was versteht man unter Verstehen?

31. Wat hier jelacht wird, dit lach ick

32. Inwieweit Zahlen irrational sind

33. Wie man den Bomber der Nation lesen kann

34. Wann Eigentum nicht in Besitz ist

35. Wenn rechts da ist, wo der Daumen links ist

36. Ist das Hopi eine zeitlose Sprache?

37. Ist in der Sprache alles relativ?

38. Was versteht man unter Sprachlenkung?

Bausteine der Sprache

39. Was ist ein Sprachlaut?

40. Was ist eine Tonsprache?

41. Wie man von Frankfurt zu Furankufuruto kommt

42. Was ist ein Wort?

43. Was ist ein Morphem?

44. Die Für-die Analyse-von-Wortbildungsmöglichkeitenerst-Kap.-43-lesen-Aufforderung

45. Wie bestimmt man Wortarten?

46. Was ist ein Satz?

47. Was ist eine Phrase?

48. Was sind Klammerstrukturen?

49. Hat das Chinesische keine Grammatik?

Wörter und Wörterbücher

50. Was ist das längste Wort?

51. Warum heißt der Donnerstag Donnerstag und nicht Regenstag?

52. Nomen (non) est omen

53. Was sind Kopf- und Schwanzwörter?

 

54. Was ist ein Fremdwort?

55. Zerstören Anglizismen die deutsche Sprache?

56. Inwiefern groken, twittern und davondopplern Neuwörter sind

57. Phraseologismen: klipp und klar?

58. Wortfelder – was schlenzen, lupfen und köpfen gemeinsam haben und was sie unterscheidet

59. Was steht in einem etymologischen Wörterbuch?

60. Was findet man in einem Synonym- und Antonymwörterbuch?

61. Wo der Cafetier einen kleinen Schwarzen verkauft

Wandel von Sprachen

62. Ist Englisch die Sprache der Zukunft?

63. Gefährdete Sprachen und Sprachentod

64. Sterben Dialekte aus?

65. Historische Stufen des Deutschen

66. Sprachvariation und Sprachwandel

67. Bedeutungswandel

68. Lautwandel

69. Vom Wort zur Grammatik

70. Sprachkontakt – Kreolsprachen

Biologische Grundlagen der Sprache

71. Broca- und Wernicke-Region

72. Welche Auswirkungen haben Hirnschädigungen auf die Sprache?

73. Wie Sprachwissenschaftler die Sprachverarbeitung im Gehirn beobachten

74. Gibt es ein Sprachgen?

75. Wie hängen Sprache und Intelligenz zusammen?

Spracherwerb

76. Ab wann können Kinder sprechen?

77. Ist Sprachfähigkeit angeboren?

78. Zweitspracherwerb

79. Was ist Früh-Bilingualismus?

80. Wie erlernen wir eine Fremdsprache?

Sprache, Gesellschaft, Kultur

81. Sprache und Macht

82. Sprechen Männer und Frauen die gleiche Sprache?

83. Spricht die Jugend eine andere Sprache?

84. Kiezdeutsch

85. Dialekte

86. Sprachliche Höflichkeit

87. Was uns Sprichwörter sagen

88. Sprachkritik

Sprache und Medien

89. Wer hat die Schrift erfunden?

90. Die Entstehung der Alphabetschrift

91. Ist die chinesische Schrift eine Art Bildschrift?

92. Schreiben wir so, wie wir sprechen?

93. Wie hat der Buchdruck die Sprache verändert?

94. .-- .. . / ..-. ..- -. -.- - .. --- -. .…-. - / - . .-.. . --. .-. .- ..-. .….--..

95. Comicsprache

96. Sprache und Bild

97. Gibt es eine Internetsprache :-/

98. Tweets, SMSen und Co – in der Kürze liegt die Würze

Anwendungen

99. Ist menschliche Sprache berechenbar? Das Leibniz-Programm

100. Können Computer Sprache verstehen?

101. »Les programmes de traduction sont parfaits?«

102. Forensische Linguistik

103. Klinische Linguistik

104. Linguistik in der Schule

Statt eines Nachworts

Anmerkungen

Register mit Glossar

Literaturverzeichnis

Vorwort

Das vorliegende Buch führt in Grundfragen der Sprachwissenschaft und das Thema Sprache und Sprachen ein. Sprache interessiert viele – diese Erfahrung mache ich im Alltag immer wieder. Dennoch hat die Sprachwissenschaft einen schlechten Ruf. Zu kompliziert und formal, Grammatik: furchtbar, so viel zu lernen – das sind nur einige Urteile, die wesentlich durch den schulischen Sprach- und Grammatikunterricht geformt sind. Dabei gibt es so viel zu entdecken in der Welt der Sprache(n). Allerdings: Wenn man sich in einer unbekannten Welt bewegt, dann braucht man einen Kompass, um sich orientieren zu können. Die Sprachwissenschaft stellt nicht nur einen Kompass, sondern auch Landkarten und Routenplaner, Höhenmesser und Tiefenbohrer, Fernrohre und Mikroskope, Busch- und Seziermesser zur Verfügung.

Die vorliegende Reise in die Welt der Sprache ist natürlich durch meine Arbeit als professioneller Reiseführer geprägt, und ich zeige Ihnen die Plätze, die ich selbst in den letzten Jahrzehnten besucht habe. Aber auch Orte von Freunden und Kollegen, die ganz wesentlich zur Vermessung der sprachlichen Welt beigetragen haben. Und ich habe über 200 Studienanfänger befragt, welche Reiseziele sie besonders interessieren, und habe ihre Wünsche berücksichtigt.

Wenn jemand eine Reise tut, dann … Dann ist es bequem, im Zug zu sitzen, aus dem Fenster zu schauen und die Landschaft zu genießen. Fernsehen live. Etwas ganz Anderes ist es, zu Fuß einen Dreitausender zu erklimmen oder sich im Amazonasgebiet durch das Dickicht zu schlagen. So ist es auch beim Durchqueren von Sprachlandschaften. Manche Orte erreicht man leicht, andere Wege sind schwierig und man muss einige Mühen auf sich nehmen. Aber am Ende wird man immer durch neue Erfahrungen und Erkenntnisse belohnt.

Die kleine Reise folgt einer inneren Logik und die Reiseroute ist gut begründet. Dennoch können einzelne Reiseziele und Orte ohne Kenntnis der anderen besucht werden. Gelegentlich jedoch ist es hilfreich, erst einen Ort aufzusuchen und anschließend einen anderen, Hinweisschilder (s. Kap. X) helfen hier weiter. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei Ihrer Entdeckungsreise durch die Welt der Sprache. Und für einen längeren Aufenthalt in unbekannten Sprachregionen empfehle ich Ihnen, den Rucksack mit Handwerkszeug Deskriptive Linguistik. Grundlagen und Methoden (Dürr/Schlobinski 2006) mitzunehmen.

Zunächst jedoch noch einige vorbereitende Hinweise, bevor Sie mit der Lektüre beginnen. Wenn Ihnen Fachbegriffe nicht bekannt sind, dann hilft das Register weiter, in dem wichtige Begriffe erklärt und Verweise auf die relevanten Stellen im Buch gegeben sind. Der Schwierigkeitsgrad der einzelnen Kapitel ist unterschiedlich. Manche Teilbereiche sind theoretisch anspruchsvoller, andere erscheinen wegen der Beispiele aus uns fremden Sprachen schwierig. Als Hilfe für die Analyse von Sprachbeispielen werden diese mit einer Glossierung versehen. Ein Sprachbeispiel mit sog. Interlinearglossierung besteht in der Regel aus drei Zeilen:


Italienisch Englisch Chinesisch Nahuatl
cant-er-ó car-s yī zhāng zh ni-mits-miktia
sing-FutI-1s Auto-p ein KL Papier Subj.1s-dO.2s-töten
ich werde singen Autos ein Stück Papier ich töte dich

In dem Beleg aus dem Chinesischen steht das Beispiel in standardisierter Alphabetschrift (Pīnyīn), in der dritten Zeile kursiv die Übersetzung. Bei Sprachen ohne Schriftsystem steht das Beispiel in Lautschrift. In der zweiten Zeile, der eigentlichen Glossierung, werden die Wortstämme bzw. Grundwörter auf Deutsch gegeben und abgekürzt Kategorien und grammatische Funktionen. Im italienischen Beispiel steht FutI für ›Futur I‹ und 1s für ›1. Person Singular‹, im englischen steht p für ›Plural‹ und im chinesischen steht KL für ›Klassifikator‹. In dem Beispiel aus dem Nahuatl, einer in Mexiko von ca. eineinhalb Millionen Menschen gesprochenen Sprache, steht Subj.1s für ›Subjekt, 1. Person Singular‹ und do.2s für ›direktes Objekt, 2. Person Singular‹. Die Glossierung ist möglichst einfach gehalten und auf die relevanten Punkte beschränkt, sie hilft bei einer dem Leser unbekannten Sprache, die Strukturen in den Belegen zu erkennen. Die für die Glossierung gewählten Abkürzungen und Konventionen finden sich im nachfolgenden Abkürzungsverzeichnis.

Im Buch sind zahlreiche Arbeiten verarbeitet, auf die nicht im Einzelnen verwiesen wird. Das Literaturverzeichnis gibt die zugrunde liegende Literatur wieder. Die für einzelne Kapitel wichtige Literatur wird im Literaturverzeichnis durch spitze Klammer < > angegeben. Wenn Sie also zu den in den einzelnen Kapiteln behandelten Themen grundlegende Literatur suchen, dann können Sie diese einfach über den Klammer-Index erschließen.

Es ist immer eine schwierige Aufgabe, einerseits möglichst fachlich genau, andererseits verständlich und einfach zu schreiben. Schwierige und komplexe Sachverhalte können nicht immer auf ein einfaches Niveau heruntergebrochen werden, ohne völlig trivialisiert zu werden. So habe ich den Spagat zwischen fachlicher Angemessenheit und Allgemeinverständlichkeit versucht in der Hoffnung, dass viele Studienanfänger das Buch mit Gewinn lesen und die Fachkollegen mir nicht gram sind.

 

Für Verbesserungsvorschläge und kritische Hinweise möchte ich mich bei Dr. Ulrike Gießmann-Bindewald, Dr. Olaf Krause, Alexa Mathias, Dr. Gernot Mathias und Dr. Katerina Stathi herzlich bedanken. Mein besonderer Dank für viele anregende Gespräche über linguistische und nicht-linguistische Fragen und Probleme gilt meinem Freund und Kollegen Prof. Dr. Michael Dürr. Und last, not least: Im Text verwende ich grundsätzlich das generische Maskulinum (s. hierzu Kap. 82).

Konventionen, Symbole und Abkürzungen


*ungrammatisch; z.B. *Buch das auf liegt Tisch dem.
*rekonstruierte Protoform; z.B. idg.*psќé ›fragen‹
wird realisiert als; z.B. d → t ›d wird ausgesprochen als t‹ (so in Fahrrad)
leitet sich ab von; z.B. Auto ← Automobil
[ ]Laut, z.B. [f] wie in für oder [v] wie in Wald
/ /Phoneme, ›Laute mit bedeutungsunterscheidender Funktion‹, z.B. /h/ (/has/ vs. /mas/)
< >Grapheme
1, 2, 31., 2., 3. Person [ich, du, er/sie/es]
AkkAkkusativ [ihn]
ARTArtikel [der, ein]
DatDativ [ihm]
dOdirektes Objekt [Er schreibt ein Buch.]
exklexklusiv [wir beide vs. wir alle]
FutFutur [sie wird schreiben]
IndIndikativ [ich komme vs. ich käme]
KLKlassifikator [ein Stück Brot]
NNomen [Michael, Schrank]
NPNominalphrase [der alte Turm]
neutrNeutrum [das Buch]
NomNominativ [er]
Obj/OObjekt
pPlural [Häuser vs. Haus]
PPräposition [auf]
PARTPartikel [halt, ja, so]
PerfPerfektiv [›abgeschlossene Handlung‹]
PPPräpositionalphrase [auf dem Tisch]
PrätPräteritum [ich sagte]
sSingular [Haus vs. Häuser]
SubjSubjekt [Er sieht ihn.]
TempTempus
TOPTopik(partikel)

Sprachen


ahd.althochdeutsch
altgr.altgriechisch
chin.chinesisch
dt.deutsch
engl.englisch
frz.französisch
gr.griechisch
idg.indogermanisch
ital.italienisch
jap.japanisch
lat.lateinisch
mhd.mittelhochdeutsch
mlat.mittellateinisch
nd.niederdeutsch
ndl.niederländisch
nhd.neuhochdeutsch
omd.ostmitteldeutsch
poln.polnisch
port.portugiesisch
span.spanisch
ung.ungarisch
ugs.umgangssprachlich

Was ist Sprachwissenschaft?

1 Was ist/macht eigentlich ein Sprachwissenschaftler?

Führte man eine Umfrage durch und stellte die Frage ›Was ist ein Sprachwissenschaftler?‹, dann wäre wohl die häufigste Antwort: Ein Sprachwissenschaftler ist jemand, der viele Sprachen spricht. Dabei können die meisten Sprachwissenschaftler nicht mehr Sprachen als viele andere Akademiker auch, und die meisten Spitzenschachspieler sind ihnen in der Sprachenkompetenz wohl überlegen wie der in Reggio Emilia geborene Enrico Paoli (1908–2005). Der italienische Ehrengroßmeister war ›paoliglott‹ und sprach neben seiner Muttersprache weitere neun Sprachen, er kann allerdings nicht mit dem Dolmetscher und Chinesischexperten Emil Krebs (1867–1930) konkurrieren, der 68 Sprachen beherrschte. Viele Schachspieler wären vielleicht auch gute Sprachwissenschaftler geworden, sie sind aber nun mal Schachspieler und keine Sprachwissenschaftler. (Das Schachspiel ist ein bei Sprachwissenschaftlern beliebtes Spiel, auf das immer wieder metaphorisch zurückgegriffen wird.)

Was also macht ein Sprachwissenschaftler, wenn er keine beeindruckende Anzahl von Sprachen spricht? Er untersucht einzelne Sprachen und Sprachvarianten bzw. das, was menschliche Sprache überhaupt ausmacht. Die originäre Aufgabe eines Sprachwissenschaftlers ist es, Wesen und Erscheinungsformen von Sprache zu beschreiben und zu erklären. Womit er sich auch immer im Einzelnen beschäftigt, es sind fünf grundlegende und etablierte Teilgebiete, die sein Arbeitsgebiet und das Fach Sprachwissenschaft strukturieren. Zum Ersten ist es die Phonetik/Phonologie (gr. phōn ›Stimme, Klang, Laut, Ton‹), die sich mit der Art der Sprachlaute, ihren physikalischen Eigenschaften (Phonetik) bzw. mit ihrer Funktion in den einzelnen Sprachen (Phonologie) beschäftigt. Die Morphologie (gr. morphé ›Gestalt‹, ›Form‹) beschäftigt sich mit Wörtern und ihren bedeutungstragenden Bausteinen und deren Funktionen. Die Flexion (Beugung) von Wörtern spielt hier eine große Rolle. In der Syntax (gr. syntaksis ›Zusammenstellung, Anordnung‹) setzt man sich mit der Art und Weise auseinander, wie Wörter zu größeren strukturellen Einheiten (Wortgruppen, Sätzen) zusammengefügt werden und welche Funktionen einzelne Teile des Satzes haben. In der Semantik geht es um die Bedeutung von Wörtern und das Zusammenwirken von Bedeutungen in komplexen Einheiten (Sätzen). Die Pragmatik (gr. pragma ›Handlung‹) schließlich beschäftigt sich mit Handlungs- und Situationsbezügen sprachlicher Äußerungen.

2 Was ist die Aufgabe der Sprachwissenschaft?

Eine kleine sprachwissenschaftliche Übung vorab – und bitte nicht erschrecken, es wird gleich wieder einfacher! Das Wort Sprachwissenschaft setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, es ist ein Kompositum mit dem Grundwort Wissenschaft und dem Wortstamm Sprach-. Da der erste, linke Teil den zweiten, rechten Teil in seiner Bedeutung determiniert, liegt ein so genanntes Determinativkompositum vor. Der Kern dieses Determinativkompositums, Wissenschaft, ist selbst ein Wort, das aus dem Bestandteil Wissen und der Endung -schaft besteht. Das Teil -schaft wird an das Substantiv Wissen angehängt und bildet mit diesem zusammen ein so genanntes Derivativum. -schaft tritt gebunden auf und bildet – zusammen in erster Linie mit einem Substantiv – ein neues Substantiv; von der Herkunft gehört es zu schaffen, ahd. scaffan, dazu scaf ›Art und Weise‹. Dem Wortbildungsprozess liegt folgendes Schema zugrunde: [X-y → Z], im Fachchinesisch formuliert: An das Grundmorphem X wird das Suffix y adjungiert, beide zusammen bilden das Derivativum Z. Diese Art des Prozesses der Wortbildung wird als Derivation bezeichnet, im Unterschied zur Komposition. Das Bestimmungswort Sprach- tritt ebenfalls nur gebunden auf, ist aber, anders als -schaft, wortfähig: Sprache. Da nur der Wortstamm als Determinationsbasis genommen werden kann, wissen wir nicht, ob Sprachwissenschaft die Wissenschaft von der Sprache oder von den Sprachen ist. Es trifft beides zu.

Die Sprachwissenschaft ist eine Art ›Zweifronten-Wissenschaft‹, wie es der berühmte Sprachwissenschaftler Roman Jakobson (1896–1982) einmal formuliert hat, die sich mit der Sprache an und für sich und ihren Erscheinungsformen beschäftigt. Damit ist gemeint, dass als zentraler Gegenstand der Sprachwissenschaft die Sprache als spezifisch menschliches Phänomen gesehen wird, das quer über alle Einzelsprachen hinweg ganz bestimmte Eigenschaften hat, welche es zu beschreiben und erklären gilt. Der Zugang zu diesem Phänomen wird über die Untersuchung von Einzelsprachen ermöglicht, wobei es darum geht herauszufinden, welche Eigenschaften Einzelsprachen aufweisen und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sie zueinander in Beziehung stehen.

Stellt der Physiker seine Fragen an die Natur, der Wirtschaftswissenschaftler an die wirtschaftlichen Verhältnisse, so der Sprachwissenschaftler an die sprachliche Wirklichkeit. Beispielsweise fragt er, ob alle Sprachen der Welt nach einem vergleichbaren Muster geformt sind, ob sie sich alle aus einer Ursprache entwickelt haben und, wenn ja, warum es dann heute so viele Sprachen gibt. »Die ersten tastenden versuche einer sprachwissenschaft setzten ein«, so beginnt der dänische Sprachwissenschaftler Otto Jespersen (1860–1943) sein Buch Die Sprache. Ihre Natur, Entwicklung und Entstehung, »als der menschliche geist sich zum ersten mal problemen wie den folgenden zuwandte: Wie kommt es, daß man nicht überall dieselbe sprache spricht? Wie entstanden die ersten wörter? Welche beziehung besteht zwischen einem gegenstand und seiner bezeichnung? Warum heißt die und die person oder die und die sache so und nicht anders?« (Jespersen 2003: 1).

Der entscheidende Schritt bei der sprachwissenschaftlichen Tätigkeit, der die Lücke zwischen Frage und deren Beantwortung schließt, ist der der wissenschaftlichen Methode. Erst wenn Wissen aus systematischer Beobachtung, Schlussfolgerungen aus dem Beobachteten, Begründung und Überprüfung durch neue Beobachtungen/Experimente gewonnen wird, ist es wissenschaftlich gewonnenes Wissen. Beobachten, systematisieren, ein Modell bzw. eine Theorie entwickeln, die das Beobachtete erklärt, sowie das Überprüfen derselben sind elementare Schritte aller wissenschaftlichen Tätigkeit, die Fragen an die Wirklichkeit stellt. Die wissenschaftliche Methode stellt sicher, dass im Hinblick auf die Erkenntnisse ein hoher Geltungsgrad erreicht werden kann.

3 Haben sich die alten Griechen bereits mit Sprache beschäftigt?

Die Sprachwissenschaft ist eine Wissenschaft mit einer langen und großen Tradition. Zu den ›Sieben Freien Künsten‹ (septem artes liberales), einem Kanon von Studienfächern, der in der Antike entstanden ist, gehört das Trivium. Wir würden heute dazu Grundstudium sagen. Zum Trivium gehörten: 1. Grammatik, 2. Rhetorik (Rede- und Stilkunde) sowie 3. Logik. Drei Bereiche, die in der heutigen Sprachwissenschaft gelehrt werden: 1. der wichtige Bereich Grammatik mit dem Schwerpunkt Syntax, 2. Pragmatik (Rhetorik und Diskursanalyse) und 3. Semantik mit Logik als Basis.

Grammatik als ein eigener linguistischer Forschungsgegenstand ist in der abendländischen Kultur relativ spät entstanden und wird heute auf das 1. Jahrhundert v. Chr. datiert. Allerdings wurden bereits zuvor linguistische Probleme der Lautlehre, der Semantik und der Satzteile im Rahmen philosophischer, rhetorischer und insbesondere philologischer Fragen erörtert. Hier sind zunächst Platon (Kratylos und Sophista) und Aristoteles (Peri Hermeneias) zu nennen. Platon (428/27–348/47 v. Chr.) führt als Basiskonstituenten für Aussagen/Sätze eine Nomen-Verb-Unterscheidung ein, Aristoteles (384–322 v. Chr.) erweitert dies um eine funktionale Komponente, indem er zunächst Wortklassen einführt und dann ihre funktionalen Rollen beschreibt. Dabei wird dem Onoma, dem Nomen im Nominativ/Subjekt (gegenüber den anderen Nomina mit Kasus) eine zentrale Rolle zugewiesen, denn es bildet zusammen mit dem Verb/Prädikat (Rhema) einen Aussagesatz, der nach dem Kriterium wahr/falsch beurteilt werden kann. Obwohl Platon und Aristoteles Grundkonzepte wie Nomen und Verb, Satz und Wort sowie Flexion einführen, wird der Durchbruch für eine antike Grammatiktheorie und -schreibung den Logik-Analysen der Stoiker (3. Jahrhundert v. Chr.) zugeschrieben, insbesondere den Arbeiten von Chrysippius. Es liegen jedoch keine direkten Zeugnisse vor, sondern das heutige Wissen stammt aus späteren Quellen, insbesondere dem Überblick des Diogenes Laertius (3./4. Jh. n. Chr.). Eine erste Synopse der Spracherkenntnisse der griechischen Philosophen gab Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) in seiner Technē grammatikē (grammatische Wissenschaft), der ersten griechischen Grammatik. Einen Meilenstein in der Grammatikmodellierung stellen die Analysen von Apollonius Dyscolus (2. Jh. n. Chr.) dar, der an die Logik und Begriffsbildung der Stoiker und an philologische Methoden anknüpft und der als erster syntaktische Fragen als eigenständiges Forschungsobjekt thematisiert hat: »Das grösste Verdienst des Appollonios, seine schöpferische Tat, ist die ›Syntax‹« (Steinthal 1891, Bd. 2: 339).

Die Redekunst (altgr. rhētorik), gerade auch im Sinne des Aufbaus einer Argumentation (s. Kap. 26), spielt in der Antike eine wichtige Rolle. Eine erste systematische Darstellung entwickelt Aristoteles in seiner Rhetorik, bei der es um die Fähigkeit geht, »bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende (pithanon) zu betrachten« (Aristoteles, Rhetorik I 2, 1355b26f., nach Rapp 2002). Zur Überzeugungstrategie gehören sprachlich-stilistische Mittel ebenso wie der logische Aufbau von Argumenten. Grundsätzlich wichtig im Hinblick auf die Urteilslehre ist aber Aristoteles‹ Schrift De Interpretatione. Dort unterscheidet er Satzarten ohne Wahrheitswert (Fragesatz, Wunschsatz) von solchen mit Wahrheitswert (Aussagesatz). Und in Bezug auf das sprachliche Zeichen unterscheidet er vier Ebenen: 1. Lautebene, 2. Schriftebene, 3. den innerseelischen Bereich (Psyche/Kognition) und 4. die außersprachliche Realität (Objekte).

Seit Platon und Aristoteles werden Fragen zur Sprache und zur Sprachphilosophie mehr oder weniger intensiv und systematisch diskutiert. Doch erst seit dem 19. Jahrhundert und im Zusammenhang mit der vergleichenden Sprachwissenschaft ist die Sprachwissenschaft eine autonome Wissenschaft, heute mit vielen Subdisziplinen (Sozio-, Psycholinguistik, Sprachtypologie, Computerlinguistik, Dialektologie, Klinische Linguistik usw.).

4 Wer ist der berühmteste Sprachwissenschaftler und was ist sein Programm?

Wenn es um Superlative geht, kann man sich immer streiten. Dennoch: Der bedeutendste und einflussreichste Sprachwissenschaftler der Gegenwart ist Noam Chomsky, der zu den weltweit meistzitierten Wissenschaftlern zählt. Dies nicht nur wegen seiner sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Arbeiten, sondern auch wegen seiner zahlreichen politischen und medienkritischen Schriften. Er gilt als kritischer Intellektueller, dessen Meinungen weltweit gefragt sind, die New York Times Book Review nannte ihn den wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart.

Noam Chomsky wurde am 7. Dezember 1928 in Philadelphia (Pennsylvania) geboren. Die Erstsprache seiner Eltern war Jiddisch, im Elternhaus wurde aber nur Englisch gesprochen. Nach der Graduierung an der Central High School of Philadelphia begann Chomsky 1945 Linguistik und Philosophie an der University of Pennsylvania zu studieren. Er wurde Schüler von Zellig Harris (1909–1992), bei dem er 1951 sein linguistisches Studium mit einer morphologischen Untersuchung zum Neuhebräischen abschloss. Titel der Arbeit: The Morphophonemics of Modern Hebrew. 1955 erhielt er seinen PhD in Linguistik an der University of Pennsylvania und arbeitete dann ab 1955 am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Parallel zu seinem Studium engagierte sich Chomsky in linken Bewegungen und studierte Schriften zum Anarchismus (Rudolf Rocker), demokratischen Sozialismus (George Orwell) und Marxismus (Karl Liebknecht, Karl Korsch und Rosa Luxemburg).


Abb.1: Noam Chomsky

Chomsky ist der Gründungsvater der so genannten ›Generativen Linguistik‹ und speziell der ›Generativen Grammatik‹. Der Paradigmenwechsel von der strukturalistischen Sprachwissenschaft zur generativen wird durch ein schmales Bändchen mit dem Titel Syntactic Strutures (Chomsky 1957) eingeleitet.

Was ist das wissenschaftliche Verdienst Chomskys? Was versteht man unter Generativismus und speziell unter generativer Grammatik? Es sind zunächst zwei Grundannahmen, die für die generative Grammatik konstitutiv sind. Zum einen werden den sprachlichen Strukturen Ableitungsmechanismen zugrunde gelegt, die über Regeln, die sich als Algorithmen fassen lassen, definiert werden können. Ziel ist es, in einer Menge von Sätzen grammatische Strukturen von umgrammatischen zu scheiden:

»From now on I will consider a language to be a set of (finite or infinite) sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements. […] The fundamental aim in the linguistic analysis of a language L is to separate the grammatical sequences which are the sentences of L from the ungrammatical sequences which are not sentences of L and to study the structure of the grammatical sequences. The grammar of L will thus be a device that generates all of the grammatical sequences of L and none of the ungrammatical ones« (Chomsky 1957: 13).

Von jetzt an werde ich unter einer Sprache S eine (endliche oder unendliche) Menge von Sätzen verstehen, jeder endlich in seiner Länge und konstruiert aus einer endlichen Menge von Elementen. […] Das grundsätzliche Ziel bei der Analyse einer Sprache S ist es, die grammatischen Folgen, die Sätze von S sind, von den ungrammatischen Folgen, die nicht Sätze von S sind, zu unterscheiden und ihre Strukturen zu analysieren. Die Grammatik von S wird deshalb eine Anweisung sein, die die grammatischen Folgen von S generiert/erzeugt und keine der ungrammatischen.