666 Der Tod des Hexers

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
666 Der Tod des Hexers
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die

Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de

© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH

eISBN 978-3-8271-8408-5

Micha Krämer

666

Der Tod des Hexers


Prolog

August 2021

Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe. Ich weiß, wer sie sind, und spüre ihre Anwesenheit. Vor mir können sie sich nicht verstecken. Sie sind unter uns. Schon seit alten Zeiten. Nur, die meisten der dummen Menschlein haben es vergessen. Nicht immer verbirgt sich der Teufel hinter den Masken der Weiber. Manchmal sind es auch die Hexer, die den Satan in sich tragen. Die ihn heraufbeschwören, ihm huldigen und opfern. All die Jahre wurde dem Hexentreiben tatenlos zugesehen. Doch damit ist nun Schluss! Ich werde sie suchen, finden und zur Strecke bringen. Werde den Beelzebub in ihnen austreiben. Mit dem Schwert und dem Feuer, genauso wie es geschrieben steht. Ich habe die Zeilen gelesen. Schwarz auf Weiß steht es da, dass die Hexen Unzucht mit Luzifer und seinen Dämonen treiben. Der Teufel belohnt sie dann mit Hexenkraft für ihre unzüchtigen Liebesdienste.

Es schockiert mich, mit anzusehen, wie die dummen Menschlein sie auch noch feiern und ihnen zujubeln. Wie sie tanzen, lachen und mit den Hexen singen … ihnen applaudieren. Doch ich werde ihnen die Augen öffnen. Das, was sich dort unten im Tal auf der Bühne abspielt, hat nichts mit anständiger Musik zu tun, sondern ist lediglich eine Huldigung des Bösen.


Die Band gefiel Nina Moretti. Die Musik von Witchwar war melodisch, schnell und erinnerte ein wenig an die alten Songs von Helloween, Iron Maiden oder Metallica. Eine Mischung, die Nina außerordentlich gut gefiel. Und ja, sie war gerade irgendwie mächtig stolz auf die junge Frau mit der neonfarbenen Gitarre, deren Finger in atemberaubender Geschwindigkeit über die Saiten des Instruments flitzten. Von dem, was der Frontmann der Band in sein Mikrofon schrie, verstand sie hingegen kein Wort. Was nicht daran lag, dass dieser auf Englisch sang. Ninas Englisch war im Grunde gar nicht mal so schlecht. Es war sogar wesentlich besser als das Italienisch, welches ihr väterlicherseits in die Wiege gelegt worden war. Nein, sie war sich sicher, dass man den Sänger auch nicht verstehen könnte, wenn er auf Deutsch singen würde. Wobei Gesang im Heavy Metal sowieso vollkommen überbewertet wurde. Klar, wenn man sich die Songs der diversen Metal Bands in gut abgemischter Studioqualität anhörte, konnte man den meisten Texten wunderbar folgen. Live, bei einem Open Air, funktionierte dies allerdings in den seltensten Fällen.

„Und was meinst du?“, schrie sie Klaus, ihrem Mann, ins Ohr, der neben ihr an der Theke der Bierbude lehnte und das Geschehen auf der Bühne am Fuße des Weiselsteiner Hanges aufmerksam beobachtete.

„Na ja“, schrie er zurück, zuckte mit den Schultern und schaute dabei ein wenig skeptisch. Nina blickte ihn erstaunt an. Sie hätte gewettet, dass es ihm gefallen würde, was die Band da auf der Bühne fabrizierte. Dem schien allerdings nicht so. Klar, sie war im Gegensatz zu ihm keine Musikerin. Dennoch glaubte sie erkennen zu können, ob eine Band gut war oder nicht. Und die vier jungen Frauen um den Sänger waren gut. Gerade endete ein Stück, womit der Geräuschpegel natürlich massiv nach unten ging. Nina nutzte die Gelegenheit weiterzufragen.

„Gefällt’s dir nicht?“

Klaus schüttelte den Kopf.

„Mit dem Sänger und den Texten gibt das nichts“, fand er.

„Wieso? Man versteht doch eh nichts“, wandte Nina ein.

„Na, zum Glück. Das ist echt unterste Schublade. Teufel hier … Hölle da … alles ziemlich abgedroschener Satanskram“, erklärte er.

„Und woher weißt du das, wenn man den Sänger doch gar nicht versteht?“, interessierte es Nina.

„Weil ich die Texte gelesen habe, mein Schatz. Sarika hat sie neulich im Proberaum liegen lassen“, gestand er und grinste nun wieder.

Eine weitere Konversation mit ihm war nicht möglich, da die Band gerade wieder mit dem nächsten Stück einsetzte.

Klaus hatte also die Texte gelesen, die seine erwachsene Tochter im Proberaum hatte liegen lassen. War das okay?, kam es ihr kurz in den Sinn. Natürlich war das okay. Immerhin brüllte der Typ da vorne eben diese Songtexte gerade ziemlich öffentlich in die Menschenmenge. Solange Klaus nicht auch noch Sarikas Tagebuch oder ihre Post checkte, war doch alles okay. Im Grunde war es ja sogar sehr großzügig von ihm, dass er die Band seiner Tochter im Gartenhaus der Villa, das er vor Jahren mit seinen eigenen Bandkumpels zum Übungsraum ausgebaut hatte, üben ließ. Nicht alle Eltern wären damit einverstanden, wenn die Heavy Metal Band ihrer Zöglinge im heimischen Garten übte. Wenn die Kids dann mal ihre Noten und Texte liegen ließen, durften sie sich auch nicht beschweren, wenn die Altrocker aus Papas Kapelle mal einen Blick darauf warfen.

Applaus brandete auf, nachdem Sarika mit einem atemberaubenden Gitarrensolo das letzte Stück beendete und die Band dann hastig von der Bühne eilte, auf der sofort eine Schar von Technikern einfiel, um das Equipment abzubauen und durch anderes zu ersetzen. Nina war neugierig, welche Combo als Nächstes das abgelegene Tälchen bei dem kleinen Ort Weiselstein beschallen würde. Das Programm bei „Rock am Hang“ war wie immer bunt gemischt. Von Blues, über Deutschrock bis hin zu Metal war alles dabei.

Interessieren würde Nina im Moment aber mehr, was ihre Stieftochter Sarika gerade mit dem Sänger ihrer Combo diskutierte. Obwohl die beiden sich rechts neben der Bühne ziemlich lautstark stritten, konnte sie wegen der Umgebungsgeräusche auf so einem Festival kein einziges Wort verstehen.

„Was ist denn da los?“, fragte Klaus neben ihr, der den Streit nun ebenfalls bemerkt zu haben schien.

„Keine Ahnung. Aber wie es ausschaut, haben die beiden mächtig Stress miteinander“, schilderte Nina ihre Eindrücke.

Der lange blonde Sänger fasste Sarika nun am Arm und zog sie zu sich. Es schien fast, als wolle er sie küssen. Doch so weit kam es nicht mehr, da das Mädchen ihm ihr Knie in die Weichteile rammte, woraufhin er mit schmerzerfülltem Gesicht zu Boden ging.

„Jetzt reicht’s“, hörte Nina Klaus sagen, der seine Bierflasche auf die Theke knallte und Anstalten machte, zu seiner Tochter zu rennen. Nina fasste ihn hinten am T-Shirt und zog ihn zurück.

„Du bleibst schön hier, mein Lieber“, raunte sie ihm dabei zu.

„Aber …“

„Nix aber“, unterbrach sie ihn. „Deine Tochter ist alt und tough genug, um solche Probleme selbst zu klären“, erklärte sie und beobachte weiter. Sarika hatte sich abgewandt und ging nun in den Pavillon neben der Bühne, wo sie in aller Seelenruhe ihre Gitarre in den dazugehörigen Koffer packte. Die Schlagzeugerin der Band, ein dünnes, blasses Mädchen mit langen, gelockten Haaren, trat zu ihr, klopfte ihr auf die Schulter und sagte etwas. Der Sänger, Nina glaubte sich zu erinnern, dass der Fabrice hieß, ließ sich von einem Nina unbekannten langhaarigen Mann um die dreißig aufhelfen.

„Die Mädels sollten sich schleunigst einen anderen Frontmann besorgen“, fand Klaus derweil und nippte nun wieder an seinem Bier.

„Warum Frontmann? Eine Frontfrau würde doch viel besser zu den vier Mädels passen“, erwiderte Nina.

Klaus schüttelte den Kopf.

„Nee, Schatz, beim besten Willen nicht. Zu einer ordentlichen Metal Band gehört ein Sänger und keine Piepsemaus“, meinte er und sah sie dabei ziemlich empört an.

Nina, die gerade einen Schluck trinken wollte, setzte ihre Flasche wieder ab.

„Sag mal, geht’s noch? Machst du hier jetzt einen auf Obermacho?“, schimpfte sie.

„Nein, aber nenn mir doch mal eine erfolgreiche Metal Band mit Sängerin“, fragte er und klang dabei sehr siegessicher.

Nina musste nicht lange überlegen. „Warlock mit Doro Pesch, Lita Ford“, wusste sie gleich zwei starke Powerfrauen. „Nightwich“, mischte sich ein Riese mit Glatze ein.

„Super, Thilo, fall du mir auch noch in den Rücken“, meckerte Klaus den Bassmann der Gebrüder Poweronoff an und musste dann selber lachen.

„Und das ist tatsächlich deine Tochter?“, wollte Thilo indes wissen und deutete mit einer Kopfbewegung auf Sarika, die mit ihrem Gitarrenkoffer in der Hand nun direkt auf den Bierstand zukam.

„Jepp, das ist tatsächlich meine Tochter … von der ich zugegebenermaßen erst vor anderthalb Jahren erfahren habe, dass es sie gibt“, erklärte Klaus.

Thilo nickte und streckte Sarika nun die Hand hin.

„Hallo, super gespielt. Ich bin Thilo Heß“, stellte er sich vor.

Sarika lächelte. „Sarika Zielner. Ich hab’ dich schon mal mit deinen Gebrüdern gesehen … find ich echt stark, was ihr da macht, so diese Klassik mit Stromgitarren“, erwiderte das Mädchen.

„Na ja, du und deine Mädels seid aber auch nicht übel. Schade, dass wir Brüder vollzählig sind und gerade keine Schwester Poweronoff benötigen“, flachste der große Mann mit dem in der Sonne glänzenden haarlosen Haupt.

 

Sarika verzog das Gesicht.

„Na ja, so gut fand ich uns jetzt gar nicht. Vor allem gesangstechnisch ist bei uns noch eine Menge Luft nach oben“, räumte sie ein und verdrehte die Augen.

„Hab’ ich dir schon nach eurer letzten Probe gesagt. Am besten, ihr serviert den Idioten ab und sucht euch jemanden, der es auch draufhat“, gab Klaus seine Meinung zum Besten.

Sarika nickte und reichte ihm dann den Koffer mit dem Instrument.

„Du, Papa, kannst du die mit nach Hause nehmen? Ich möchte noch mit den anderen zu Selina nach Friesenhagen. Wir müssen den Gig mal in Ruhe analysieren und bequatschen, wie es weitergehen soll.“

Klaus sah sie mit großen Augen an.

„Wie, ihr wollt schon los? Es spielen doch noch drei andere Bands“, fragte er erstaunt. Auch Nina war ein wenig enttäuscht, dass ihre Stieftochter nicht noch bleiben wollte. Sie mochte die junge Frau, die vor knapp anderthalb Jahren wie ein Orkan in ihr Leben geweht worden war. Die Tochter ihres Mannes aus einer längst vergessenen Beziehung, lange bevor Nina und er zusammengekommen waren.

„Okay, klar nehme ich die Gitarre mit“, antwortete Klaus und nahm den Koffer entgegen.

„Danke, Papa“, freute Sarika sich, sprang Klaus förmlich an den Hals, gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Menschenmenge.

„Aber fahr nicht mehr, falls du was trinkst“, rief Klaus ihr, wie Nina fand unnötigerweise, hinterher. Zum einen, weil Sarika überhaupt nicht mit ihrem Wagen unterwegs war, der stand zu Hause im Carport, und zum anderen, weil das Mädchen für ihr Alter wirklich sehr vernünftig war.

„Tja, die Jugend von heute, wir waren früher immer die Letzten, die nach einem Auftritt die Kneipe verlassen haben“, fand Thilo.

„Und genau deshalb bestell ich uns jetzt auch noch ein Bier“, beschloss Nina und orderte dem Bassmann gleich eins mit.

Kapitel 1

Sonntag, 8. August 2021, 7:52 Uhr

Betzdorf/Villa Schmitz

Ninas Schädel fühlte sich an, als habe man ihn in einen Schraubstock eingeklemmt. Sie mochte „Eyes without a face“ von Billy Idol. Aber nicht mitten in der Nacht.

„Magst du nicht mal an dein Handy gehen?“, hörte sie Klaus hinter sich brummen.

Nein, Nina mochte jetzt nicht an ihr Handy gehen. Heute war Sonntag, da ging man nicht vor dem Aufstehen ans Telefon. Dennoch tastete sie nun auf dem Nachttisch nach dem Störenfried und nahm das Gespräch, ohne auf das Display zu sehen, an.

„Ja“, hauchte sie in das Gerät.

„Moin, Nina“, erkannte sie die Stimme ihres Kollegen Thomas Kübler.

„Sag mal, hast du eine Ahnung, wie spät das ist?“, fragte sie.

„Ja, gleich acht Uhr“, gab Kübler Auskunft.

„Okay … Danke für die Info“, erwiderte sie und schlug nun endlich auch die Augen auf. Durch die Ritzen der Rollläden drang spärlich Licht in das Zimmer. Draußen war es tatsächlich schon hell.

„Sieh zu, dass du in Wallung kommst, Nina. Ich bin in etwa zehn Minuten bei dir, um dich abzuholen“, meinte er, als sei dies ausgemachte Sache. Sie schwang sich aus dem Bett.

„Was? Nee … Warum das? Ich hab frei … Sonntag“, widersprach sie ihm und drückte mit der freien Hand gegen ihre Schläfe. Ein sinnloses Unterfangen, das die Kopfschmerzen auch nicht vertrieb. Sie vertrug einfach keinen Alkohol mehr. Vor zehn Jahren hätten ihr die paar Bier und Schnäpse überhaupt nichts ausgemacht.

„Wir haben einen Toten in Friesenhagen, und so, wie die Kollegen von der Streife den Fall schildern, möchtest du dir das bestimmt selbst ansehen“, antwortete er.

„Will ich das? Was ist denn los?“, wollte sie nicht wirklich wissen.

„Ja, willst du. Alles andere gleich im Wagen. Mach hin“, fand er und hatte, bevor Nina noch etwas fragen konnte, bereits aufgelegt.

„Musst du weg?“, fragte Klaus.

„Scheint so“, antwortete sie und überlegte dann tatsächlich kurz, sich noch einmal für eine Minute hinzulegen. Vielleicht hätte sie es auch getan, wenn da nicht ein Wort von Kübler gewesen wäre, das eine Unruhe in ihr verursachte. Friesenhagen! Hatte Sarika da nicht gestern am Abend noch hingewollt? Ja, hatte sie.

Nina erhob sich und tapste durch das Halbdunkel bis zur Schlafzimmertüre, wo sie noch einmal kurz stehen blieb.

„Bist du so lieb und kochst mir einen Kaffee, während ich mich anziehe?“

Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, da sie sich sicher war, dass Klaus ihrem Wunsch nachkommen würde. Stattdessen trat sie auf den Flur und warf erst einmal einen Blick über das Geländer nach unten in die Diele. Vor der Garderobe auf dem Boden lagen Sarikas Schuhe und ihre Lederjacke. Das war gut. Nicht, dass sie es toll fand, dass ihre Stieftochter ihre Klamotten auf den Boden warf. Nein, es erleichterte sie nur ungemein, dass Sarika überhaupt zu Hause war. Die Vorstellung, einmal zu einem Tatort oder Todesfall gerufen zu werden, an dem ein von ihr geliebter Mensch ums Leben gekommen war, verfolgte sie ständig.

Als Nina mit noch feuchten Haaren und einem großen Becher dampfenden Kaffees aus dem Haus kam, wartete Kübler bereits im Dienstwagen in der Einfahrt.

„Moin“, begrüßte sie ihn, als sie die Tür öffnete und sich auf den mit Lammfell überzogenen Beifahrersitz fallen ließ. Seinen Blick auf den Kaffeepott bemerkte sie sofort.

„Eh, muss das sein?“, kam auch nun prompt die Frage.

Nina antwortete nicht. Sie wusste genau, was er meinte.

Kübler hasste es, wenn sie ihren Kaffee während der Fahrt im Wagen trank. Angeblich aus Angst, sie würde die Sitze einsauen. Wobei es auf einen Fleck mehr oder weniger in der Kiste wirklich nicht ankam. Niemand, der die Karre so sah, konnte sich auch nur im Ansatz vorstellen, wie die originalen Polster unter den alten Lammfellschonbezügen aussahen. Der rote Porsche 911 Turbo hatte nämlich zuvor einem Zuhälter gehört, der seinem Beifahrer bei einem Streit während der Fahrt ein Messer in die Halsschlagader gerammt hatte. Eine Wahnsinnssauerei. Flecke, die aus dem hellen Leder nie mehr rausgehen würden.

„Also, was gibt es denn, was ich mir bestimmt selbst anschauen möchte?“, kam sie, während sie sich anschnallte, lieber sofort zum Wesentlichen.

Kübler stöhnte recht theatralisch und fuhr los.

„Kennst du die rote Kapelle bei Friesenhagen?“, fragte er.

„Nein. Muss ich die kennen?“, entgegnete sie.

„Ja, als heimatverbundener Mensch solltest du die kennen“, meinte er.

„Ich bin Halbitalienerin. Da muss ich nur halb so viele Orte kennen wie du – oder warst du schon mal in der Via Santa Maria del Pianto?“

Sie bemerkte, wie er fragen wollte, was das sei.

„Kübler, was ist da in Friesenhagen los?“, wiegelte sie jedoch ab, bevor er den Mund aufmachen konnte.

„Unweit der Kapelle wurde heute Morgen von mehreren Personen ein Feuer gemeldet. Irgendwer hat einen Polder mit Holz angezündet. Die Feuerwehr ist ausgerückt, um zu löschen, und hat vor Ort einen oder eine Tote gefunden … genau kann man das wohl ohne einen Gerichtsmediziner nicht mehr feststellen“, berichtete er.

„So stark verkokelt?“, hakte sie nach und nippte an ihrem Kaffee, der gerade wirklich äußerst guttat. Es war verdammt spät geworden die letzte Nacht.

Bis Friesenhagen fuhren sie schweigend. Nina schlürfte ihren Kaffee und las dabei auf ihrem Mobiltelefon. Die Zwillinge, Chiara und Matteo, hatten ihr geschrieben. Natürlich nicht sie selbst. Die beiden gingen ja erst in die Kita und konnten weder schreiben noch besaßen sie ein Handy. Nein, Oma Inge, bei denen die beiden letzte Nacht geschlafen hatten, hatte das erledigt. Sogar mit einigen Fotos, die die beiden am Frühstückstisch mit Opa Hans Peter zeigten.

„Da oben ist die Kapelle“, meinte Kübler, als sie von Engelshäuschen kommend kurz vor Friesenhagen aus dem Wald kamen. Nina entdeckte die kleine rote Kirche auf dem Hügel hinter dem Dorf sofort. Sie war nicht zu übersehen, obwohl es bis dorthin vermutlich noch zwei bis drei Kilometer Luftlinie waren. Das rot angemalte Gebäude, mit den Bäumen und den Löschfahrzeugen der Feuerwehr daneben, hob sich vom ansonsten strahlend blauen Himmel ab.

„Warum muss man das Kapellchen eigentlich kennen? Von solchen Kapellen gibt es doch bestimmt Hunderte oder gar Tausende in ganz Deutschland?“, fragte sie und reckte sich nach hinten, um den leeren Kaffeebecher hinter den Fahrersitz zu stellen.

„Wegen der Vorgeschichte“, antwortete Kübler und verzog missbilligend das Gesicht.

„Aha“, meinte sie nur, da sie immer noch nicht verstand, was er ihr damit sagen wollte.

„Da, wo heute die Kapelle steht, war früher eine Richtstätte. Im siebzehnten Jahrhundert wurden dort verurteilte Hexen verbrannt“, legte Kübler nach.

Nina blickte ihn an.

„Nicht dein Ernst, oder? Hexenverbrennung? Hier bei uns?“

„Doch, klar. Hier war es sogar besonders schlimm. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, wurden da, wo heute die Kapelle steht, an die zweihundert angebliche Hexen hingerichtet“, wusste er.

„Und du meinst, der oder die Tote da oben …“, Nina deutete den Hügel hinauf. Sie fuhren nun durch den Ort. Von hier aus konnte man die Kapelle wegen der Häuser gerade nicht sehen.

„Ich mein gar nichts … Erst mal schauen, was da genau los ist“, winkte Kübler ab.

Nina musste zugeben, dass sie nun doch irgendwie neugierig auf diesen Fall war. Dennoch war ihr mulmig zumute, und auch diese seltsame nicht zu beschreibende Nervosität war nun wieder da. Als sie mit gerade mal zwanzig zu ihrem ersten Tatort fuhr, hatte sie diese Unruhe zum ersten Mal gespürt. Damals hatte sie noch geglaubt, es würde sich irgendwann legen – dass der Tod eines Menschen irgendwann zur Normalität werden könnte. Heute wusste sie, dass dies niemals so sein würde. Der gewaltsame Tod eines Menschen war nicht normal und könnte es, zumindest für sie, niemals werden. Ja, sie war Profi. Ein alter Hase. Doch selbst Gesichter aus Fällen, die schon lange zurücklagen, kamen sie gelegentlich in ihren Träumen besuchen. Das Einzige, was sie als Polizistin für die Verstorbenen noch tun konnte, war, deren Mörder zu finden. Darin waren sie und ihr Team gut. Ihre Aufklärungsrate überdurchschnittlich.

Auf der Bergkuppe angekommen, ging es nach links in einen geteerten Forstweg. Nina fiel ein Schild an der Abzweigung auf. Bis Wildenburg, dem kleinen Ort mit der Burg, die ihm den Namen gab, war es nur noch ein Kilometer. Dort war sie schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Das Wildenburger Land war ein Zipfel des Landkreises, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Kleine Orte, einzelne Höfe, eine Burg, das Wasserschloss Crottorf. Ein Paradies für Wanderer und Menschen, die bergige Natur liebten.

Die verkohlten Überreste des Holzpolders, auf dem der verbrannte Körper lag, strahlten immer noch Restwärme aus, als Nina den Platz mit der mächtigen Linde vor der kleinen Kapelle betrat.

Gerichtsmediziner Doktor Sebastian Wagner beugte sich gerade über die Überreste.

„Moin, Sebastian“, begrüßte sie ihn freundlich und fragte sich, warum der Pathologe eigentlich fast immer vor ihr an den Tatorten war. Hatte der einen siebten Sinn oder waren sie und Kübler einfach immer nur zu langsam?

„Guten Morgen, liebe Nina … guten Morgen, Herr Kübler“, grüßte der Arzt froh gelaunt mit den Worten zurück, die Nina sich gerade verkniffen hatte. Heute war nämlich gar kein guter Morgen. Vor ihr lag eine Leiche, und ihr Kopf fühlte sich immer noch an, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. An Tagen wie heute reichte ein einfaches Morgen oder Moin.

„Ohne dass ich drängeln möchte, Sebastian, was können Sie denn schon sagen?“, erkundigte Nina sich vorsichtig.

„Ich kann mit Sicherheit sagen, dass der Mann bereits tot war, als man ihn angezündet hat“, antwortete Wagner.

„Es ist also ein Mann?“, schlussfolgerte Nina.

„Ja, ich denke, das ist ziemlich eindeutig. Der Körper ist bei Weitem nicht so stark verbrannt, wie es auf den ersten Blick scheint“, erklärte der Arzt.

„Was ist das denn da auf seiner Brust?“, wollte Kübler wissen und deutete auf die Stelle. Nina wusste sofort, was das war, glaubte aber ihren Augen nicht zu trauen.

„Das ist sein Kopf. Er wurde enthauptet, bevor man ihn verbrannt hat – daher auch die Annahme, dass er tot war, bevor man ihn anzündete“, bestätigte Wagner recht sarkastisch, was sie bereits vermutete.

„Dann würde ich mal sagen, dass es nichts mit dem Ort und diesem alten Hexenglauben zu tun hat“, schlussfolgerte Thomas wie immer ziemlich voreilig.

 

„Thomas, wir sind noch keine Minute hier und du schließt irgendetwas aus. Meinst du nicht, das wäre ein wenig voreilig?“, rügte sie ihn deshalb.

„Nee, mein ich nicht. Aber jeder weiß doch, dass Hexen immer an einem Stück und lebendig verbrannt wurden“, erwiderte er.

„Und das weiß jeder woher?“, wurde sie nun schon etwas grantig. Sie hasste diese Art von Diskussionen mit ihm. Kübler war belesen und bestimmt nicht dumm. Dennoch erinnerte er sie gelegentlich an dieses Schweinchen Schlau aus den Cartoons.

„Das weiß man eben!“, ließ er nicht locker.

„Seltsam, einer der Feuerwehrleute hier aus dem Ort hat mir eben berichtet, dass bei den damaligen Hexenverbrennungen an dieser Stelle die Delinquenten zuerst enthauptet wurden, bevor man sie verbrannte“, mischte sich nun Doktor Wagner ein.

„Na, dann hat der eben keine Ahnung“, beharrte Kübler.

„Soll angeblich so in den Gerichtsakten stehen, die gibt es als Buch veröffentlicht“, legte Wagner noch einen drauf.

Es war dem Mediziner anzusehen, dass es ihm einen Heidenspaß machte, Kübler zu belehren. Ein Spaß, der Nina in Anbetracht des verkohlten Leichnams doch sehr makaber und nicht angebracht erschien.

„Ich denke, wir sollten uns erst einmal das nähere Umfeld ansehen. Vielleicht finden wir ja noch Spuren, die nicht vom Löschwasser hinfortgespült oder von den Feuerwehrleuten zertrampelt wurden. Besser, du rufst den Rest der Truppe zusammen. Wir brauchen hier das gesamte Team und am besten noch eine Hundertschaft, um das Gelände weiträumig abzusuchen“, schlug Nina an Kübler gewandt vor. Der Kollege nickte und zückte sein Handy. Nina ging derweil zu den beiden uniformierten Kollegen der Schutzpolizei, die abseits bei einem Streifenwagen standen und sich mit einem Feuerwehrmann unterhielten. Dabei überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf. Die dringlichste Frage war derzeit, um wen es sich bei dem Toten handelte. Seine Kleidung, soweit er welche getragen hatte, schien das Feuer bereits komplett vernichtet zu haben. So etwas ging immer sehr schnell. Ein Körper hingegen brannte nur äußerst schlecht. In Filmen wurde das immer ziemlich simpel dargestellt. Da reichte oft schon ein Kanister Benzin, um einen Leichnam zu verbrennen. In der Realität sah dies allerdings anders aus. Es brauchte eine Menge Energie und Brennstoff, um einen Leichnam zu beseitigen. Sollte der Tote Ausweispapiere dabeigehabt haben, waren diese vermutlich vollständig verbrannt oder lagen vielleicht noch irgendwo in der Umgebung. Sie würden alle Kräfte benötigen, die sie zusammenziehen konnten, um jeden Stein und jeden Grashalm im näheren Umkreis umzudrehen. Außerdem würden sie checken müssen, ob in den letzten Stunden jemand als vermisst gemeldet worden war. Alles in allem wartete eine Menge Arbeit auf sie und das Team.


Sarika ging es mies. Wenn sie nicht so nötig aufs Klo gemusst hätte, wäre sie auch nicht aufgestanden, sondern hätte vermutlich den ganzen Tag verpennt. Sie schlurfte zur Toilette, erledigte, was zu erledigen war, und trottete dann weiter in die Küche, um ein Glas Wasser gegen ihren Mordsdurst zu trinken.

„Guten Morgen, mein Sonnenschein“, begrüßte ihr Papa Klaus sie.

Sie presste etwas hervor, das entfernt an ein „Moin“ erinnerte, und nahm sich ein Glas aus dem Schrank. Wie konnte einer am frühen Sonntagmittag nur so gut gelaunt sein, wie ihr Erzeuger es immer war?

„Und wie war dein Abend noch?“, wollte er nun auch noch wissen.

„Ganz nett“, antwortete sie jetzt einfach mal. Was sollte sie auch sonst sagen? Sie hatten bis spät in die Nacht bei ihrer Freundin Selina im Garten gefeiert. Außer der Band war auch noch so ziemlich ihre komplette Abistufe dort gewesen. Irgendwann hatte Sarika dann keinen Bock mehr gehabt und nur noch nach Hause gewollt. Leon Balke, ein Schulkamerad von ihr, der, warum auch immer, ebenfalls auf der Fete gewesen war, hatte sich angeboten, sie nach Hause zu fahren. Eine nette Geste des Jungen, mit dem sie in den letzten anderthalb Jahren, seit sie auf diese Schule ging, noch kein Wort gewechselt hatte. Eine Konversation auf dem nächtlichen Nachhauseweg war ebenfalls gescheitert, da sie, kaum bei ihm eingestiegen, auch zum ersten Mal weggenickt war und er sie erst hier in der Einfahrt wieder geweckt hatte.

Sie füllte das Glas randvoll mit Leitungswasser, tapste zum Tisch und ließ sich auf die Eckbank sinken.

„Es gibt auch noch Kaffee“, sagte Klaus.

Sarika nickte. Ein Kaffee käme nach dem Wasser ganz gut. Der trockene Geschmack in ihrem Mund war widerlich.

„Mit Milch und einer Kopfschmerztablette dabei?“, erkundigte Klaus sich. Sie sah ihn an und zwang sich zu einem Lächeln.

„Boahhhh, Papa … Das is echt nicht komisch“, sagte sie und trank dann einen Schluck. Er kicherte und erhob sich.

Sarika legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie hörte, wie er eine Tasse aus dem Schrank nahm, sie füllte und die Milch einrührte.

„Bitte schön“, sagte er schließlich und stellte die Tasse vor sie auf den Tisch. Als Sarika hinsah, lagen neben dem Kaffeepott tatsächlich eine weiße Tablette und ihr Handy.

„Danke, Papa. Wo kommt denen jetzt mein Handy her?“, wunderte sie sich. Vorhin in ihrem Zimmer war ihr zwar kurz aufgefallen, dass es nicht da war, den noch hatte sie keinen weiteren Gedanken daran verschwendet.

„Das steckte noch in deiner Jeansjacke. Zusammen mit deinem Portemonnaie, einigen Schmierzetteln und benutztem Kaugummipapier“, erwiderte er und setzte sich wieder zu ihr an den Tisch. Erst jetzt bemerkte sie die Gitarre, die neben Werk- und Reinigungszeugs vor ihm lag. Es handelte sich um ihre pinkfarbene Jem 777 Steve Vai Signature. Die, die sie gestern beim Auftritt gespielt hatte.

„Ähm … Warum wühlst du in meinen Taschen? Und was machst du da mit meiner Ibanez?“, erkundigte sie sich leicht irritiert.

„Die Jacke lag total verdreckt auf dem Boden vor der Garderobe. Ich hab’ die Taschen entleert und sie zusammen mit der anderen Wäsche in die Waschmaschine gesteckt“, antwortete er und hob dann die Gitarre ein Stück an, damit sie die Oberfläche sehen konnte. Das Instrument war, um es gelinde auszudrücken, total versifft. Schweiß, Bier und Haare klebten auf dem neonpinken Lack. Die Saiten waren bräunlich angelaufen. Der ganz normale Wahnsinn nach einem Gig bei fünfunddreißig Grad im Schatten.

„Ich dachte, ich mach sie mal sauber und zieh dir neue Saiten auf.“

„Ohhh“, antwortete sie nur, beugte sich dann zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange.

„Danke, Paps. Wär’ aber nicht nötig gewesen. Ich hätte, solange die Ibanez dreckig ist, halt eine von deinen Klampfen benutzt“, unkte sie.

„Jepp, und genau deshalb hab’ ich mir gedacht, ich erledige das eben schnell für dich“, lästerte er zurück.

Mit dem letzten Schluck Wasser nahm sie die Tablette ein und nahm sich dann des Kaffees an. Er tat wahrlich gut. Zwar half der nicht gegen den Kater, doch zumindest der pelzige Geschmack auf ihrer Zunge ließ ein wenig nach.

„Sag mal, Sarika, war das Blut auf deiner Jacke eigentlich von dir? Hattest du wieder Nasenbluten?“, fragte Klaus, während er den Body der Gitarre mit einem feuchten Tuch abwischte.

„Ach das … Nee, das war nicht von mir“, antwortete sie und musste nun automatisch wieder an den kleinen Eklat am gestrigen Abend denken.

Klaus nickte zufrieden, schien aber immer noch auf eine Erklärung zu warten. Obwohl Sarika ihren Vater erst seit etwas über anderthalb Jahren kannte, waren da ein sehr inniges Band und eine große Vertrautheit zwischen ihnen beiden. Ständig bekam sie mit, dass Freunde und Bekannte in ihrem Alter Stress mit den Eltern hatten. Bei ihr war das nicht so. Vielleicht lag es daran, dass sie Klaus erst kennengelernt hatte, als sie bereits erwachsen war. Er war mehr ein guter Freund als ihr Vater. Sie beide hatten so viel gemeinsam. Nicht nur die Musik. Wobei die schon einen besonderen Stellenwert zwischen ihnen einnahm. Musik war einfach ihr beider Ding. Auch das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter Nina würde Sarika als ausgesprochen gut bezeichnen. Nina hatte sie, die Tochter aus einer früheren Beziehung ihres Mannes, mit offenen Armen aufgenommen und respektierte sie so, wie sie war. Klar waren sie nicht immer einer Meinung. Gelegentlich krachte es auch schon mal. Doch nach Regen kam bekanntermaßen auch immer wieder Sonnenschein. Kurzum, Sarika war gerne hier bei ihrem Vater und dessen Familie im Westerwald.