Die Tagebücher des Michael Iain Ryan

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Tagebücher des Michael Iain Ryan
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Nadja Losbohm

Die Tagebücher des Michael Iain Ryan

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Anmerkung der Autorin

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

Epilog

Über die Autorin

Impressum neobooks

Widmung

Für Florian, einen wahren Krieger,

der sich zurück ins Leben gekämpft hat.

Anmerkung der Autorin

Wie bereits für Band 1 von Michaels Tagebüchern habe ich für seine Geschichte Recherche betrieben, um so viele reale Fakten miteinzubauen wie möglich.

Dennoch: Dieses Buch und auch sein Nachfolger sind und bleiben Unterhaltungs- und keine Geschichtsbücher, in denen ich Historisches mit dem Fantastischen verbinde. Hin und wieder konnte ich zu gewissen Fragen keine Informationen finden und musste somit improvisieren. Daher gibt es keine einhundert prozentige Korrektheit.

„Das Böse lässt sich nicht durch das Böse bekämpfen.

Nur das Gute kann das Böse bezwingen,

so wie das Licht nur die Dunkelheit bezwingen kann.

Und auch du gehörst zum Licht, das gegen die Finsternis antritt.“

Prolog

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht. Kein einziger Wolkenfetzen störte das Blau des Himmels. Die Hitze war unerträglich. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterrann. Die Perlen kitzelten meine Haut. Es fühlte sich an, wie wenn eine Fliege über meinen Körper lief. Ich langte mit dem Arm nach hinten, presste die Stoffe meines Habits auf meinen Rücken, damit sie die Flüssigkeit aufsaugten, und kratzte mich. Mein Obergewand hatte nun die Farbe Braun, ganz wie es einem Mönch nach dem Abschluss seiner Ausbildung zustand, obwohl Prior Arnaud es mir hatte verweigern wollen, sah er mich doch nicht als gleichwertig an. Mein neuer Fürsprecher hingegen hatte darauf bestanden, dass ich die braunen Kleider trug, die mir aufgrund ihrer dunklen Farbe während unserer Reise besseren Schutz böten als die weißen. Nun wartete ich auf eben jenen, der sich für mich einsetzte: Thierry de Forestier.

In der Ferne raschelte das Laub der Bäume, bewegt durch eine Windböe, die langsam, schwer und träge heranrollte. Ich atmete auf. Ich sehnte mich nach ihr und der Erleichterung, die sie in Form kühler Luft mit sich bringen würde. Ich hörte auf, mit dem Lederbeutel an meinem Gürtel zu spielen, in dem mein einziges Hab und Gut war, das hölzerne Essbesteck und der Rosenkranz meiner Mutter, und lupfte in freudiger Erwartung meine Kleider ein Stück, hoffend, damit den Wind lenken zu können. Ich schloss lächelnd die Augen, bewegte die Stoffe, die meinen Körper einhüllten wie eine Lammfelldecke. Mein überhitzter Leib rief innerlich nach der frischen Brise, lockte sie zu sich.

Als ich das erste Streicheln um meine Knöchel verspürte, musste ich mir auf die Zunge beißen, um nicht vor schierer Freude zu jauchzen. Doch als ich mich genauer auf den Wind konzentrierte, der mir Abkühlung bringen sollte, bemerkte ich, dass er lediglich noch mehr Wärme brachte. Das und winzige Sandkörner, die unter meine Tunika schlüpften, auf meine vom Schweiß feuchte Haut trafen und dort scheuerten. Hastig ließ ich meine Kleider los und presste die Beine zusammen, um meine empfindsamsten Stellen zu schützen. Ich öffnete die Augen, sah an mir hinunter und strich die Stoffe glatt. Genau in diesem Moment wirbelte ein kurzer, aber heftiger Windstoß noch mehr Sand auf und trieb ihn mir in die Augen. Sie fingen an zu brennen und ich schloss sie rasch wieder. Ich wünschte, ich hätte dasselbe mit meiner Nase und den Ohren tun können. Allerdings fehlte mir dafür ein Satz Hände.

Ich hustete, als mir die Körner in die Nase drangen. Als der Anfall vorüber war und ich den Mund schloss, knirschte es in ihm und alles fühlte sich pelzig und rau an. Ich löste den Wasserschlauch, der an meinem Gürtel hing und der mir ebenfalls auf Geheiß de Forestiers übergeben worden war, und tat einen kräftigen Zug, um mir den Mund auszuspülen. Ich spuckte die Mischung aus Wasser und Sand auf den Weg vor mir. Der zweite Schluck rann kühlend meine Kehle hinunter. Ich befestigte den Schlauch wieder am Gürtel und verfiel in eine Starre, als hätte ich Furcht davor, mit zu vielen Bewegungen abermals warme Sandstürme anzulocken. Mein Herumgezappel hatte mir zuvor schon kein Glück gebracht.

Meine Gedanken fingen an, umher zu wandern, nun da ich nichts mehr zu tun hatte. Heute ist der Tag, dachte ich. Je näher er gerückt war, desto weniger Schlaf hatte ich bekommen. Und jetzt, in diesen Momenten, als ich vor dem Portal stand, wurde ich mir einmal mehr meiner Umgebung bewusst. In meinem Rücken spürte ich die erdrückende Präsenz der sowohl verhassten als auch vertrauten Klostermauern. Zu meiner Linken und auch Rechten befand sich eine unbekannte und Ehrfurcht einflößende Welt, noch weitestgehend verdeckt durch die Wälder, die sich ringsum erstreckten, aber in der Ferne sah ich sie bereits leuchten. Vor mir lagen weite Lavendelfelder, die durch einen Pfad geteilt waren, der direkt auf den Horizont zuhielt und zwischen Bäumen und Sträuchern verschwand, die sich dort befanden. Von genau dort war ich vor zehn Jahren mit meinem Vater gekommen. Zehn verdammte Jahre!

Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in diese Richtung. Beinahe erwartete ich seinen Wagen zu sehen und wie er auf mich zurollte. Je länger ich auf das Ende dieses Weges blickte, desto mehr erschien es mir, als würde die düstere Welt, die dort lag, auf mich zukommen. Sie rief nach mir, ich solle zurückkehren. Aber was hatte sie mir schon zu bieten? Da waren nur Tod und Trauer, verlorener Frieden und gestohlene Träume eines kleinen Jungen.

Zehn Jahre. Ist es wirklich schon so lange her? Ich war damals ein Kind gewesen. Äußerlich schien ich es immer noch zu sein. Ich war gewachsen, natürlich. Die Schultern waren breiter, die Stimme tiefer. Hier und da sprossen zwei, drei Barthaare an Kinn und Wangen. Ansonsten glich ich nach wie vor dem Jungen von einst. Innerlich hingegen war ich nicht mehr dieselbe Person. Ich war um etliche Jahre gealtert. Die Erfahrungen, die ich gemacht hatte, hatten meine Seele, mein Herz, meinen Geist altern lassen. Es hatte Tage gegeben, an denen hatte ich mich mit den betagten Mönchen des Klosters gleichaltrig gefühlt.

Eine starke und heiße Böe fegte über mich hinweg, wirbelte mein dunkles Haar durcheinander. Ich strich es zurück und schaute in die Richtung, aus der der Wind gekommen war. Die Straße, die ins Unbekannte führte, stieg steil an, als wollte sie den, der auf ihr ging, geradewegs in den Himmel befördern.

„Was ist? Willst du nun gehen oder nicht?“, blaffte mich Prior Arnaud an. Ich hatte seine Ankunft schon vor einer Weile bemerkt, aber alles daran getan, ihn zu ignorieren. Erstaunlich, dass er es so lange hatte aushalten können, den Mund zu halten. Doch seine Frage war eine gute. Wollte ich gehen? So lange Zeit war ich in dem Kloster gewesen. Ich hatte dort mehr Jahre verbracht als in Freiheit. Ich war die Welt innerhalb der Mauern gewöhnt. Ich wusste, wo ich etwas fand, was ich zu tun hatte, wen ich besser mied, wer Freund, wer Feind war und wie die täglichen Abläufe vonstattengingen. Hier hatte ich das Leben oder vielmehr das Überleben gelernt. Das war meine Realität.

 

Ich hatte den Eindruck, ich würde nach all der Zeit niemals irgendwo anders bestehen können, auch wenn de Forestier mich in den höchsten Tönen gelobt hatte. Es fiel mir schwer, seine süßen Worte ernst zu nehmen. Immerhin hatte man mich stets kleingehalten und mir nur das Gefühl gegeben, nichts wert zu sein. Ich wusste zwar, dass ich ausgezeichnet in allen Prüfungen abgeschlossen hatte. Es von jemand anderem zu hören und die Anerkennung anzunehmen, weigerte ich mich. Und egal mit welch grandiosen Noten ich meine Ausbildung zu Ende gebracht hatte, etwas fehlte mir. Sie hätten mir Unterricht in Gesellschaftskunde geben sollen.

Ich hatte doch nie viel Zeit in der Stadt unter gewöhnlichen Menschen verbracht. Es war ein ganzes Jahrzehnt her, dass ich mich unters Volk gemischt hatte. Was mochte sich alles geändert haben? Vielleicht war es mittlerweile verboten, in der Öffentlichkeit zu niesen? Arnauds Frage ließ mich in Panik geraten. Ich spürte aber auch Zorn in mir. Ich war mir nur nicht sicher, auf wen ich so wütend war: auf Arnaud, weil er seine Spielchen mit mir trieb, oder auf mich selbst, weil ich es zuließ, dass er das mit mir machte?

Das Trampeln von Pferdehufen und das Rollen von Wagenrädern rissen mich aus meinen Gedanken. Ich blickte nach rechts und sah de Forestier sich aus dem Fenster einer Kutsche lehnen und winken. Bei seinem Anblick kamen Erinnerungen an unsere erste Begegnung und unser Gespräch hoch. Es war zweifelsfrei interessant gewesen, ihm zuzuhören, auch wenn es keine schönen Geschichten waren, die er mir berichtete. Sie ähnelten eher jenen, die man Kindern erzählt, die nicht gehorchen wollen und denen man eine anständige Lektion erteilen möchte. Geschichten von dunklen Kreaturen, die Jagd auf Menschen machen. Ich hatte nächtelang von diesen geträumt, und nun sollte ich genau diese Welt voller Monster betreten?

Für einen abenteuerlustigen Menschen wäre es ein Leichtes gewesen, sich da hineinzustürzen. Er hätte nicht gezögert, nicht nachgedacht, sondern voller Inbrunst sofort Ja! gebrüllt. Ich fand allerdings, ich hatte genug Abenteuer erlebt. Ich sehnte mich nach Ruhe, Frieden und Freude. Ja, ich hatte ungeheure Angst vor dem, was vor mir lag, aber was war die Alternative? Etwa im Kloster bleiben und mich den Schikanen der dortigen Bewohner aussetzen? Machte ich jetzt einen Rückzieher, würde ich damit Arnaud direkt in die Hände spielen. Es würde mir schlechter ergehen als jemals zuvor. Dessen war ich mir gewiss.

„Du trägst das Böse in dir. Deine Seele ist schlecht und verdorben. Du hast jede Strafe verdient. De Forestier wird das noch erkennen, und dann hoffe ich, schlägt er noch fester, noch härter zu, damit du endgültig vom Bösen ablässt. Erinnere dich meiner Worte, Michael Iain Ryan“, sagte Arnaud hinter mir.

Für einen Moment erstarrte ich, ließ die Worte für einen Augenblick tiefer gehen, als sie es sollten. Doch dann hörte ich die Stimme vom alten Christophe, der schon längst verstorben war, in meinen Ohren dröhnen und wiederholte, was er mir einflüsterte: „Jesus sagte, nicht das, was in den Mund hineingeht, verunreinigt den Menschen, sondern das, was aus dem Mund herausgeht, da es aus dem Herzen kommt.“ Dies sagte weitaus mehr über Prior Arnaud als seine wahnwitzigen Ideen mich betreffend. Ich warf einen Blick über die Schulter zu ihm nach hinten. Etwas zuckte an seinem Auge. Sein Gesicht verzog sich zu einer grauenhaften Maske. Ich hatte ihn noch nie für hässlicher empfunden.

„Bereit?“

Gegen die Sonne anblinzelnd blickte ich hinauf zu de Forestier. Ich hatte kaum mitbekommen, dass die Kutsche vor mir zum Halten gekommen war. Aber da stand er nun, der überdachte Reisewagen mit Fensterscheiben, durch die ich vom Boden aus nur wenig vom Inneren sehen konnte. Was ich jedoch erkennen konnte, wirkte vielversprechend und ließ Komfort erahnen. Seit etwa vierzehn Tagen hatte ich den Bischof von Saint-Brieuc nicht mehr gesehen und erschrak daher beim Anblick seines unattraktiven, mit Schmutz und Blut verkrusteten Gesichts, in dem Blutergüsse in den schillernden Farben des Regenbogens leuchteten. Was ist passiert? Wo hat er sich herumgetrieben, und war wirklich so wenig Zeit gewesen, dass er es nicht mehr geschafft hatte, sich zu säubern? Ich dachte diese Fragen, wagte es jedoch nicht, sie laut auszusprechen. So wie wir auf das achten sollen, was wir aussprechen, sollen wir auch nicht nach Äußerlichkeiten gehen. De Forestier mochte nicht hübsch anzusehen sein und nicht den Ansprüchen eines Bischofs entsprechen. Hier und jetzt aber war er für mich der schönste Mensch der Welt, mit dem ich gehen wollte.

Ich nickte als Antwort auf seine Frage. Er öffnete die Tür der Kutsche und ließ mich einsteigen. Ich stahl mir zunächst ein paar Augenblicke, um das prächtige Innere des Gefährts auf mich wirken zu lassen. Ich war noch nie so herrschaftlich gereist. Weißer Brokat bestickt mit Tulpen in Gelb, Rot und Blau umgab mich von allen Seiten. Die Decke und die Wände des Kutschkastens waren damit ausgekleidet. Die gepolsterten Sitzbänke, auf denen der Bischof und ich uns gegenübersaßen, waren mit festem, weichem Stoff überzogen, dessen Grundfarbe der Grünton war, den von der Sonne ausgeblichenes Gras hatte. In der Mitte der Bänke, halb verdeckt durch unsere darauf platzierten Hinterteile, waren mit goldenem Garn Hirsche paarweise eingearbeitet. Sie standen auf ihren Hinterbeinen und schienen entweder miteinander zu kämpfen oder zu tanzen. Über ihnen breitete eine aus demselben Material gestickte Taube ihre Flügel aus. Ihr Haupt war umrahmt von Strahlen, die mich an die Sonne erinnerten. An den Fenstern auf beiden Seiten der Kutsche hingen Vorhänge aus Damast gefertigt. Sie waren ebenfalls weiß und mit goldenen Fransen verziert.

Ich streckte meine Hand nach ihnen aus und ließ sie durch meine Finger gleiten. Sie waren herrlich weich. Ich glaubte, im Paradies zu sein. Das ganze Chichi und die Zartheit, die mich umgaben, ließen mich müde werden. Ich gähnte herzhaft, woraufhin de Forestier lachte. „Schlaf nur, wenn dir danach ist. Ich wette, du bist schon seit Sonnenaufgang auf den Beinen“, meinte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Schon viel länger.“ Ich gähnte abermals völlig ungeniert. Doch bevor ich mich ins Land der Träume begab, warf ich einen letzten Blick aus dem Fenster. Ein letztes Mal sah ich das Kloster, die Mauern, die Spitze der Hauptkirche und – Prior Arnaud. Mit verschränkten Armen stand er vor dem Portal und schnaubte. Seine Miene war nicht deutbar. Ich dachte, ich sah darin Wut und Bedauern, weil ihm sein liebstes Spielzeug entfloh, aber auch so etwas wie Neid und Wehmut, gerade weil ich gehen konnte. Und ich hoffte so sehr, ihn nie wieder sehen zu müssen!

Ich zog den Kopf zurück ins Innere der Kutsche, lehnte ihn gegen die Vorhänge und sah zu, wie das Kloster von Gourin mit jedem verstreichenden Augenblick immer kleiner wurde. Erst als es nur noch die Größe hatte, um in meine Hand zu passen, schlug ich die Augen zu. „Ich bin bereit“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu de Forestier. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schlief ich ein.

1. Kapitel

***

Das menschliche Gehirn ist wirklich erstaunlich. Es speichert einschneidende Erlebnisse, merkt sich das exakte Datum, an dem sie passiert sind. Der Tag meines Verlassens des Klosters von Gourin war der neunzehnte Juni im Jahre 1000. Es fühlte sich so unwirklich an, dem Ort den Rücken zu kehren, von dem ich angefangen hatte zu glauben, für immer dort gefangen zu sein. Ich konnte es kaum begreifen, was vor sich ging, aber es war echt und kein Traum, auch wenn ich lange Zeit brauchte, um dies wahrhaftig zu verstehen. Die Tatsache, dass de Forestier mit mir im Schlepptau auf Exkursion ging, um mich in die Geheimnisse der übernatürlichen Geschöpfe einzuweihen, machte es mir beim Verstehen und Verarbeiten nicht unbedingt leichter.

Bis zum tatsächlichen Aufbruch hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht. Dennoch hatte ich die dunkle Vorahnung, dass ich gar nicht so absurd denken konnte, wie die Realität wirklich aussah. Ich versuchte also, mich vorerst auf die Reise zu konzentrieren. Ein Schritt nach dem anderen. Alles Denken, was darüber hinausging, ließ mich unruhig und ängstlich werden. Nichtsdestotrotz geisterten unablässig unzählige Fragen in meinem Kopf umher, sodass ich schon von den Schreckgestalten träumte, von denen der Bischof mir erzählt hatte.

***

„Deine Träume waren keine der angenehmen Art, nicht wahr?“, fragte er mich, als ich, in einer äußerst unbequemen Haltung, aus dem Schlaf erwachte. Ich ordnete meine Gliedmaßen, legte den Kopf erst nach rechts, dann nach links. Die Muskeln in meinem Nacken knirschten.

„Habe ich denn geschrien?“, fragte ich zurück.

Mein Gegenüber nickte. „Du bist sehr vorsichtig mit der Wahl deiner Worte. Ein Indiz für Misstrauen. Hmm“, sagte er und rieb sich grüblerisch das Kinn. Ich zuckte nur mit den Schultern. Der Bischof beließ es dabei, und ich war ihm dankbar, dass er nicht weiter in mich drang und stattdessen wissen wollte, ob ich keine Fragen an ihn hätte, was unsere Reise anging.

„Hunderte“, meinte ich und grinste.

„Für den Anfang kannst du mir eine nennen.“

Bei meiner Devise bleibend, einen Schritt nach dem nächsten zu gehen, fragte ich: „Wohin fahren wir?“

Mein neuer Lehrer, oder was auch immer er war, sah mich mit großen Augen an. „Von all den Dingen, die du mich fragen kannst, ist das ausgerechnet das erste?“

Wieder quittierte ich seine Bemerkung mit einem Schulterzucken. „Mein Kopf ist mit der Tatsache, dass ich das Kloster verlassen habe, etwas überfordert. Ich kann derzeit nur von Moment zu Moment denken, in der Hoffnung, dass ich mich auf diese Weise allmählich an mein neues Leben gewöhne.“

De Forestier legte den Kopf schief und musterte mein Gesicht. Er versuchte mich zu lesen. Doch ich wusste zu verbergen, was verborgen werden musste. Er musste nicht alles wissen. „Ich verstehe“, meinte er und sah aus dem Fenster. Sein Blick rückte in weite Ferne. In seinen Augen flackerten Bilder aus der Vergangenheit auf, so schien es mir. Ich war nur leider nicht dazu in der Lage, sie klar zu erkennen, sonst hätte ich wohl einen Vorgeschmack davon erhalten, was mir bevorstand. Der Bischof räusperte sich nach einer Weile, kehrte ins Hier und Jetzt zurück und verriet mir, dass wir nach Concarneau fuhren. Der Name war mir ein Begriff. Ich war natürlich noch nie dagewesen. Er war lediglich ein verschwommener Fleck auf einer vergilbten Pergamentrolle, auf der eine Karte der Bretagne abgebildet gewesen war, die man mir während der Unterrichtsstunden im Kloster vor die Nase gehalten hatte. Wer oder was dort auf uns wartete, vermochte ich nicht zu sagen.

„Und was dann?“, wollte ich genauer wissen, etwas unzufrieden mit seiner knappen Antwort.

„Ich dachte, du verträgst die Einzelheiten, wohin es geht und welche Zukunft dich erwartet, nur stückweise?“ Die Partie um seinen Mund zuckte, als er sich bemühte, ein Grinsen zu unterdrücken.

Mhh“, machte ich. Er weiß mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Das gefiel mir nicht, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich empfand es als persönlichen Angriff, und meine Reaktion darauf war, dass ich umgehend eine Mauer vor mir aufbaute, an der Pfeile dieser Art abprallten. Die Neugierde, wie es weitergehen würde, war nicht tot in mir. Na und? Wollte er mich deswegen etwa verurteilen? Mein Unmut darüber, dass er meine Worte gegen mich verwendete, muss mir ins Gesicht geschrieben gestanden haben.

Ich hörte, wie es in de Forestiers Brust rumpelte wie bei einem Menschen, der unter einer schweren Bronchitis litt, die dabei war, sich zu lösen. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das sich zu einem breiten Grinsen ausdehnte, und das Rumpel in seinem Innern brach als schallendes Gelächter aus ihm hervor. Ich hatte noch niemand so befreit und kräftig lachen gesehen. Als er sich wieder beruhigt hatte, wischte er sich eine Freudenträne aus dem Augenwinkel.

„Oh Michael, ich mache doch nur Spaß. Es ist Zeit für dich, ein bisschen locker zu lassen und Humor zu entwickeln“, meinte er und klopfte mir auf das Knie. Er ließ seine Hand für meinen Geschmack ein wenig zu lange dort, als dass ich locker lassen konnte. Ich wischte sie von meinem Bein, setzte mich aufrecht hin und starrte aus dem Fenster.

„Humor – dieser wurde mir vor zehn Jahren genommen“, sagte ich finster. Für eine Weile war es still und nur das Geräusch der Wagenräder, die über Sand und Steine rollten, war zu vernehmen.

 

„Ein Grund mehr, dass du ihn dir wiederholst, Junge. Was ist das Leben ohne Lachen, hm? Bis es soweit ist, werde ich nachsichtig mit dir sein und verrate dir auch noch dies: In Concarneau angekommen, werden wir mit einem Boot nach Britannien übersetzen.“ Beim Klang des letzten Wortes richteten sich meine Augen auf de Forestier. Ich zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn aufmerksam. War das sein Ernst oder veräppelte er mich? Der Bischof lehnte sich vor und ich befürchtete schon, er würde mich abermals anfassen. Meine Reaktion darauf immer noch im Gedächtnis habend, ließ er es und sagte: „Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, dass ich ein Nickerchen halte.“ Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und fing beinahe umgehend an zu schnarchen. Dieser Mann würde mich noch in den Wahnsinn treiben!

Das Licht vor dem Fenster veränderte sich. Die Sonne küsste die Wipfel der Bäume in der Ferne. De Forestier hatte mehrere Stunden seelenruhig geschlafen, und erst als der Abend anbrach, erwachte er. Ausgeruht und zufrieden streckte er sich und begrüßte mich fröhlich. „Wo sind wir?“ Fragte er mich das wirklich? Er war doch der Weitgereiste von uns beiden. Als ich ihm nicht antwortete, setzte er sich auf den freien Platz neben mir und klopfte mit der Faust kräftig gegen die Kutschenwand, hinter der der Kutscher saß und uns sicher durch die Landschaft fuhr. Ich hörte seine tiefe, ruhige Stimme, wie sie die Pferde zum Halten aufforderte. Einen Wimpernschlag später wurde ich gegen die Lehne der Bank, auf der ich saß, gepresst, als wir zum Stehen kamen. Leise hörte ich die Pferde schnaufen und wie sie mit den Hufen scharrten, als könnten sie es kaum erwarten, wieder so schnell wie der Wind zu laufen.

De Forestier öffnete die Tür auf seiner Seite, streckte den Kopf nach draußen und rief zum Kutscher: „Rousel, wo sind wir? Wie lange dauert es noch, bis wir Concarneau erreichen?“ Ich vernahm zwar die Stimme des Angesprochenen, konnte aber nicht die Worte ausmachen, die er sprach. Als er verstummt war, zog de Forestier den Kopf wieder zurück ins Innere unseres Gefährts und seufzte. „Nach einem halben Tag ständiger Ruckelei sind wir immer noch nicht viel weiter. Wir müssten viel weiter sein. Wieso sind wir noch nicht weiter? Nun ja, es ist nicht zu ändern“, murmelte er vor sich hin.

„Ich habe Hunger und muss mal“, bemerkte ich. Der Bischof wandte mir den Kopf zu und verzog missbilligend den Mund. „Was? Ihr habt soeben bemerkt, dass wir schon seit einer gefühlten Ewigkeit durch die Gegend fahren. Meine letzte Mahlzeit, die nicht gerade üppig war, ganz nebenbei gesagt, war heute vor Sonnenaufgang. Ebenso lange ist es her, dass ich uriniert habe, wenn Ihr es schon genau wissen wollt“, informierte ich ihn.

„Urinieren – du brauchst dich in meiner Gegenwart nicht dermaßen geschwollen auszudrücken“, stellte er klar. Ich wusste ja selbst nicht, wieso ich in solch eine überkandidelte Ausdrucksweise verfallen war. Wollte ich womöglich bei de Forestier Eindruck schinden? Lechzte ich etwa insgeheim nach weiterem Lob, das ich ohnehin nicht annehmen würde? Zu welch verkorkster Persönlichkeit war ich nur geworden? Es war grotesk! Ich hatte früher nicht so geredet. Der Bischof schlug sich mit der Hand gegen die Brust. „Wir zwei sind erwachsene Männer. Wir können das Kind beim Namen nennen.“ Ich sah ihn verständnislos an. Welches Kind bei welchem Namen nennen? „Sag einfach pinkeln oder pissen. Wir sind unter uns. Du bist nicht mehr in deinem elitären Kloster. Wie dem auch sei. Dein Wunsch soll dir erfüllt werden. Hey, Rousel! Ist hier ein guter Platz, um Rast zu machen?“, schrie de Forestier mir ins Ohr.

„Nicht wirklich, Meister. Wir sind hier wie auf einem Silbertablett. Lasst uns noch ein Stückchen weiterfahren. Ich sehe die Schatten von Bäumen, unter denen wir Schutz finden können. Und wenn wir Glück haben, finden wir dort einen Unterschlupf, der uns noch viel besser vor unliebsamen Augen verbirgt als ein Grashalm“, rief Rousel laut genug, sodass wir alle ihn hören konnten.

De Forestier schlug mir gegen die Schulter. „Hältst du es noch so lange aus?“, fragte er und grinste. Ich nickte. Ich hatte schon ganz anderes viel länger ausgehalten.