666 Der Tod des Hexers

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„Nee, lass. Ich muss die Bude gleich eh komplett wischen und das Chaos beseitigen, bevor meine Eltern nach Hause kommen. Meine Alten flippen aus, wenn sie den Hof so sehen, wobei … paar Tage hab’ ich ja noch“, erwiderte Selina und deutete dann auf die Kaffeemaschine.

„Wenn du magst, nimm dir auch einen.“

Sarika blickte zu der Tür, die ins Bad führte.

„Nicht, dass ich da jemandem etwas wegtrinke.“

Selina kicherte kurz, verzog dann aber das Gesicht und fasste sich an den Kopf, als habe sie Schmerzen.

„Nee, das ist nur Lena und nicht, was du denkst … Fuck, tut mir die Birne weh“, stöhnte Selina und massierte mit ihrer Linken ihre Schläfe, während die Rechte den Griff der Tasse fest umklammert hielt.

Sarika bediente sich derweil am Kaffee. Ja, sie hatte tatsächlich gedacht, dass da eventuell ein Kerl im Bad war, obwohl es laut Sarikas aktuellster Info derzeit keinen Typen in Selinas Leben gab. Doch solche Dinge konnten sich ja auch schnell einmal ändern.

„Hast du mit Fabrice gesprochen?“, wollte Selina nun wissen. Sarika hatte mit genau dieser Frage gerechnet. Immerhin hatten sie beide am Morgen am Telefon besprochen, dass Sarika sich darum kümmern sollte, ihrem ehemaligen Sänger den Kopf zu waschen. Den ganzen Weg von Tüsche­bachsmühle bis hierher hatte sie krampfhaft überlegt, was sie der Freundin sagen sollte. Dass Fabrice eventuell tot war, hatte Nina ihr im Vertrauen gesteckt. Andererseits wollte sie ihre Bandkollegin aber auch nicht anlügen.

„Der war nicht zu Hause und ans Telefon geht er auch nicht“, antwortete sie deshalb erst einmal ausweichend.

„Aha. Vermutlich hat er es ausgeschaltet, weil er ein schlechtes Gewissen hat, dieser Vollpfosten“, schimpfte sie.

„Moin, Sari … du bist es. Hab’ schon gedacht, wer das wohl sein könnte, als ich euch hab’ reden hören“, ließ die Stimme von Lena sie herumfahren. Die Schlagzeugerin kam gerade aus dem Bad. Ihre langen dunklen Locken glänzten nass. Sie war barfuß und steckte in einem viel zu großen weißen Bademantel.

„Moin, Lena“, grüßte Sarika zurück und deutete auf die Kanne der Kaffeemaschine. „Scheint noch genug drin zu sein.“

„Nee, lass mal. Man soll ja mit dem anfangen, mit dem man am Abend – oder vielmehr am Morgen – aufgehört hat“, fand sie, ging an den Kühlschrank, entnahm ihm eine Flasche Bier und drückte den Verschlussbügel zur Seite.

„Och nee … nicht dein Ernst“, fand Selina. Auch Sarika wurde bereits bei dem Gedanken an ein Bier flau in der Magengegend.

„Und was machen wir jetzt mit Fabrice?“, wollte die Drummerin wissen und ließ sich in einen der beiden alten verschlissenen Sessel fallen, die vermutlich noch von Selinas Oma oder vom Sperrmüll stammten.

Sarika fläzte sich in den anderen und zuckte mit den Schultern.

„Am besten, wir ignorieren ihn einfach“, schlug sie vor, musste dann aber wieder an die Liste mit allen Partygästen denken, die sie für Nina hatte aufschreiben sollen. Verdammt, sie war total in der Zwickmühle. Warum war sie blöde Kuh auch hierhergefahren?

„Die Bullen suchen nach Fabrice“, warf sie nach einem Moment der Stille einen Teil ihres Wissens in den Raum.

„Warum? Wegen diesem bescheuerten Video?“, fragte Lena verwirrt.

„Nein … ja … auch. Fabrices Mum hat ihn als vermisst gemeldet. Sie hat das Video auch gesehen und glaubt, dass er sich etwas angetan haben könnte“, erklärte sie das, was Nina ihr vorhin ebenfalls gesteckt hatte und bei dem es sich vermutlich nicht um ein Dienstgeheimnis handelte. Um Fabrice zu suchen, musste die Polizei ja auch nach ihm fragen.

„Quatsch, die müssen doch bei Volljährigen immer ein oder zwei Tage warten, bis die ihn als vermisst suchen gehen. Nur weil ein Typ nachts nach einer Party nicht nach Hause kommt, mobilisieren die doch nicht gleich die gesamte Bullerei“, meinte Selina.

„Meine Stiefmutter und ihre Kollegin waren aber bereits bei Fabrice zu Hause, als ich vorhin dort ankam“, erwiderte Sarika.

„Ist für Vermisste nicht die normale Polizei zuständig? Ich dachte immer, deine Stiefmum ist bei der Kripo und fängt Mörder?“, bemerkte Lena.

„Keine Ahnung … was weiß ich, was die da genau wollten und wer in deren Verein für was zuständig ist“, wehrte sie ab. Verdammt, sie musste aufpassen, was sie hier erzählte. Wenn Nina rausbekam, dass Sarika etwas ausgeplaudert hatte, wäre der Teufel los. Nina war eine total liebe Person. Sie beide verstanden sich super. Doch Sarika wusste auch, wie ihre Stiefmutter darauf reagieren konnte, wenn man sie anlog oder ihr Vertrauen missbrauchte. Sarika sah abwechselnd zu Lena und Selina, die beide jede für sich zu grübeln schienen.

„Ich denk’, es ist das Beste, ich fahr heim und hau mich noch mal ’ne Stunde aufs Ohr“, log sie, da sie mit ziemlicher Sicherheit gar nicht schlafen könnte.

„Kannst du mich bei mir zu Hause absetzen?“, erkundigte sich Lena. Sarika nickte. Lena wohnte in Wehbach, das sollte kein großer Umweg sein.

„Na super. Ich dachte, ihr helft mir wenigstens noch, das Chaos draußen auf dem Hof zu beseitigen“, maulte Selina.

„Ähm … ja klar, kein Problem“, beeilte Sarika sich zu sagen, während Lena sich bereits erhob.

„Ich zieh mir mal was an, dann erledigen wir das eben. Is ja kein großes Ding“, meinte die Schlagzeugerin und verschwand wieder im Bad.

Keine fünf Minuten später sammelte Sarika draußen auf dem Hof die leeren Flaschen ein, während Selina mit Lena die Grillschale mit den Ascheresten fortschleppte.

Als die beiden gerade um die Hausecke im Garten verschwunden waren, hörte Sarika ein Motorrad hinter sich auf den Hof knattern. Sie sah auf. Es handelte sich um eine schwere Geländemaschine, die da einen Radau veranstaltete, als wolle sie Tote aufwecken. Der Fahrer, eindeutig ein Feuerwehrmann in schwarzer Kleidung mit gelben Neonstreifen und weißen Reflektoren, brachte die Maschine unmittelbar vor ihr zum Stehen, schaltete den Motor aus und nahm den Helm ab.

„Guten Morgen, schöne Frau“, meinte ein Kerl, Mitte zwanzig mit schulterlangem Haar, und grinste sie an.

„Moin“, antwortete Sarika lediglich und musterte den Typen, der nun abstieg und das Motorrad auf den Ständer zog.

„Dürfte ich die holde Maid nach ihrem Namen fragen?“, laberte er sie ziemlich dümmlich und geschwollen an.

„Nö, mein Papa sagt immer, ich soll mich nicht doof von Fremden anquatschen lassen“, antwortete sie frech.

„Aha, sagt das der Papi?“, meinte er grinsend.

„Hey, Andi“, rief Selina von irgendwoher.

Sarika blickte zu den beiden Freundinnen, die durch die Gartenpforte zurück auf den Hof kamen.

„Wie du hörst, ich bin Andi. Selina hat dir doch bestimmt schon ’ne Menge von mir erzählt“, erklärte er und hielt ihr die Hand hin. Baggerte der sie gerade an? Ja, das war ziemlich eindeutig.

„Sarika Zielner … ich bin eine Klassenkameradin von Selina“, stellte sie sich ihm jetzt einfach mal vor. Selinas Bruder, von dem hatte Selina ihr tatsächlich schon mal erzählt. Schien ein lustiger Vogel zu sein.

„Aha … Sarika. Die Gitarrengöttin. Nett, dich mal kennenzulernen.“

„Lass dich von dem Spinner bloß nicht angraben“, fand Selina, kicherte dabei und boxte dem Feuerwehrmann sachte gegen die breite Schulter.

„Sag mal, wie sieht es hier eigentlich aus? Scheint, als hätte ich was verpasst“, schien er erst jetzt die Reste der vorabendlichen Hofparty zu bemerken.

„Nee, hast du nicht … Aber sag mal, wart ihr heute Morgen schon im Einsatz oder warum trägst du die Klamotten?“, wechselte Selina das Thema.

„Jepp, waren wir. Oben an der roten Kapelle hat es gebrannt“, berichtete er, ließ sich nun auf die Bank neben der Kuhstalltür sinken, hob die halb volle Wodkaflasche, die dort noch immer stand, gegen das Licht und schüttelte den Kopf.

„Die Kapelle hat gebrannt?“, hakte Selina unbeirrt weiter nach.

„Nein, nicht die Kapelle. Jemand hat nur ein paar Meter entfernt einen Holzpolder angezündet … da lag sogar noch einer drauf“, berichtete er und verzog angewidert das Gesicht.

„Wie, da lag noch einer drauf?“, kam Sarika Selina zuvor.

Kapitel 4

Sonntag, 8. August 2021, 16:55 Uhr

Betzdorf/Villa Schmitz

Als Thomas Nina zu Hause absetzte, war es beinahe schon fünf Uhr nachmittags. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und stach unerbittlich.

„Wir sehen uns dann morgen früh im Büro“, verabschiedete sie sich, warf die Wagentüre zu und sah dem roten Porsche hinterher, wie er langsam vom Hof rollte, während sie zum Haus ging. Entfernt hörte sie Kindergeschrei und -gejohle. Dann ein Platschen. Sie bog deshalb vor der Haustüre ab und nahm den Weg, der um das Haus herum in den großen Garten hinter dem Anwesen führte. Der Garten der 80er-Jahre-Villa grenzte direkt an den Wald. Doch da, wo bis vor einem Jahr noch große dunkle Fichten gewesen waren, erstreckte sich nun über eine Fläche von mehreren Fußballfeldern eine mondähnliche, braungraue Wüstenlandschaft, aus der lediglich noch die Stümpfe der toten Bäume ragten. Zwei trockene Sommer und Tausende kleiner Borkenkäfer hatten den fast hundertjährigen Bäumen den Todesstoß verpasst. Den Rest hatte eine riesige Erntemaschine erledigt. Innerhalb von zwei Tagen war der Wald verschwunden. Wahrlich ein Jammer. So wie hier sah es fast überall im Westerwald aus. Kahlflächen und abgestorbene Bäume, wohin das Auge reichte. Fast dekadent mutete da der große Pool an, der sich an die Terrasse der Villa anschloss und in dem der kleine Matteo gerade mit einem Platscher nur knapp neben seiner Schwester Chiara landete. Nina war schon froh, dass die Zwillinge mittlerweile schwimmen konnten. Dennoch achteten sie und Klaus peinlichst darauf, dass die beiden nicht unbeaufsichtigt im und um den Pool herum spielten. Von Klaus war allerdings weit und breit nichts zu sehen, und die einzige Erwachsene, die das Planschen hätte beaufsichtigen können, schien zu schlafen. Sarika lag, lediglich mit einem Bikini bekleidet, bäuchlings auf einer der Liegen und sonnte sich. Ihr Blick war zur Seite gerichtet. Wegen der großen Sonnenbrille konnte Nina nicht wirklich sehen, ob die Augen des großen und ausgesprochen hübschen Mädchens geöffnet oder geschlossen waren.

 

Nina setzte sich auf die Liege neben sie und betrachtete die Achtzehnjährige einen Moment. Die ansonsten sehr helle Haut des Mädchens schimmerte bereits rötlich. Besonders die rechte Schulter, die nicht von den langen, dunklen Haaren bedeckt war, sah beängstigend aus. Das war bereits ein ausgewachsener Sonnenbrand.

„Sarika? Hallo, Liebes …“, flüsterte Nina und stupste sie mit dem Finger an. Doch außer einem Grunzen, welches sogar irgendwie recht lustig klang, und einem Zucken kam da nichts. Sie musste wohl ein wenig rabiater werden.

„Sarika, aufwachen“, sagte sie nun etwas lauter, rüttelte an dem Mädchen und zog ihr mit der anderen Hand die Sonnenbrille ab. Sarika schreckte auf und hielt sich die Hand vor die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen.

„Was … wie?“, fragte sie und starrte Nina ziemlich verpeilt an.

„Du, Sari … Ich will ja nicht meckern, aber findest du das ’ne tolle Idee, hier halb nackig in der prallen Sonne zu pennen?“, musste Nina jetzt mal die besserwisserische Stiefmutter raushängen lassen.

„Ähm, wieso … stört’s dich?“, fragte das Mädchen verdattert.

„Nee, eigentlich nicht. Aber du solltest dich entweder in den Schatten legen oder dir was anziehen. Du siehst nämlich schon aus wie ein gekochter Hummer“, erklärte Nina den Grund ihrer Sorge. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie nun zum Beckenrand und begrüßte die planschenden Zwillinge mit jeweils einem dicken Schmatzer.

„Ohh, die Frau Hauptkommissarin beehrt uns mit ihrem Besuch“, hörte sie Klaus von der Terrassentüre her rufen.

Klang da eine Spur Vorwurf mit? War der sauer, weil sie wieder einmal am Wochenende bei der Arbeit gewesen war? Dem Gesichtsausdruck nach nicht. Vielleicht war es mehr ihr schlechtes Gewissen, das sie das glauben ließ. Sie sah kurz zu Sarika, die aufgestanden war und sich vom Beckenrand ins Wasser gleiten ließ. Das fast zu erwartende Zischen, wie wenn man glühendes Eisen ins Wasser tauchte, blieb aus. Dennoch sah der Rücken ihrer Stieftochter nicht wirklich gesund aus.

„Ich zieh mich schnell um und komm dann zu euch in den Pool“, beschloss Nina und ging zu Klaus, der immer noch in der geöffneten Türe zum Wohnzimmer auf sie wartete.

„Magst du nicht erst mal was essen?“, fragte Klaus, als sie sich an ihm vorbeizwängte und ihm einen Kuss auf den Mund drückte.

„Ähm, ja, was gibt es denn?“, erkundigte sie sich, da sie außer den trockenen Keksen vorhin im Besprechungsraum der Wache noch nichts gegessen hatte.

„Vanillewaffeln mit heißen Kirschen und Schlagsahne“, antwortete er.

„Hui, ihr lebt hier nicht schlecht, wenn ich mal nicht zu Hause bin“, fand sie und folgte ihm dann in die Küche.

Als sie Minuten später zurückkam, war Sarika nicht mehr im Pool. Auf dem Tisch neben der Liege, auf der sie vorhin geschlafen hatte, lag aber noch immer ihr Handy. Vermutlich würde sie also gleich wiederkommen. Es gab noch einiges zu klären. Ninas Gedanken waren noch immer bei der Arbeit. Sie konnte, wenn sie einen Fall wie diesen bearbeitete, nicht einfach nach Hause fahren und dann in den Privatmodus wechseln. Noch dazu, wenn jemand aus ihrem unmittelbaren Umfeld in die Sache involviert war. Dass Sarika irgendetwas mit dem Tod von Fabrice zu tun haben könnte, wollte Nina nicht glauben. Zum Ersten, weil sie ihrer Stieftochter eine solche Tat nicht zutraute, und des Weiteren war die Reaktion, als Nina ihr am Morgen von dem eventuellen Ableben von Fabrice berichtete, ziemlich eindeutig gewesen. Sie glaubte Sarika mittlerweile so gut zu kennen, dass sie merkte, wenn das Mädchen sie anflunkerte. Ihre Reaktion auf die Todesnachricht war echt gewesen. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass sie und Sarika Redebedarf hatten. Klaus hatte Nina vorhin in der Küche von Sarikas blutverschmierter Jacke berichtet, die morgens im Flur gelegen und die er mit in die Waschmaschine geworfen hatte. Sarika hatte Klaus gegenüber erwähnt, dass das Blut von Fabrice stamme. Wie es schien, hatte die Band sich am Abend auf der Fete von ihrem Sänger getrennt. Oder er von ihnen. So genau wusste Klaus das nicht. Nina hingegen wollte es genau wissen. Sie brauchte, um in dem Fall weiterzukommen, jede Antwort und alle Informationen, die sie kriegen konnte.

Bei dem Teamgespräch vorhin auf der Wache hatte Thomas etwas gesagt, das Nina zwar ihm gegenüber als Unfug bezeichnet hatte, das ihr aber dennoch zu denken gab. In dem Video, in dem Fabrice zugab, ein Hexer oder Zauberer zu sein, hatte er die vier Mädels aus seiner Band ebenfalls der Hexerei bezichtigt. Vermutlich nur dummes Geschwätz. Thomas glaubte jedoch zu wissen, dass es bei den mittelalterlichen Hexenprozessen übliche Praxis gewesen sei, den Delinquenten die Namen der anderen vermeindlichen Hexen und Ketzer zu entlocken, um diesen dann ebenfalls den Prozess zu machen. Thomas war davon überzeugt, dass die Mädchen in Gefahr waren. Nina wollte das nicht glauben, dennoch ging es ihr aber auch nicht aus dem Kopf. Was, wenn Sarika das nächste Opfer sein könnte? Sie mussten diesen Irren, falls es ihn gab, finden, bevor er erneut tötete. Heikes These, die Tat sei nur eine Inszenierung, um vom wahren Motiv abzulenken, wollte Nina nicht ausschließen, hielt sie aber dennoch für den Holzweg.


Als Thomas die Haustüre aufschloss, roch er es bereits. Alexandra hatte gebacken. Doch wie es schien, war niemand zu Hause. Noch nicht einmal die beiden Wuffis Alba und Oscar begrüßten ihn wie sonst. Das Haus war komplett verlassen und wirkte wie ausgestorben. Er ging ins Wohnzimmer und sah durch den Erker hinaus in den Garten. Keine Spur von den Kindern, den Hunden oder seiner Liebsten. Er bemerkte das offen stehende Gartentürchen, durch das man in das Naturschutzgebiet gelangte, das direkt an sein Grundstück grenzte. Dann entdeckte er sie in einigen Hundert Metern Entfernung unten im Tal. Seine Lieben traten gerade aus dem Wald auf die Wiese. Sein Magen meldete sich mit einem üblen Knurren. Es wurde Zeit, dass er endlich was zu essen bekam. Er ging in die Küche und entdeckte die beiden mit Tüchern abgedeckten großen Schüsseln auf der Anrichte. Vorsichtig hob er zuerst das eine und dann das andere Tuch hoch. Kekse und nochmals Kekse stellte er enttäuscht fest. Beide, wie es schien, mit Schokolade. Die einen mit bunten Streuseln, die anderen ohne. Er widerstand der Versuchung. Kekse hatte es eben auch schon im Besprechungsraum gegeben, und ebenso wie dort hielt er sich auch hier zurück. Im Kühlschrank, den er im Anschluss unter die Lupe nahm, wurde er dann fündig. In einem Glasbehälter mit grünem Plastikdeckel entdeckte er ein bereits gebratenes Grill­steak vom Vorabend und einen Rest Nudelsalat. Super, das passte ihm gerade in den Kram. Von den leckeren Keksen könnte er sich dann morgen welche mit auf die Arbeit nehmen.

„Papa, Papa, guck mal, wir haben Blumen gepflückt, die man essen kann“, stürmte Leah, gefolgt von den beiden Hunden, in die Essküche, als er gerade den benutzten Teller in die Spülmaschine stellte.

Thomas blickte auf das Grünzeug in den Händen seiner Tochter. Kinder kamen ja manchmal auf Ideen … unfassbar!

Er hob sie auf den Arm und drückte sie.

„Nein, Schatz, Blumen aus dem Wald kann man nicht essen. Da bekommst du nur Bauchweh.“

„Leah, der Papa hat keine Ahnung. Das ist Sauerampfer, den kann man sehr wohl essen, nachdem man ihn gewaschen hat“, fiel Alexandra, die ebenfalls von dem Grünzeug in Händen hielt, ihm jetzt auch noch in den Rücken.

„Sauerampfer? Bist du dir sicher?“, fragte er ungläubig.

„Jepp. Ganz sicher. Damit machen wir heute Abend einen leckeren Salat“, erklärte sie. Thomas nickte, obwohl er sich nicht sicher war, was er davon halten sollte. Am besten, er würde das gleich mal im Netz recherchieren. Bei Alex wusste man in solchen Dingen nie.


Als Thomas am nächsten Morgen das Büro betrat, saß Nina bereits an ihrem Schreibtisch und las auf dem Monitor. Es roch nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Das war sehr gut. Da musste er sich schon nicht darum kümmern, welchen zu kochen.

„Moin, Kübler“, begrüßte sie ihn, sah dabei nur kurz auf und widmete sich dann wieder ihrer Lektüre. Er hängte seine Jacke an die Garderobe, stellte seine alte Ledertasche neben dem Schreibtisch ab und bediente sich dann wie jeden Morgen erst einmal an der Kaffeemaschine.

„Und, gibt es was Neues?“, erkundigte er sich, nachdem er an seinem Platz saß und damit begann, seine Tasche auszuräumen.

„Der Obduktionsbericht von Fabrice Gladenberg ist da“, antwortete sie.

„Es ist also jetzt sicher, dass es sich um den vermissten Fabrice handelt“, schlussfolgerte er aus Ninas Aussage.

Nina nickte und murmelte etwas, das wie ein „Ja“ klang.

„Und?“, fragte er nach. Er hasste es, wenn man Leuten alles aus der Nase ziehen musste. Konnte die Kollegin nicht einfach mal innehalten und ihn in einem netten, knappen Gespräch ins Bilde setzen? So wie man das unter befreundeten Kollegen tat?

„Wie, und?“, antwortete sie stattdessen ziemlich patzig.

„Na … Was steht drin?“, wurde er deutlicher.

„Keine Ahnung, Kübler, ich komme ja nicht zum Lesen, weil du mir ständig dazwischenquatschst“, antwortete sie noch pampiger. Thomas ballte die Faust. Ninas morgendliche Launen waren gelegentlich nicht auszuhalten. An Tagen wie heute bereute er es, dass sie sich wieder ein Büro teilten. Er hätte dem nie zustimmen dürfen, als Kriminalrat Dirken vorschlug, dass er und Nina der Effektivität wegen wieder in ein gemeinsames Büro ziehen sollten. Er schloss die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Dann, als er sich wieder etwas beruhigt hatte, startete er den Laptop. Während das Gerät hochfuhr, packte er sein Frühstück aus. Er liebte es, morgens in aller Ruhe im Büro zu frühstücken und dabei erst einmal einen Blick in die Zeitung zu werfen. Eine Ruhe, die es zu Hause bei zwei schulpflichtigen Kindern, kläffenden Hunden und seiner hyperaktiven Frau nur selten gab. Er öffnete die Brotdose und hob vorsichtig die oberste Scheibe des Vollkornbrotes an, um zu sehen, was sich darunter befand. Käse und Wurst, stellte er zufrieden fest, nahm die Stulle und biss hinein. Während er kaute, holte er die zweite Kunststoffdose aus seinem Ranzen, öffnete sie und stellte sie neben das Telefon auf den Schreibtisch. Die Kekse hatte er sich am Abend zuvor bereits selbst eingepackt. Als Nachtisch quasi. Was in der Welt geschah, interessierte Thomas nicht wirklich, weshalb er die ersten Seiten der Zeitung direkt überschlug und sofort mit dem Regionalteil begann. Es war ja schon irgendwie makaber. Auf der zweiten Seite mit den Nachrichten aus der Region wurde von dem Open-Air-Konzert „Rock am Hang“ berichtet. Eines der drei Fotos zeigte die Band Witchwar mit Frontmann Fabrice Gladenberg, Gitarristin Sarika Zielner und einem weiteren Mädchen mit Gitarre. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Bericht über das Feuer an der roten Kapelle in Friesenhagen, bei der ein laut der Presse bisher noch nicht identifizierter Leichnam gefunden worden war. Wie nahe Leben und Tod doch manchmal beieinanderlagen! Auf der linken Seite war der junge Kerl noch voller Leben gewesen … und rechts bereits tot.


Nina hatte morgens früh noch nie etwas essen können. Sie schielte zu Kübler, der ihr gegenüber an seinem Schreibtisch saß, Zeitung las und zwischendurch immer wieder an seinem Brot knabberte. Konnte der das nicht zu Hause machen? Jeden Morgen das gleiche Drama. Noch bevor der Kollege einen Handschlag tat, war der schon beim Frühstück.

„Der Kopf des Jungen wurde mit einem Beil vom Rumpf getrennt. Der Täter hat wohl mehrmals zuschlagen müssen. War anscheinend ziemlich stumpf, das Ding. An den zersplitterten Halswirbelknochen konnte Wagner trotz der Brandspuren Rostpartikel feststellen“, lies sie ihn jetzt einfach einmal an dem, was sie gerade gelesen hatte, teilhaben. Thomas verzog das Gesicht und legte sein angeknabbertes Pausenbrot zurück in seine Frühstücksbox. Ein Umstand, der Nina das erste Lächeln für den noch jungen Tag entlockte.

 

„Klingt nach dem Beil, das wir hinter der Kapelle gefunden haben. Da war ja auch noch Blut dran“, erzählte er nichts Neues. Nina war schon gestern davon ausgegangen, dass es sich um ein Tatwerkzeug handelte. Die Frage war nur, warum der Täter es zurückgelassen hatte.

Sie sah zu Kübler, der in Gedanken versunken aus dem Fenster schaute.

„Was überlegst du?“, erkundigte sie sich.

„Boah … der arme Kerl“, meinte er nur und griff dann wieder nach seinem Brot.

„Angeblich hat er davon nichts mehr gemerkt, da er da bereits tot war“, wusste sie.

„Aha. Und woran ist er nun gestorben?“, wollte Kübler wissen und legte die Zeitung beiseite.

„Sieben Messerstiche in den Brustkorb“, berichtete sie.

„Puhhhh … Das nenne ich mal übertötet. Der Bursche wurde mehrmals erstochen, enthauptet und dann noch verbrannt“, zählte Kübler auf, schloss den Deckel der Brotdose und steckte sie zurück in seine Tasche.

„Ja. Vorher hat er … oder sie … ihm noch den rechten Daumen und den Zeigefinger zerquetscht“, berichtete sie ein weiteres abscheuliches Detail, stand dann auf und stibitzte sich einen Keks von Küblers Schreibtisch.

„Hat Alex gestern mit den Kindern gebacken“, berichtete Kübler stolz.

Nina hielt inne und besah sich den Keks.

„Und was ist da drinnen?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Wenn ihre Freundin Alexandra backte, kochte oder auch nur Essbares einkaufte, musste man auf der Hut sein. Alexandra liebte es, Dinge auszuprobieren. Hinzu kam ihr Ökotick. Wurst ohne Fleisch, veganer Käse, Salat aus Wiesenblumen und, und, und.

„Ganz normal, was da halt so rein muss. Mehl, Butter, Zucker und so“, erklärte Kübler.

„Und was ist der Unterschied zwischen den herzförmigen mit bunten Streuseln und den Monden ohne Streusel?“, war Nina immer noch nicht überzeugt.

„Na, was wohl? Die einen haben Streusel und die anderen nicht. Die Streusel hat Leah draufgemacht“, antwortete Kübler.

Nina tunkte ihren Keks kurz in den Kaffee und probierte dann davon. Er war lecker und fluffig und wesentlich besser als die Industriekekse im Besprechungsraum.

„Was steht denn heute so an?“, wollte Kübler wissen.

„Um neun ist Teambesprechung mit Staatsanwalt Lambrecht. Anschließend fahren Heike und ich noch mal zu Frau Gladenberg“, zählte sie auf und merkte sogleich, wie der Gedanke an den Besuch bei der Mutter des verstorbenen Fabrice ihr wieder aufs Gemüt drückte.

„Und was mach ich?“, hakte Kübler nach.

Nina nahm die Namensliste vom Schreibtisch, die Sarika ihr gestern Abend noch gegeben hatte, und reichte sie Thomas.

„Das ist eine Liste aller Personen, die am Abend vor der Tat mit unserem Opfer gemeinsam gefeiert haben. Die telefonierst du zusammen mit Sandra ab, bestellst die Leutchen ein und befragst sie. Am besten, du fängst da gleich schon mal mit an“, wies sie ihn an.

Thomas überflog die Liste und sah dann erstaunt auf.

„Da steht auch deine Stieftochter drauf“, stellte er fest.

„Ich weiß. Deshalb führen ja auch Sandra und du die Befragungen durch und nicht ich“, erklärte sie ihm. Nina hatte gestern Nachmittag noch lange mit Sarika über Fabrice und die Umstände seines Todes gesprochen. Sie war erstaunt zu hören, dass ihre Stieftochter bereits über den brennenden Holzpolder mit der geköpften Leiche Bescheid wusste. Wie es schien, war der Bruder ihrer Freundin Selina einer der Feuerwehrleute gewesen, die den Brand gelöscht hatten. Dass die Leute in den Käffern auch immer so viel tratschen mussten, ärgerte sie. Es gab nun mal auch Täterwissen, das im Kreise der ermittelnden Beamten bleiben musste. Wenn selbst Sarika schon wusste, was an der Kapelle in Friesenhagen passiert war, dann wusste es nun vermutlich auch schon das ganze Dorf. Alles in allem sehr ärgerlich.

Sie sah, wie Thomas zum Hörer griff.

„Lass mal. Vielleicht solltest du doch noch warten“, entschied sie sich um.

Er sah sie fragend an.

„Wie jetzt? Warum das denn?“, blaffte er genervt.

„Planänderung. Wir beide fahren jetzt und sofort zu Frau Gladenberg. Ich möchte es hinter mich bringen, bevor sie es von irgendwem anders erfährt“, entschied sie. Ihre Kollegin Heike, die lediglich eine halbe Stelle innehatte, würde erst um kurz vor neun in der Dienststelle erscheinen. Die Besprechung dauerte mindestens eine Stunde. Hinzu kam die Fahrt bis Harbach. Nein, wenn Kübler jetzt damit begann herumzutelefonieren, um die Jugendlichen zu der Befragung herbeizuzitieren, musste er ihnen zumindest im Ansatz den Grund dafür sagen. Dass ein Mensch in dem Feuer an der Kapelle verbrannt war, wussten die vermutlich eh schon alle, da der Dorffunk bestens funktionierte. Nina wollte nicht, dass Frau Gladenberg über Dritte vom Tod ihres Sohnes erfuhr.

„Meinst du, wir sind dann bis um neun zur Besprechung wieder hier?“, jammerte Kübler, von dem sie wusste, dass er am liebsten den ganzen Tag an seinem Schreibtisch hockte, um seine Arbeit von hier aus zu erledigen. Thomas fuhr nicht gerne raus zur Kundschaft.

„Ist mir egal. Dann müssen die anderen halt kurz auf uns warten. Ich möchte der Frau jetzt sagen, was mit ihrem Sohn ist, bevor sie es von jemand anderem erfährt“, beschied sie ihn, griff ihre Wagenschlüssel und stand auf.


Der Anruf von Kriminaloberkommissar Thomas Kübler kurz nach elf war für Sarika nicht überraschend gewesen. Nina hatte ihr bereits am Vorabend erklärt, dass Thomas oder eine Kollegin sie anrufen würde, um sie zu einer Zeugenbefragung vorzuladen. Sarikas vor zwei Jahren verstorbene Mutter war Anwältin gewesen. Sie kannte den Unterschied zu einer Befragung als Zeugin und einem Verhör als Beschuldigte. Nina hatte ihr eingeschärft, die Wahrheit zu sagen und auch das Blut auf ihrer Jeansjacke zu erwähnen. Die gewaschene und zwischenzeitlich bereits wieder getrocknete Jacke steckte in einem Müllbeutel, den Sarika mit zur Wache nehmen würde. Obwohl von dem Blut nichts mehr zu sehen war, würden die Spezialisten der Polizei es noch nachweisen können. Es war besser, direkt mit offenen Karten zu spielen, alles ehrlich zu erklären, anstatt etwas zu verschweigen und nachher doof aufzufallen.

Ninas Antwort auf die Frage, warum sie denn überhaupt noch einmal aussagen müsse, wo sie ihr doch schon alles erzählt hatte, war ihr nach kurzer Überlegung dann auch einleuchtend gewesen. Nina war ihre Stiefmutter. Das, was sie zu Hause besprachen, blieb innerhalb der heimischen vier Wände. Damit man später Nina und auch Sarika kein Gemauschel, Verschleierung oder sonst etwas vorwerfen könnte, musste ihre Aussage von einem anderen Beamten, mit dem sie weder verwandt oder verschwägert war, aufgenommen werden.

Dass Sarika Fabrice geschlagen hatte, tat ihr mittlerweile leid. Es war auch normal gar nicht ihre Art, auf andere Menschen einzuprügeln. Doch der Typ hatte sie dermaßen provoziert und beleidigt, bis bei ihr eine Sicherung durchgebrannt war. Was Fabrice ihr alles an den Kopf geworfen hatte, bekam sie in ihrem dusseligen Hirn schon gar nicht mehr zusammen. In Erinnerung waren ihr noch die „blöde Bitch“, die „Möchtegern-Gitarristin“ und die „Assi-Combo“ geblieben. Als Letztere hatte er die Band bezeichnet, mit der er, das Mega-Gesangs­talent, von der Minute an nichts mehr zu tun haben wollte. Der Typ hatte echt gemeint, dass er für die Band zu gut sei. Dabei war er der einzige Schwachpunkt von Witchwar gewesen. Klar, er hatte auch die Texte zu der von ihr komponierten Musik geschrieben. Aber die waren ebenfalls durch die Bank einfach nur kacke und unterste Schublade.

Gestern Morgen hatte sie noch gedacht, dass sie einfach einen neuen Sänger oder eine Sängerin suchen müssten, damit es mit der Band weiterging. Mittlerweile, nachdem jetzt klar war, dass Fabrice tot war, glaubte sie nicht mehr an die Weiterführung des Projekts Witchwar. Fast ein Jahr Probe, Hunderte Stunden, in denen sie geübt und die Songs entwickelt hatten, waren nach nur drei Auftritten im Endeffekt für die Katz gewesen.