Grundfragen der Sprachwissenschaft

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2. Das Artefakt wird für eine weitere Problemsituation genutzt, nämlich nicht mehr allein für das Erjagen von Tieren zur Nahrungsbeschaffung, sondern um sich eines gefährlichen Tieres zu erwehren. Hierbei wird die soziale Praxis durch ein gemeinsames Handeln in der Gruppe modifiziert. Das gemeinsame Handeln erfolgt auch

3. auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation. Im Ursprung war das Lautzeichen ›ko‹ eine vokalische Geste, ein indexikalisches Zeichen (s. Kap. 19) für von Raubkatzen ausgehende Gefahr. In der Jagdsituation findet eine leichte Modifikation statt: Durch ko wird der Löwe thematisiert und durch die Blickgeste lokalisiert. In der rituellen Verarbeitung schließlich wird zwischen dem Löwenfell (partonym für Löwe) und ko eine Verbindung hergestellt. In dem fiktiven Szenario entsteht eine Verbindung zwischen einem Inhalt (Löwe) und einer Lautform (ko). Anders formuliert: Es entsteht symbolische Kommunikation.

Dass neue Formen des kulturellen Lernens und der Soziogenese möglich wurden, die kulturelle Artefakte und Verhaltensweisen hervorbrachten, in denen sich Veränderungen über eine historische Zeitspanne akkumulieren konnten, dies sieht Tomasello in folgendem zentralen Faktor: »Der moderne Mensch entwickelte die Fähigkeit, sich mit seinen Artgenossen zu identifizieren, was dazu führte, daß er sie als intentionale geistbegabte Wesen wie sich selbst auffaßte« (Tomasello 2006: 22). Die in der fiktiven Geschichte dargestellten Lernprozesse setzen eine Form sozialer Kognition voraus, nämlich dass die Mitglieder der Stammesgemeinschaft »nicht nur vom anderen, sondern auch durch den anderen lernen können« (ebd., S. 17). Sprachliche Symbole seien nun besonders geeignete symbolische Artefakte, um Kategorisierungen und Perspektiven auf die Welt vor- bzw. einzunehmen.

Für Tomasello ist entscheidend die kulturelle Weitergabe, die kulturelle und nicht die biologische Vererbung: Sprache ist eine aus sozio-kommunikativen Handlungen entwickelte symbolisch verkörperte soziale Institution. Anders als Chomsky (s. auch Kap. 4) geht er nicht von angeborenen Prinzipien der Sprache, ›verborgenen Prinzipien und Parametern‹ und kognitiven Modulen aus, sondern von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten. Das Inventar von Symbolen und Konstruktionen einer Sprache »gründet in universalen Strukturen menschlicher Kognition, menschlicher Kommunikation und den Mechanismen des Stimm- und Hörapparates. Die Eigenarten einzelner Sprachen rühren von Unterschieden zwischen den Völkern der Erde her und beziehen sich auf Dinge, über die zu sprechen sie für wichtig halten, und auf das, was sie hinsichtlich dieser Dinge als nützliche Informationen ansehen« (ebd., S. 60). Indem Tomasello die verschiedenen Sprachen auf Völkerunterschiede und die sprachliche Variation auf grundlegende kognitive Fähigkeiten zurückführt, ist die Annahme einer Protosprache logisch konsequent (s. hierzu Kap. 14). Deren Ursprung sieht er bei den frühesten modernen Menschen, »die ihren Ursprung vor etwa 200 000 Jahren in Afrika hatten [und] die als Erste symbolisch zu kommunizieren begannen, indem sie möglicherweise einfache symbolische Formen verwendeten, die analog zu denen sind, die von Kindern verwendet werden« (ebd., S. 63).

Kooperative Kommunikation und in Folge symbolische Kommunikation ist also das Resultat von Anpassungsprozessen an veränderte soziale Handlungsmuster. Sprache hat sich ausgebildet als Mittel der sozialen Kommunikation auf der Folie spezifischer kognitiver Fähigkeiten.

14 Wie haben sich Sprachen entwickelt?

Heute gibt es ungefähr 6500 Sprachen auf der Welt (vgl. Kap. 9). Zudem gibt es zahlreiche Regio- und Dialekte. Nun mag man (gelegentlich) darüber streiten, ob eine Sprache B eine eigene Sprache oder eine Variante der Sprache A sei, z.B. beim Saterfriesischen, das gelegentlich als niederländischer Dialekt klassifiziert wird. Tatsache ist, dass die sprachliche Vielfalt heute sehr hoch ist, und es stellt sich die Frage, wie sich diese Vielfalt entwickelt hat und sich erklärt. Im Hinblick auf die Sprachenevolution gibt es zwei grundsätzliche Ansätze, den Ansatz der Monogenese und den der Polygenese. Favorisiert wird das monogenetische Modell, nach dem unsere Sprachen Folgen der Migration des Homo sapiens sapiens aus Afrika sind. Dies ist die sog. Out-of-Africa-II-Hypothese. Für dieses Modell sprechen auch Forschungsergebnisse aus der Genetik, speziell vergleichende mtDNA-Analysen (Krings et al. 1997, Fagan 2012: 92 ff.).

Der Homo sapiens hatte vor ungefähr 170 000 Jahren seinen Ursprung im südlichen Afrika, die Wanderung des modernen Homo sapiens von Nordostafrika nach Norden begann vor etwa 110 000 Jahren. Von Nordafrika aus und über die Arabische Halbinsel breitete sich der Homo sapiens in die ganze Welt aus. In der Levante (östlicher Mittelmeerraum) wurden älteste Relikte vom modernen Menschen auf etwa 80 000 Jahre datiert, in Asien sind die frühesten Funde ca. 40 000 Jahre alt. In Europa tritt der sog. Cro-Magnon-Mensch vor ungefähr 40 000 Jahren auf, vor ca. 30 000 Jahren lebte Homo sapiens in Australien. Über die Behringstraße drang der moderne Mensch schließlich auch nach Amerika vor. Auf der einen Seite haben wir also ein kleines Populationssubstrat der afrikanischen Völker und Sprachen, andererseits Migrationspopulationen und -sprachen.

Nun ist die Lage hinsichtlich früher Sprachstadien insofern schwierig, als wir nur über schriftsprachliche Quellen verfügen und somit über Daten für einen Zeitraum von ca. 5000 Jahren. Um ältere Stadien oder gar Protosprachen zu rekonstruieren, muss man über Sprachvergleichung und Rekonstruktion versuchen, ältere Sprachstufen zu extrapolieren. In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse von Cavalli-Sforza et al. (1998) interessant und von grundsätzlicher Bedeutung: Danach sind genetische und sprachliche Verwandtschaft der Weltbevölkerung korreliert, ein Zusammenhang, der im Detail allerdings nicht klar nachzuweisen ist. Wir wollen an dieser Stelle nur einen Aspekt und Gedanken weiterverfolgen: Wenn die Völker Südafrikas den Ausgangspunkt der weltweiten Wanderungsbewegungen bilden, dann ist es plausibel und interessant, sich die Sprachen ihrer Nachkommen anzusehen. Unter den Völkern Südafrikas sind die Khoisan besonders interessant, da sie über ein breites Siedlungsgebiet verteilt lebten und stammesgeschichtlich zu den ältesten Völkern zählen. In den Khoisan-Sprachen finden sich zahlreiche Schnalzlaute, die in anderen Sprachen nicht oder nur rudimentär auftreten (s. Kap. 39). Eine Hypothese lautet nun, dass die Schnalzlaute in den Khoisan-Sprachen Relikte einer alten Sprachform sind, ja, Relikte einer Protosprache, die in den Migrationssprachen dann aufgegeben wurden.

Wenn wir von der Monogenese der sprachlichen Entwicklung ausgehen, dann stellt sich die Frage, warum es so viele unterschiedliche Sprachen gibt. Warum so unterschiedliche grammatische Strukturen und nicht nur einen Bauplan für alle Sprachen? Warum unterschiedliche Lautstrukturen, warum unterschiedliche Benennungsstrategien? Das Stichwort lautet Sprachvariation und Sprachwandel, und der Schlüssel zur Beantwortung der Fragen liegt wiederum in der Evolution und in Adaptions- und Selektionsprozessen. Mit veränderten Umweltbedingungen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Existenzbedingungen ändern sich kommunikative Notwendigkeiten. Sprache als ein Werkzeug, wie es Karl Bühler gesehen hat (s. Kap. 21), stellt für unterschiedliche Aufgaben unterschiedliche konkrete Werkzeuge zur Verfügung. Sprachliche Differenzierung und Variation ist Resultat sich ändernder und veränderter Umweltbedingungen. Die Anpassungsprozesse haben für die Sprecher einen wie auch immer motivierten kommunikativen Mehrwert. Stellen wir uns vor, dass in einer kleinen Sprachgemeinschaft von Jägern und Sammlern bestimmte Laute bei der gemeinsamen Jagd eine bestimmte Funktion haben, z.B. um leise und sprachlich maskiert zu interagieren. Wenn Sprecher dieser Sprachgemeinschaft nun sesshaft werden und Viehzucht betreiben, sind diese spezifischen Laute funktional nicht mehr notwendig und können (müssen aber nicht) aufgegeben werden. Stellen wir uns weiter vor, dass die Sprechergruppe S auf eine andere Sprechergruppe S’ trifft, die ähnlich spricht, aber die spezifischen ›Jagdlaute‹ nicht im Lautrepertoire hat. Im Zusammenleben beider Sprechergruppen und wegen der funktionalen Überflüssigkeit der Laute gibt die Sprechergruppe S in der neuen, vereinheitlichten Sprachgemeinschaft nun (möglicherweise) die Laute auf. Nehmen wir weiter an, dies wäre so. Der Wegfall der Laute führt sprachsystematisch zu Lücken, die nun in einer bestimmten Art und Weise mit lautlichem Material gefüllt werden, z.B. wenn die Laute vor einem Vokal stehen und eine Silbe bilden und bei Wegfall der Silbenanfangsrand durch einen spezifischen Laut aus dem eigenen Lautsystem besetzt wird. Fassen wir unser fiktives Beispiel zusammen und konkretisieren es:

1. Im System der Sprechergruppe S gibt es die ›Jagdlaute‹ /k/, /kh/, /g/, die am Silbenanfang stehen, z.B. /ka/, /ko/, /kha/, /khe/, /ga/.

2. Aufgrund äußerer Bedingungen werden diese Laute aufgegeben.

3. Die phonologische Lücke wird ersetzt durch /q/, also /qa/, /qe/, /qo/.

Nehmen wir nun weiter an, Sprechergruppe S’ hat ebenfalls den Laut /q/ im Sprachsystem und der Silbenanfang wird ebenfalls konsonantisch (durch die Plosive k, t, p) besetzt, allein vor den Lauten /e/ und /i/ nicht, dort besteht eine Lücke. Sprecher von S’ übernehmen nun den Ersetzungsprozess von S, allerdings nur vor den Lauten /e/ und /i/. Oder anders formuliert: Am Silbenanfang und vor den Vokalen /e/ und /i/ wird der Konsonant /q/ inseriert. Da wir angenommen haben, dass die Lücke silbeninitial nur vor /e/ und /i/ besteht, lässt sich die Ersetzungsregel vereinfachen: Am Silbenanfang wird die Lücke durch /q/ ersetzt.

 

Aus dem zugegebenermaßen stark konstruierten Beispiel lässt sich ableiten, dass zwei Aspekte für Veränderungsprozesse eine Rolle spielen: 1. sprachexterne Faktoren und 2. sprachinterne Faktoren. Wir müssen also sprachliche Veränderungen in Beziehung zur Umwelt sehen (Sprachsystem – Umweltsysteme) und auch reflexive Veränderungen im Sprachsystem selbst. Wir werden auf diese Punkte in Kap. 66 genauer eingehen und an Beispielen verdeutlichen.

15 Sprachen und Sprachfamilien

Werfen wir einen Blick auf die heutigen Sprachen der Welt, so stellen wir fest, dass diese so unterschiedlich sind, dass ein Sprecher der Sprache A (z.B. Deutsch) einen Sprecher der Sprache B (z.B. Chinesisch) nicht verstehen kann, partiell aber einen der Sprache C (z.B. Niederländisch). Die Unterschiede bestehen im Lexikon und im Sprachbau. Prüfen wir in einem deutsch-englischen und deutsch-niederländischen Wörterbuch den Eintrag ›Buch‹ so finden wir ›book‹ und ›boek‹. Auch wenn die Wörter unterschiedlich sind, springen einem die Parallelen ins Auge, und man könnte die Hypothese aufstellen, dass, wenn man weiß, wie die Wörter ausgesprochen werden, alle drei Einträge systematisch den Laut b gemeinsam haben, dass der ch-Laut dem Laut k entspricht und das dt. u dem engl. und ndl. u-Laut, geschrieben oo bzw. oe. Es könnte Zufall sein – aus einem Beleg kann man noch nichts schließen –, es könnte aber auch ein systematischer Zusammenhang bestehen, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Sprachen regional benachbart sind. Im chinesischen Wörterbuch finden wir den Eintrag, ausgesprochen wie dt. ›Schuh‹, aber mit einem Hochton verbunden, orthografisch auch <shū>. Anders als im Deutschen, Niederländischen und Englischen gibt es (a) keinen Silbenendrand, die Silbe ist offen; (b) ist der Anfangslaut ein anderer und (c) liegt zwar ein gemeinsamer Vokal vor, aber dieser ist mit einem Hochton verbunden (und dieser Ton hat sogar eine bedeutungsdifferenzierende Funktion). Die sprachlichen Gemeinsamkeiten sind deutlich geringer, die regionale Distanz zwischen dem Verbreitungsgebiet China einerseits und Europa andererseits ist groß. Man könnte die Hypothese aufstellen, dass das Chinesische nur wenig oder gar nicht in einem systematischen Zusammenhang zu sehen ist mit den drei europäischen Sprachen, aber wiederum gilt: Aus dem wenigen Sprachmaterial kann man keine weitreichenden Folgerungen ziehen.

Vergleicht man den Sprachbau der Sprachen der Welt und ihre diachronen Entwicklungen, so haben die evolutionär bedingten Aufspaltungsprozesse dazu geführt, dass es heute Sprachen gibt, die isoliert auftreten (das Baskische), und solche, die aufgrund von Verwandtschaftsverhältnissen zu größeren Gruppierungen zusammengefasst werden können, die miteinander genetisch verwandt sind. Man nennt die Makrogruppierungen Sprachfamilien. Man nimmt etwa 25 größere Sprachfamilien an, z.B. die indoeuropäische Sprachfamilie, die sinotibetische, Austroasiatisch, Uto-Aztekisch usw. (s. auch Tab. 3). Ziel der vergleichend-historischen Sprachwissenschaft ist es u.a., aus Verwandtschaftsbeziehungen Stammbäume zu rekonstruieren bis zu einer Protosprache, aus der sich die Sprachen einer Sprachfamilie ableiten lassen. Es gibt sogar den Versuch, bis an die Wurzel eines Stammbaumes aller Sprachen eine Ursprache zu rekonstruieren, eine allen Sprachen gemeinsame Vorgängersprache.


Sprachfamilie Sprachen Sprecherzahl (N in Mio.) Verbreitung
Indogermanisch 220 3000 Europa, Südasien, heute weltweit
Sinotibetisch 335 1288 China, Südostasien
Niger-Kongo 1364 354 West-, Zentral-, Südafrika
Afroasiatisch 311 347 Nordafrika, Naher Osten
Austronesisch 1119 296 Taiwan, Philippinen, Indonesien, Pazifischer Ozean, Madagaskar
Dravidisch 27 220 Süd, Zentral-, Nordindien, Pakistan
Turkisch 37 160 West-, Zentralasien, Osteuropa, Sibirien
Japanisch-Ryukyu 4 125 Japan, Okinawa

Tab. 3: Sprachfamilien mit N > 100 Mio.

Die Ausdifferenzierung der heutigen Sprachen und Sprachfamilien ist maximal bis zu Beginn des Holozän (um 11 700 v. Chr.) rekonstruierbar, so meinen die einen, andere glauben, dass die untere zeitliche Grenze bei 8000 v. Chr. liegt. Allgemein wird angenommen, dass die Ausdifferenzierung der Sprachen auch in diesem Zeitraum liegt. Gemessen an dem Alter der Sprache des Homo sapiens (s. Kap. 13) ist dies eine vergleichsweise junge Entwicklung. Am besten untersucht ist die indoeuropäische Sprachfamilie, die auch zugleich mit 3 Milliarden Sprechern die meistverbreitete Sprachfamilie ist. Auf der Basis sprachwissenschaftlicher, archäologischer, historischer und genetischer Untersuchungen wird angenommen, dass sich die erste Aufspaltung des Proto-Indoeuropäischen vor maximal 9500 Jahren vollzog.

August Schleicher (*19.2.1821 in Meiningen, †6.12.1868 in Jena)

August Schleicher wurde im thüringischen Meiningen geboren und studierte zunächst einige Semester Theologie und anschließend orientalische Sprachen, wobei er auch Hebräisch, Sanskrit, Arabisch und Persisch erlernte. Er promovierte und habilitierte in Bonn und wurde dort Privatdozent, bis er 1850 eine Professur für klassische Philologie und Literatur in Prag erhielt. Von 1857–1868 hatte er eine Professur für deutsche und vergleichenden Sprachwissenschaft und des Sanskrit in Jena inne, wo er am 6. Dezember 1868 verstarb.

Schleicher zählt zu den Mitbegründern der Indogermanistik und gilt als Vater der sog. Stammbaumtheorie in der vergleichenden Sprachwissenschaft. Aufgrund von Sprachvergleichung und parallel zur Evolutionstheorie in der Biologie rekonstruiert er die Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie in Form eines Abstammungsbaumes. Die Ergebnisse finden sich in seinem 1861 publizierten berühmten Werk Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. In der Einleitung heißt es: Die Methodik der Sprachwissenschaft »ist im wesentlichen die der naturwißenschaften überhaupt; sie besteht in genauer beobachtung des objectes und in schlüßen, welche auf die beobachtung gebaut sind. Eine der hauptaufgaben der glottik [Sprachwissenschaft, P.S.] ist die ermittelung und beschreibung der sprachlichen sippen und sprachstämme, d.h. der von einer und der selben ursprache ab stammenden sprachen und die anordnung dieser sippen nach einem natürlichen systeme« (Schleicher 1961: 2). Interessant, wenn auch heute (zu) wenig beachtet, ist sein 1873 erschienenes Werk Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft.

Die Komponenten indo- und -europäisch in der Bezeichnung der Sprachfamilie als indoeuropäisch oder auch indogermanisch deuten auf das Verbreitungsgebiet hin: die indische Gruppe im Osten und die europäische/germanische im Westen. Bereits 1786 wies der Indologe William Jones (1746–1794) Ähnlichkeiten des Sanskrit (Altindisch, hervorgegangen aus der Sprache der Veden) mit Griechisch und Latein nach. Das deutsche Wort ›Mutter‹ ist altindisch ma:tár-, gr. mé:te:r, lat. ma:ter. Als indoeuropäische Wurzel wird *ma:tér- angesetzt – der * gibt an, dass es sich um eine rekonstruierte Protoform handelt. Die Farbbezeichnung ›rot‹ geht zurück auf idg. *roudh-/ *rudh-. Aufgrund bestimmter lautlicher Merkmale wird die indoeuropäische Sprachfamilie traditionell in zwei Sprachzweige aufgeteilt, die Kentum- und die Satemsprachen nach (lat. centum und altiranisch satem für ›hundert‹), eine Unterteilung, die heute höchst umstritten ist. Zu den Satemsprachen sollen neben einer Reihe von indischen, iranischen und slawischen Sprachen die baltischen Sprachen, das Albanische und Armenische, zu den Kentumsprachen die germanischen Sprachen, keltische, italische Sprachen, Griechisch, Anatolisch, Tocharisch gehören.

Das Deutsche gehört wie das Englische und Niederländische zu den westgermanischen Sprachen. Man nimmt aufgrund vergleichender Studien an, dass das heute nicht mehr existierende Tocharische sich vor knapp 8000 Jahren abgespalten hat, das Griechisch-Armenische vor 7300 Jahren, das Albanisch-Persisch-Indische vor 7000 Jahren, das Keltische vor 6000 Jahren und das Italische und Germanische vor 5500 Jahren. Die Spaltungsprozesse hängen mit Migrationsbewegungen von Populationen zusammen und diese wiederum mit ökologischen (z.B. Klimaänderungen), ökonomischen und sozialen Veränderungen, insbesondere Ausbreitung der Landwirtschaft. Wie die indoeuropäischen Sprachen die alteuropäischen Sprachen (Baskisch ist eine solche, s.u.) ablösten, darauf gibt es bisher keine klare Antwort, weder seitens der Archäologie noch seitens der Paläogenetik und Linguistik. Aber die Herkunft scheint geklärt: Nach neuesten Forschungen sind Bauern aus Anatolien für den Sprachimport in Europa verantwortlich, sie brachten zusammen mit der Landwirtschaft und bäuerlichen Lebensweisen ihre Sprache aus Anatolien mit.

Der europäische Raum ist indoeuropäisch, wenn wir von Zuwanderersprachen wie Türkisch etc. absehen, doch eine Sprache hat der indoeuropäischen Invasion getrotzt: das Baskische. Auf der Basis von Genom-Untersuchungen kommt der Humangenetiker Cavalli-Sforza zu dem Schluss: »Die baskische Region erstreckte sich vormals (im Paläolithikum) fast auf das ganze Gebiet, in dem man die großen Felsmalereien und -skulpturen gefunden hat. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß die baskische Sprache von den Sprachen abstammt, die die modernen Cro-Magnon-Menschen (vor fünfunddreißig- bis vierzigtausend Jahren) bei ihrem ersten Eindringen in Südfrankreich und Nordostspanien gesprochen haben, und daß die großen Künstler der Grotten in der Region eine von den ersten Europäern herkommende Sprache redeten, aus der sich das moderne Baskisch ableitet« (Cavalli-Sforza 2001: 135 f.). Das Baskische, das sich in seiner linguistischen Struktur von den anderen indoeuropäischen Sprachen deutlich unterscheidet (z.B. kein Genussystem), ist das Überbleibsel einer vor-indoeuropäischen Sprachfamilie, dem Vaskonischen, das seine sprachlichen Spuren in topografischen Bezeichnungen (Flüsse, Berge, Täler und Siedlungen) hinterlassen hat. Ein heiß diskutierter Fall ist die Städtebezeichnung München, die üblicherweise von lat. monachus ›Mönch‹ bzw. ital. monaco, mhd. munich abgeleitet und, da in der ersten urkundlichen Erwähnung apud Munichen steht, mit ›bei den Mönchen‹ interpretiert wird; im Stadtwappen von München ist schließlich auch ein Mönch abgebildet. Der Sprachwissenschaftler Theo Vennemann ist jedoch anderer Meinung, was in der Münchner Presse für große Aufregung sorgte: mun- bedeutet im heutigen Baskisch ›Ufer, Böschung, Bodenerhebung‹, -ic- ›Örtlichkeit‹ und -a drückt den bestimmten Artikel aus. Die Zusammensetzung ergäbe deshalb die Lesart ›der Ort auf der Uferterrasse‹, und das ursprüngliche München befand sich auf einer Uferterrasse (vgl. Vennemann 1997).

 

Das Baskische ist eine im indoeuropäischen Sprachengebiet isolierte Sprache, aber sie ist heute nicht isoliert von romanischen Sprachen, im Baskenland herrscht Mehrsprachigkeit. Das Spanische und Französische als Kontaktsprachen haben das moderne Baskisch erheblich beeinflusst, sodass Interferenzen, Entlehnungen, bestimmte Reduktionen usw. zu beobachten sind. Sprachkontakt ist eine zentrale Konstante in der Entwicklung der Sprachen (s. auch Kap. 70).

16 Was haben Sprachen gemeinsam?

Worin sind Sprachen typischerweise gleich und worin unterscheiden sie sich? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der so genannten Sprachtypologie. Der Begriff ›Sprachtypologie‹ geht zurück auf den Sprachwissenschaftler Georg von der Gabelentz (1840–1893), der mit seinem 1891 erschienenen Buch Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse wesentliche Grundlagen der allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft gelegt hat. In seinem Buch heißt es: »welcher Gewinn wäre es auch, wenn wir einer Sprache auf den Kopf zusagen dürften: Du hast das und das Einzelmerkmal, folglich hast du die und die weiteren Eigenschaften und den und den Gesamtcharakter! – wenn wir, wie es kühne Botaniker wohl versucht haben, aus dem Lindenblatte den Lindenbaum construiren könnten. Dürfte man ein ungeborenes Kind taufen, ich würde den Namen Typologie wählen« (Gabelentz 1984: 481). Was Gabelentz hier skizziert, ist ein Erkenntnisprinzip, demnach Eigenschaften einer Sprache so aufeinander bezogen sind, dass aus der einen Eigenschaft einer Sprache auf andere Eigenschaften derselben und dass aus einer Summe von Eigenschaften auf den Typ einer Sprache rückgeschlossen werden kann. Dahinter steckt die Idee, über Gemeinsamkeiten allgemeine Strukturen von Sprachen feststellen zu können. Solche allgemeinen Strukturen werden als sprachliche Universalien bezeichnet.

Unter den aus dem systematischen Vergleich von Sprachen ermittelten Universalien gibt es solche, die ausnahmslos und uneingeschränkt gelten, und solche, die nur partiell gelten. Man spricht von absoluten und relativen Universalien. Die Universalie ›Eine Sprache hat mindestens drei Vokale‹ gilt absolut. Für alle Sprachen gilt auch, dass sie den Silbentyp Konsonant-Vokal (z.B. dt. Vo-ka-le oder jap. na-ka-ma = Freund, Kamerad) aufweisen.

Ein anderes Beispiel ist die Wort- und Satzgliedstellung. Betrachtet man den einfachen Aussagesatz und prüft die Stellung von Subjekt (S) und Objekt (O) in Bezug zum Verb (V), so lassen sich zwei zentrale Stellungstypen finden, nämlich SVO und SOV:


1 Englisch (SVO)
The man hit the ball.
2 Japanisch (SOV)
Taro-ga tegami-o kakimasu
Name-Subj Brief-dO schreiben
Taro schreibt einen Brief / Briefe.

Nach verschiedenen Untersuchungen zeigt sich, dass die Sprachen der Welt zwischen 85 % und 90 % SOV oder SVO aufweisen, der erste Typ tritt dabei ein wenig häufiger auf. Die Stellungstypen VSO, VOS kommen demgegenüber selten, OVS und OSV extrem selten vor.

Eine kleine Nebenbemerkung zu den exzeptionellen Mustern OVS und OSV: In der Star-Wars-Saga weist der Jedi-Meister Yoda in seiner Sprache eine besondere Wortstellungsvariante auf. Yoda gehört zu einer nicht weiter bezeichneten Spezies, ist 66 cm groß und mehrere Jahrhunderte alt und hat zahlreiche Schüler im Gebrauch der ›Macht‹ ausgebildet. Seine Sprache ist durch eine stark markierte Wortstellung gekennzeichnet, nämlich OSV, z.B.: ›Ein seltsames Gesicht du machst.‹ Es ist der Stellungstyp, der in den Sprachen der Welt am seltensten vorkommt. Die Macher der Saga haben also (bewusst oder intuitiv) jene Stellungsvariante gewählt, die am stärksten vom Normalen abweicht. Dadurch wird das Fremde auch sprachlich markiert. Auch das Klingonische, eine voll ausgearbeitete fiktionale Sprache (Star Trek), hat eine stark markierte Wortstellung, nämlich OVS (3a, b).


3 Klingonisch (OVS)
(a) puq legh yaS
Kind 3s.sieht.3s Offizier
Der Offizier sieht das Kind.
(b) yaS legh puq
Das Kind sieht den Offizier.

Das Deutsche stellt einen Mischtyp von SVO und SOV dar, genauer: Es gibt beide Muster in Abhängigkeit von der Satzstruktur. Zunächst ist zwischen Hauptsatz und Nebensatzstellung zu unterscheiden. Im Hauptsatz liegt SVO vor, z.B. Er betritt das Haus, im Nebensatz hingegen SOV Ich beobachte ihn, während er das Haus betritt. Ändert sich der Satzmodus, kann das Verb in Spitzenposition stehen, z.B. Betritt er das Haus? Das Subjekt steht aber in allen Fällen vor dem Objekt (wie bei 99 % aller Sprachen). Zudem kompliziert sich das Stellungsverhalten dadurch, dass das Deutsche die sog. Satzklammer bildet (s. hierzu Kap. 48).

Joseph Harold Greenberg (*28.5.1915 in New York; † 7.5.2001 in Stanford) Joseph Greenberg wurde am 28. Mai 1915 in Brooklyn geboren. Über die Musik kam er zur Sprachwissenschaft, bereits mit 14 Jahren gab er ein Klavierkonzert in der Steinway Hall. Er studierte an der Columbia University in New York, u.a. bei Franz Boas (1858–1942), und später an der Northwestern University in Chicago, wo er auch die Hausa-Sprache lernte. Nach der Dissertation studierte er in Yale, unterrichtete ab 1948 Anthropologie an der Columbia University und ab 1962 an der Stanford University.

Berühmt wurde Greenberg durch seine sprachtyplogischen Arbeiten, seine Arbeiten zur Sprachklassifikation und insbesondere durch sein 1966 erschienenes Buch Language Universals: With Special Reference to Feature Hierarchies. Roman Jakobson hat bereits 1963 die Bedeutung der Greenberg’schen Universalienforschung erkannt und hervorgehoben: »Auf der grammatischen Ebene ist J.H. Greenbergs Auflistung von 45 implikativen Universalien eine eindrucksvolle Leistung. […] diese Daten (bleiben) unschätzbare und unentbehrliche Voraussetzungen für eine neue Sprachtypologie und für eine systematische Übersicht der universalen Gesetze der grammatischen Schichtung« (Jakobson 1992: 499).

Neben rein statistisch verteilten Universalien und absoluten gibt es solche, die eine hierarchische Ordnung angeben, sie werden als implikative Universalien bezeichnet. Die Ordnungsrelation hat das Grundmuster ›Wenn A gilt, dann folgt daraus B‹. Hierunter fallen Aussagen wie ›Wenn eine Sprache einen Plural hat, dann hat sie einen Singular‹, ›Ein Genusunterschied beim Nomen impliziert einen Genusunterschied beim Pronomen‹ oder ›In Sprachen mit Präpositionen folgt fast immer die Genitivphrase der Nominalphrase‹, z.B. dt. das Buch des Lehrers. Dies gilt aber eben nicht immer, z.B. Peters Buch oder des Kaisers neue Kleider. Hier liegt eine präferierte, statistisch wahrscheinliche Implikation vor. Ein anderes Beispiel ist die folgende Korrelation von Wortstellungstyp und Präpositional-/Postpositionalgruppe. Sprachen mit VSO-Stellung sind fast immer präpositional (P-NGr, entspricht dt. entlang des Weges), Sprachen mit SOV-Stellung fast immer postpositional (NGr-P, entspricht dt. den Weg entlang). In der SOV-Sprache Japanisch steht naka (dt. in) nach dem Nomen: Biru no naka ›in dem Hochhaus‹. Es gibt auch semantische implikative Universalien: Eine Sprache, die die Farbbezeichnungen rosa oder orange hat, hat ebenso Bezeichnungen für braun, blau, grün, gelb und rot.