Grundfragen der Sprachwissenschaft

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Sprache und Sprachen

9 Wie viele Sprachen gibt es auf der Welt?

Die meistgenannte Zahl ist ca. 6500. Eine genaue Festlegung ist allerdings kaum möglich, da zum einen nicht alle Sprachen erfasst sind (z.B. im Amazonasgebiet) und zum anderen sich die Frage stellt, was eine Sprache und was eine Sprachvariante ist. Ist das Schweizerdeutsche eine eigene Sprache oder eine Variante des Deutschen?

Die für Sprachwissenschaftler wichtigste Quelle ist die nunmehr in 16. Auflage vorliegende Ethnologue-Enzyklopädie (Lewis 2009). Dort sind 6909 Sprachen aufgelistet, 473 der Sprachen gelten als stark bedroht. Das Chinesische (Mandarin) ist die Sprache mit den meisten Muttersprachlern, das Deutsche steht an 10. Stelle (vgl. Tab. 1).


Sprache Anzahl Muttersprachler
1. Chinesisch 1.213.000.000
2. Spanisch 329.000.000
3. Englisch 328.000.000
4. Arabisch 221.000.000
5. Hindi 182.000.000
6. Bengali 181.000.000
7. Portugiesisch 178.000.000
8. Russisch 144.000.000
9. Japanisch 122.000.000
10. Deutsch 90.300.000

Tab. 1: Verteilung der Sprachen nach Muttersprachlern (nach Lewis 2009)

Die meisten Sprachen gibt es in Papua-Neuguinea (890), an zweiter Stelle steht Indonesien mit 790 Sprachen, an dritter Nigeria mit 514 Sprachen, es folgt Indien mit 445 Sprachen. Da die meisten Sprachen von weniger als 5000 Menschen gesprochen werden, geht man davon aus, dass ein Großteil der Sprachen aussterben wird und in 100 Jahren vielleicht nur noch 600 Sprachen existieren. Gründe hierfür liegen in Nationalisierungs- und Globalisierungsprozessen. In Deutschland gelten 13 Sprachen als gefährdet, darunter das Sorbische und Saterfriesische. In der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 haben sich die europäischen Staaten verpflichtet, ihre Regional- und Minderheitensprachen zu wahren und zu fördern.

10 Welche sprachlichen Grundtypen gibt es?

Seit Wilhelm von Humboldt (1767–1835) und August Wilhelm von Schlegel (1767–1845) gibt es den Versuch, die Sprachen der Welt in Grundtypen einzuteilen. Die entscheidenden Kriterien, nach denen Sprachen grundlegend klassifiziert wurden, sind der Formenreichtum, der Reichtum an Strukturen und die Art und Weise, wie diese Strukturen aufgebaut werden. In neueren Arbeiten ist dies insbesondere von Josef Greenberg (1915–2001) verfeinert worden (s. auch Kap. 16), an dieser Stelle soll es allein um die sprachlichen Grundraster gehen.

Eine erste Unterscheidung ist die in analytische bzw. isolierende Sprachen und synthetische Sprachen. Eine isolierende Sprache weist keine oder geringe Formenbildung auf. Der Prototyp einer isolierenden Sprache ist das klassische Chinesisch, wie Beispiel (1) von Sīm Qiān (145 v. Chr.–90 v. Chr.) zeigt. Auch das moderne Chinesisch ist weitgehend isolierend (2).


(1) Lo rén ér
alt Mensch Kind wein
Die alten Menschen weinten wie Kinder.
(2) Tā sòng tā yī běn shū
er schenk er ein KL Buch [tā = ›er‹]
Er schenkt ihm ein Buch.

Die Wörter treten im Satz ›isoliert‹ auf, d.h. es gibt – anders als im Deutschen – keine Endungen, die Kasus, Numerus, Tempus oder Aktiv/Passiv anzeigen (vgl. 3).


(3) Er schenk-t-e ihm ein Buch
er.Nom schenk-Prät-3s er.Dat ein.Akk Buch.Akk

Sprachen wie das Deutsche nennt man flektierende (›beugende‹, von lat. flectere ›beugen, biegen‹) Sprachen. Sie verändern sich in Abhängigkeit von Parametern wie Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) beim Substantiv und z.B. nach Tempus und Numerus beim Verb. Es tritt eine Reihe von Endungen auf, die grammatische Informationen tragen, wobei meistens keine Eins-zu-eins-Beziehung von Form und Funktion besteht. Ein Buch in (3) hat den Akkusativ, da die Wortgruppe als direktes Objekt auftritt, aber in dem Satz Ein Buch ist etwas Großartiges hat die gleiche Wortgruppe den Nominativ, denn sie nimmt die Funktion des Subjekts im Satz ein. Nominativ und Akkusativ sind hier also nicht zu unterscheiden, es liegt Formengleichheit vor (Fachterminus: Synkretismus). Zu den flektierenden Sprachen gehören u.a. die germanischen, romanischen und slawischen Sprachen.

Sprachen, bei denen eine eindeutige Beziehung zwischen Form und Funktion der Endungen vorliegt, nennt man agglutinierende Sprachen (lat. agglutinare, ›zusammenkleben‹). Sie gehören wie die flektierenden Sprachen zu den synthetischen Sprachen. Das Türkische ist eine typische agglutinierende Sprache (s. Tab. 2). Die besitzanzeigenden Endungen haben nach Person und Numerus eine eindeutige Form, das -i in evi (›sein/ihr Haus‹) kodiert die Information 3. Person Singular Possessivum, das -m in evim ›1. Person Singular Possessivum‹; das -i zwischen ev und -m ist ein Bindevokal, der die Aussprache erleichtert und die einfache Silbenstruktur des Türkischen aufrechterhält (zur Silbenstruktur s. Kap. 41). Im Türkischen gibt uns die Endung -lar die Information Plural, wir können nun bilden: okul (Schule) + lar + i-m → okullarim ›meine Schulen‹.


Singular Plural
1. Person ev-i-m ev-i-miz
2. Person ev-i-n ev-i-niz
3. Person ev-i ev-leri

Tab. 2: Possessivendungen im Türkischen ( ev = Haus)

Zum vierten Sprachbautyp gehören die polysynthetischen Sprachen. Sie sind den flektierenden ähnlich, aber es werden noch mehr Endungen (genauer: Affixe, s. Kap. 43) gebunden, die häufig weiter verschmelzen. Die einzelnen Wörter sind extrem komplex und dicht gepackt. Sätze haben die Tendenz, aus wenigen komplexen Wörtern zu bestehen. Die Indianersprachen der Nordwestküste Amerikas, wie das Nuu-chah-nulth (4,5), sind typische polysynthetische Sprachen. (In der obersten Zeile ist die gesprochene Form gegeben, die in der zweiten Zeile nach Bedeutungsbausteinen aufgelöst ist.)


(4) qašiama atuši
qa-ši-‘a-ma atuš-i
tot-Perf-Temp-Ind Hirsch-ART
Der Hirsch starb.
(5) ičiama qwayaċiki
i-či-’a-ma-ah qwayaċik-i
schieß-Perf-Temp-Ind-1s Wolf-ART
Ich schoss (auf) den Wolf.

Polysynthetische Sprachen haben eine Tendenz zur Inkorporation (s. 6). Damit ist gemeint, dass freie Wörter in ein anderes Wort integriert werden, insbesondere Substantive in das Verb. Im Deutschen tritt dieses Phänomen auch auf, z.B. wird aus der Verbindung die Ehe brechen das Verb ehebrechen. Das Bella Coola, das an der Pazifikküste Kanadas in British Columbia noch von etwa hundert älteren Personen gesprochen wird, ist eine polysynthetische Sprache, die zudem stark inkorporierende Züge aufweist. So können Körperteilbezeichnungen als Endungen in das Verb integriert werden (6):

 

(6) kma-ank-uik-ak--tx

schmerzen-Seite-Rücken-Hand/Arm-ich/mein-ART

Die Seite meines Handrückens schmerzt.

Sprachen, die stark inkorporieren, heißen inkorporierende Sprachen. Die unterschiedlichen Grundtypen treten praktisch nie in ›reiner‹ Form auf. Es handelt sich um eine Grobklassifizierung mit prototypischen Eigenschaften. Dennoch bilden sie ein ganz gutes Raster, und wenn man sich jeweils eine typische Sprache aus diesen Grundtypen genauer angesehen hat, dann kann einen im Hinblick auf linguistische Strukturen kaum noch eine Sprache überraschen.

11 Welche ist die schwierigste Sprache der Welt?

Wenn man unter ›schwierig‹ versteht, dass etwas viel Kraft, Mühe, große Anstrengung erfordert, und wenn man Mark Twains Ausführungen in seinem Reisebericht Die schreckliche deutsche Sprache folgt, dann ist das Deutsche die am schwersten zu erlernende Sprache. Denn: »Nach meiner Erfahrung braucht man zum Erlernen des Englischen 30 Stunden, des Französischen 30 Tage, des Deutschen 30 Jahre. Entweder reformiere man also diese Sprache, oder man lege sie zu den toten Sprachen, denn nur die Toten haben heutzutage noch Zeit genug, sie zu erlernen« (Twain o.A.: 161).

Ob eine Sprache schwer oder leicht zu erlernen ist, hängt von ihrer Komplexität ab und von den Ausgangsvoraussetzungen. Für jemanden, der Latein gelernt hat, ist es leichter, eine romanische Sprache zu lernen, als für jemanden, der es nicht gelernt hat. Ein Muttersprachler des Dänischen wird das auf dem Dänischen basierende Bokmål, eine der beiden Standardsprachen Norwegens, leichter erlernen als ein Muttersprachler des Tibetischen. Von daher kann man nicht bestimmen, welche die schwierigste Sprache der Welt ist. Aber als Faustregel kann man festhalten: Je stärker eine zu erlernende Sprache von den muttersprachlichen Strukturen abweicht, desto schwieriger ist es, sie zu erlernen.

Es gibt noch einen zweiten Aspekt, der zu berücksichtigen ist: die Komplexität. Eine Sprache, die statt vier Kasus wie das Deutsche (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) 15 Kasus hat wie das Finnische, ist im Hinblick auf diese Kategorie komplexer, und höhere Komplexität erfordert in der Regel eine erhöhte Lernanstrengung. Allerdings gibt es nicht die komplexeste Sprache, da immer nur einzelne Teilstrukturen komplexer oder weniger komplex sind. Also auch von daher gibt es nicht die schwierigste Sprache der Welt – vielleicht mit einer Ausnahme: das Ithkuil.

Das Ithkuil ist eine von dem Amerikaner John Quijada konstruierte Sprache (s. auch Kap. 18), die linguistisch so komplex ist, dass sie schwer zu erlernen ist. Das Ithkuil verfügt über 65 Konsonanten, 17 Vokale, 13 Diphthonge (wie au) und 7 Töne. Es gibt 81 Kasus, 200 konsonantische Suffixkategorien mit neun Graden, sodass 1800 unterschiedliche Suffixkategorien gebildet werden können. Das Basislexikon besteht aus 16200 Stämmen, die aus 900 Wurzeln abgeleitet sind (1). Im Schriftsystem ist lautliche und morphologische Information kodiert, die Schreibrichtung ist wie bei alten griechischen Inschriften bustrophedonal (von gr. bous ›Ochse‹ und strephein ›wenden‹ = wie der Ochse pflügt), d.h. sie geht von links nach rechts und von rechts nach links. So weit nur einige Punkte.

(1) Ai’tilafxup embuliëqtuqh.

DYN-CTX/ASR/PPS-RCP-‘sprech-NRM/PRX/N/ASO/CST-SIM1/9-IFLSTA-‘land’-IND-NRM/DEL/M/CSL/UNI-MET1/6-INL1/9-IFL

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.

[wörtlich: Jede Person im Land sprach die Sprache in gleicher Art zueinander.]

Der feinen Differenzierung und Detaillierung sowie dem logischen Aufbau des Ithkuil liegt die Idee zugrunde, eine Sprache zu konstruieren, die möglichst eindeutig ist und in der Vagheit so weit als möglich ausgeschlossen werden kann: »Natural human languages are notorious for their semantic ambiguity, polysemy (multiple meanings for a given word), semantic vagueness, inexactitude, illogic, redundancy, and overall arbitrariness. Theoretically, it should be possible to design the language to minimize these various characteristics in favor of greater semantic precision, exactitude, and specification of a speaker’s cognitive intent« (Quijada 2011: Introduction5). Das Ithkuil ist eine formalisierte Sprache auf der Folie linguistischer Prinzipien natürlicher Sprachen. Ob es überhaupt möglich ist, eine ›exakte‹ Sprache zu konstruieren, ist ein Problem, das eine lange Tradition hat (s. hierzu Kap. 99).


Abb. 4: Ornamentalschrift des Ithkuil4

12 Hat nur der Mensch Sprache?

In dem Science-Fiction-Roman Sternenflut von David Brin werden Delfine genetisch manipuliert (»geliftet«), um in Koexistenz mit den Menschen spezifische Aufgaben übernehmen zu können. Die Delfine beherrschen drei Sprachen: das Primal, die Ursprache der Delfine, eine einfache Sprache, die die Spezies untereinander und in bestimmten Situationen (Gefahr: Hilferufe) ›spricht‹. Das Trinär ist eine Haiku-artige Sprache, deren Symbolhaftigkeit sich einer sachlichen Logik entzieht und die primär in der Kommunikation mit den Menschen angewandt wird, mit entsprechenden Interpretationsproblemen. Das Anglische als die Englisch-Variante der zukünftigen Menschen ist die dritte Sprache, die von den Delfinen allerdings nur rudimentär ›gesprochen‹ wird.

So weit die Fiktion. Doch auch wenn sich die Spezies der Delfine vom Menschen und an Land lebenden Säugetieren stark unterscheidet und folglich die Kommunikationsformen abweichen – Delfine und andere Walarten verfügen über keinen Gesichtsausdruck und mimische Gesten –, so zeigen Untersuchungen (Lilly 1969), dass Delfine über hochfrequente Signale Informationen austauschen und durch ihre Körpersprache Gemütsverfassungen mitteilen. Delfine haben multimodale Imitationsfähigkeiten. Die akustischen Signale, die vom Menschen als Pfeif-, Grunz- und Quietschlaute wahrgenommen werden, dienen zur Koordinierung der Jagd, der Kommunikation beim Paarungsverhalten, zur Abwehr von Feinden etc. Jeder Delfin verfügt über einen Idiolekt und Delfingruppen entwickeln eigene Dialekte. Und Delfine sind wie Schimpansen in der Lage, eine Zeichensprache zu lernen. Bei Experimenten konnte bewiesen werden, dass Delfine bis zu 60 Einzelzeichen erlernen, die sie zu drei Zeichenverbindungen kombinieren können. Ein Delfin ist in der Lage, die Einzelzeichen ›Ball‹, ›Reifen‹, ›holen‹ in der Zeichenfolge ›Ball – holen – Reifen‹ als Befehl ›Hole den Ball und bringe ihn zum Reifen‹ und die Zeichenfolge ›Reifen – holen – Ball‹ als ›Hole den Reifen und bringe ihm zum Ball‹ zu interpretieren. Offensichtlich werden die Zeichensequenzen als eine Handlungsanweisung des Typs ›Bewege das Objekt X zum Zielpunkt Y‹ verstanden. In einer jüngsten Studie konnte bei einem Weißwal erstmals das Nachahmen menschlicher Stimmen nachgewiesen werden. Die um Oktaven tiefer liegenden menschlichen Lautstrukturen erzeugte der Wal »by varying his nasal tract pressure and making concurrent muscular adjustments of the vibrating phonic lips while over-inflating vestibular sacs« (Ridgway et al. 2012: R861).

Neben den Walen sind Schimpansen kleine Sprachkünstler, die nicht nur durch die Fähigkeit des Nüsseknackens und Termitenangelns beeindrucken, sondern vermutlich gerade wegen des Gebrauchs von Werkzeugen auch Sprachfähigkeiten entwickelt haben. Motorisch sind Schimpansen nicht in der Lage zu sprechen, da die Anatomie des Kehlkopfs, der Zunge und des Gaumens nicht zur Artikulation der Sprache geeignet sind. Wie aber Untersuchungen seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts beweisen, sind Schimpansen kognitiv in der Lage, sprachlich, wenn auch nicht lautsprachlich zu kommunizieren. Berühmt ist die Schimpansin Washoe, die in der ›American sign language (ASL)‹ unterrichtet wurde. Washoe erlernte innerhalb von vier Jahren 132 ASL-Zeichen und konnte diese in neue Kontexte sinnvoll einsetzen.

Eine zweite Berühmtheit ist Sarah, die 130 Wortsymbole unterscheiden und diese auf einer Magnettafel zu sinnvollen Einheiten zusammensetzen konnte. Die Psychologen, die Sarah trainiert hatten, stellen fest: »Verglichen mit einem zweijährigen Kind kann Sarah sich in der Sprachfähigkeit durchaus behaupten« (Premack/Premack 1972: 430). Ein wesentlicher Einwand gegen Schlussfolgerungen dieser Art war jedoch die Tatsache, dass die Schimpansen in Experimenten und über Belohnungssysteme die Sprache antrainiert bekommen hatten, sie waren konditioniert. Dies wäre mit keinem natürlichen Spracherwerb wie bei Kindern vergleichbar. Und diese berechtigte Kritik relativiert die Ergebnisse in der Tat. Doch dann erscheint Anfang der 80er Jahre Kanzi auf der Bildfläche der Primatenforschung.

 

Kanzi, Sohn eines sprachtrainierten Bonoboweibchens namens Matata, kam im Alter von sechs Monaten mit graphischen Symbolen, Gesten und gesprochener Sprache in Kontakt. Anders als in den Vorgängerstudien wurde er jedoch nicht konditioniert, sondern es blieb bei Angeboten und Ermunterungen. Das Ergebnis war überraschend. Kanzi erwarb die Kompetenz, Einwort- und Mehrwortsätze zu produzieren, und ein Vergleich mit den rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten eines zweijährigen Mädchens ergab Ähnlichkeiten (Savage-Rumbaugh et al. 1993). Savage-Rumbaugh, die Primatologin, die mit Kanzi arbeitete, zog daraus die Schlussfolgerung, dass wir unsere Sichtweise auf das »Lebewesen Affe revidieren müssen. Wenn Affen Sprache auf die gleiche Art wie Menschen – das heißt ohne besonderen Unterricht – erwerben können, dann bedeutete das, daß der Mensch keine einzigartige Form von Intelligenz besitzt, die sich grundlegend von der aller Tiere unterscheidet. Vielleicht war es für den Homo sapiens ein besonderes Geschehen, daß er sprachähnliche Laute hervorbringen oder Werkzeuge herstellen konnte, aber das bedeutet nicht, daß er die Dinge auf einer ganz anderen Ebene verstand als die übrigen Lebewesen« (Savage-Rumbaugh/Lewin 1995: 159).

Trotz Kanzis Sprachfähigkeiten besteht zwischen diesen und der menschlichen Sprachfähigkeit nicht nur ein gradueller, sondern ein qualitativer, kategorialer Unterschied. Aber dennoch: Das sprachliche Potenzial bei Affen lässt den Schluss zu, dass subhumane Primaten über protosprachliche Fähigkeiten verfügen. Diese können als ein wichtiger Aspekt der Sprachevolution und als Ausgangspunkt der Phylogenese der menschlichen Sprache gesehen werden.

13 Über den Ursprung der Sprache

Dass Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen habe, dies nachzuweisen war der Versuch des deutschen Pfarrers Johannes Peter Süßmilch (1707-1767) in seiner 1766 publizierten Schrift Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, in der academischen Versammlung vorgelesen und zum Druck übergeben. Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet die Überlegung, dass die Sprache so vollkommen sei, dass nur der Schöpfer dieses Wunderwerk habe vollbringen können. Mit und seit der natur- und sprachwissenschaftlichen Betrachtung von Sprache wird nicht Gott als Schöpfer, sondern die Evolution als zentraler Entwicklungsfaktor von Sprachfähigkeit gesehen. In einer modernen Fassung lautet die evolutionstheoretische Hypothese wie folgt: »Social communication has been around for as long as animals have interacted and reproduced sexually. Vocal communication has been around at least as long as frogs have croaked out their mating calls in the night air. Linguistic communication was an afterthought, so to speak, a very recent and very idiosyncratic deviation from an ancient and well-established mode of communicating« (Deacon 1997: 52). Sprachentwicklung wird als ein Adaptions- und Selektionsprozess begriffen: »Instead of approximating an imaginary ideal of communicative power and efficiency, or following formulae derived from an alleged set of innate mental principles, language structures may simply reflect the selection pressures that have shaped their reproduction« (ebd. S. 111).

Es sind besondere Entwicklungsschritte, die in Zusammenhang mit der Sprachentwicklung, der Phylogenese von Sprache gesehen werden:

1. Die Vergrößerung des Gehirns auf 700 bis 1300 Kubikzentimeter beim Homo erectus gegenüber dem Homo habilis. Eine Hypothese lautet, dass die Sprachentwicklung die Ursache für das Gehirnwachstum sei, eine andere, dass das Gehirnwachstum Sprachentwicklung bedingt (vgl. Kap. 74), eine dritte, dass Gehirnwachstum und Sprachentwicklung interdependent verliefen.

2. Der Nachweis des motorischen Sprachzentrums (Broca-Zentrum) durch Endocraniumabdruck eines Homo-erectus-(Sinanthropus-)Schädels (Zhoukoudian).

3. Die Veränderung des Stimmtrakts, nämlich eines tief liegenden Kehlkopfs. Der Stimmtrakt des Steinheim-Menschen (vor 300 000 Jahren), so zeigt die Rekonstruktion, ist unserem heutigen sehr ähnlich. Damit sind gegenüber anderen Primaten alle Voraussetzungen für artikulierte Sprache gegeben.

4. Die Rückbildung der Kiefermuskulatur hat dazu beigetragen, dass »die für das Sprechen erforderlichen Bewegungen des Unterkiefers im Laufe der Evolution immer besser kontrolliert werden konnten« (Carroll 2008: 262).

5. Die Schimpansenforschung zeigt, dass auch andere Primaten über Sprachfähigkeit verfügen (s.u. und Kap. 12). Dieser Punkt ist besonders interessant, da in der Primatenforschung die Schnittstelle von menschlicher und nicht-menschlicher Sprachfähigkeit besonders gut untersucht werden kann und zahlreiche Ergebnisse aus empirischen Studien vorliegen.

Johann Gottfried von Herder (*25.8.1744 in Mohrungen, †18.12.1803 in Weimar)

Herder hat als Philosoph, Dichter und Übersetzer zusammen mit Goethe, Schiller und Wieland das ›Viergestirn‹ der Weimarer Klassik bildend, die deutsche Klassik und Romantik wesentlich beeinflusst, und er hat die deutsche Sprach- und Geschichtswissenschaft mit begründet.

Neben seinem Frühwerk Fragmente über die neuere deutsche Literatur (1766/67) und der 1773 herausgegebenen Sammlung programmatischer Schriften unter dem Titel Von deutscher Art und Kunst, die für die deutsche Literatur von großer Bedeutung waren, ist es seine Abhandlung Über den Ursprung der Sprache (1772), die für die Sprachwissenschaft paradigmenbildend war. Gegen Süßmilchs Position, die Sprache sei von Gott gegeben (s. Text), vertritt Herder die Meinung, dass »Gott durchaus für die Menschen keine Sprache erfunden [hat], sondern diese haben immer noch mit Würkung eigner Kräfte, nur unter höherer Veranstaltung, sich ihre Sprache finden müssen« (Herder 1772: 63). Vielmehr finde sich der Ursprung der Sprachen in den »wilden Tönen freier Organe« (ebd. S. 18), wie sie auch bei Tieren zu finden sind.

Was aber unterscheidet die menschliche Sprache von der tierischen Lautgebung? »Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden« (ebd. S. 52). Und: « − die Sprache ist erfunden! Eben so natürlich und dem Menschen nothwendig erfunden, als der Mensch ein Mensch war« (ebd. S. 56).

Der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, vertritt die These, dass erste Formen menschlicher Kommunikation in Zeigegesten und in der Nachahmung liegen und dass Gesten von Affen »are the original font from which the richness and complexities of human communication and language have flowed« (Tomasello 2008: 55). Der symbolischen Kommunikation geht die gestische, deiktische Kommunikation voraus, und sie kann rückgebunden werden auf nichtmenschliche, gestische Kommunikation der höheren Primaten. Es gibt zwei grundsätzliche Typen von Affengesten: Intentionalitätsgesten, z.B. Arm-Heben, um das Spiel zu initiieren, und Aufmerksamkeitsgesten. Der kommunikative Akt von Affengesten ist der folgende: »check the attention of other > walk around as necessary > gesture > monitor the reaction of other > repeat or use another gesture« (ebd. S. 33). Während Intentionalitätsgesten eine soziale Intention ausdrücken im Sinne von ›Gestengeber (G) will, dass der Rezipient (R) die durch die Geste ritualisierte Bedeutung tut‹, drücken Aufmerksamkeitsgesten aus, dass G will, dass R etwas sieht, und dies hat möglicherweise die Bedeutung, dass G R etwas tun lassen will. Über die gestische Kommunikation hinaus, die auch für die menschliche Kommunikation basal ist – der Leser achte einmal darauf, wie oft er mit dem Finger auf etwas zeigt, um bestimmte Intentionen auszudrücken, z.B. beim Einkauf –, sind Affen in der Lage, mit Menschen symbolisch zu kommunizieren. Die Forschungen von Susan Savage-Rumbaugh zu Zwergschimpansen (Bonobos) zeigen (s. Kap. 12), dass diese einen Wortschatz von 150 Wörtern erwerben können und Wörter in Form von Bildsymbolen zu Zwei- und Dreiwortsätzen kombinieren können, und sie sind dabei kreativ. Bonobos also haben die Fähigkeit, einfache sprachliche Systeme zu lernen, sie entwickeln aber diese nicht spontan. Was unterscheidet qualitativ die Sprachfähigkeit des Menschen von anderen Primaten und anderen Tieren (Delfinen, Papageien)? Was sprachliche Kommunikation einzigartig macht, ist nach Tomasello die Fähigkeit der kooperativen Kommunikation, der Wir-Intentionalität. Sowohl Sprecher als auch Hörer wissen, dass sie die gleiche Konvention in der gleichen Art und Weise gebrauchen, sie (glauben zu) verfügen über ein gemeinsam geteiltes Wissen: A weiß, dass B weiß, dass A weiß, dass X. Wenn A B auffordert, Y zu tun, dann glaubt er zu wissen, dass B weiß, dass A weiß, was die Aufforderung umfasst. Und in Bezug auf das sprachliche Zeichensystem (s. hierzu Kap. 19) ist entscheidend der Übergang zur symbolischen Kommunikation, zur Kommunikation mit arbiträren Zeichen.

Für Tomasello ist Sprache entstanden im Prozess der Soziogenese, im Prozess der ›kumulativen kulturellen Evolution‹. Hier gibt es zwei Grundformen, wodurch in sozialen Interaktionen etwas Neues entstehen kann. Die erste umschreibt Tomasello mit dem Begriff ›Wagenhebereffekt‹. Eine Innovation, sei es bei der Werkzeugherstellung bzw. dem Gebrauch von Werkzeugen oder der symbolischen Kommunikation, wird an spätere Benutzer weitergegeben, und die soziale Tradierung verhindert (stützend wie ein Wagenheber), dass die Benutzer hinter die neue Praxis zurückfallen. Die Innovation kann durch einen Einzelnen oder, und dies wäre die zweite Art der Soziogenese, durch die Zusammenarbeit von zwei oder mehreren Individuen entstehen. Konstruieren wir ein Szenario, in dem beide Formen der Zusammenarbeit gemeinsam auftreten. Nehmen wir an, eine Gruppe von Hominiden gebrauchte eine Zeigegeste kombiniert mit der Lautgeste ko, um vor einer größeren Raubkatze zu warnen. Aufgrund des Stadiums der Werkzeugherstellung waren sie zunächst nicht in der Lage, sich gegen Löwen zu verteidigen oder gar sie zu jagen. Eines Tages kommt ein Individuum auf die Idee, einen Steinabschlag und einen Stock zu einem Speer zu kombinieren, um Tiere zu jagen, nachdem es vergeblich versucht hatte, eine Schlange zu erlegen. Es stellt also den Speer her und zeigt den anderen Gruppenmitgliedern, wie seine neue Erfindung funktioniert. Die anderen imitieren sein Handeln, so dass sich eine kulturelle Praxis des (zunächst) Kleintierjagens per Speer entwickelt, die auch von den Jüngeren gelernt und später an ihre Kinder weitergegeben wird. Über einen gewissen Zeitraum wird der Speer verbessert, so dass auch größere Tiere gejagt werden können, um den Stamm ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Auf der Suche nach Wild hört eine Gruppe von Jägern einen Löwen, von dem sie glauben, dass er derjenige sein muss, der bereits zwei ihrer Stammesmitglieder getötet hat. Die Jäger, die gelernt haben, ihre Jagdhandlungen zu koordinieren, flüstern ko und schauen in die Richtung, wo sie den Löwen vermuten. Durch Handzeichen koordinieren sie ihr gemeinsames Handeln, pirschen sich an und erlegen den Löwen. Sie ziehen dem Löwen das Fell ab und nehmen es mit zurück zu dem Platz, wo der Stamm lagert. Die Jäger legen das Löwenfell auf den Boden, tanzen im Kreis um das Fell herum, stoßen immer wieder mit den Speeren in Richtung des Löwenfells und rufen ko, ko.

Mit dieser – zugegebenermaßen klischeeartigen und konstruierten – Darstellung soll verdeutlicht werden, wie sich im Sinne von Tomasello der Vorgang kumulativer kultureller Evolution denken lässt:

1. Das oben bezeichnete Individuum (I) löst ein Problem, indem es den Nutzen zweier Artefakte (Steinabschlag, Stock) zu einem neuen Gebrauch und Nutzen kombiniert. Dabei muss sich I deren Gebrauch und Nutzen vorstellen und im Hinblick auf die gegenwärtige Problemlösung modifizieren. Die Erfindung wird durch Imitationslernen weitergegeben und durch soziale Praxis (Jagen) tradiert. Nachdem diese etabliert ist, wird das Artefakt verbessert für eine modifizierte soziale Praxis (Jagen von Großtieren).