666 Der Tod des Hexers

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Fabrice war eine seltsame Type. Ein Paradiesvogel. Vermutlich war dies auch der Grund, warum es niemand lange mit ihm aushielt. Er hatte die seltene Gabe besessen, Leute einzulullen. Als sie ihn im letzten Jahr in der Oberstufe des beruflichen Gymnasiums kennenlernte, war er ihr sofort aufgefallen und auch zuerst sympathisch gewesen. Mit diesen 0815-Typen, die ihr Fähnchen nach dem Wind drehten, hatte sie noch nie etwas anfangen können. Menschen, die aus der Reihe fielen, zogen sie immer schon irgendwie an. Er hatte Sarika gleich am ersten Schultag angegraben. Ihr Avancen gemacht. Allerdings nicht nur ihr. Fabrice baggerte alles an, was nicht schnell genug auf den Bäumen war. Wie Sarika mittlerweile wusste, war es ihm in den meisten Fällen dabei auch ziemlich egal, ob es sich bei den Objekten seiner Begierden um Männlein, Weiblein oder beides gleichzeitig handelte. Seine Performance gestern bei dem Auftritt hatte bei ihr das Fass zum Überlaufen gebracht. Er war einfach nur grottenschlecht gewesen und hatte es noch nicht einmal selbst eingesehen. Der Typ war von sich und dem, was er tat, dermaßen überzeugt, dass es ihr fast hochgekommen wäre. Er war sich vorgekommen wie der King und hatte ihr und den Mädels eine ganz spezielle Aftershowparty vorgeschlagen, die sie bestimmt niemals vergessen würden. Nachdem er ihr erklärt hatte, wie er dies meinte, hatte er sich dann eine gefangen. Zusammen abhängen, feiern und trinken war das eine. Sex im Rudel das andere und überhaupt nicht ihr Ding.

Sarika ließ sich auf die Leitplanke sinken und betrachtete die beinahe spiegelglatte Oberfläche des Weihers. Die einzigen Bewegungen gingen von einer einsamen bunt gefiederten Ente aus, die immer wieder mit dem Kopf untertauchte. Was die wohl suchte? Sarika seufzte und rieb sich die Schläfen. Nina wollte von ihr bis heute Abend die Namen aller Partygäste haben. Puh, wo sollte sie die denn alle hernehmen? Die meisten hatte sie ja noch nicht einmal mit Namen gekannt. Vielleicht wusste Leon noch, wer alles auf der Party gewesen war. Immerhin war der im Gegensatz zu ihr vollkommen nüchtern gewesen. Ein seltsamer Freak. So still und in sich gekehrt. Wirklich eine Schönheit war er auch nicht. So ein typisches Opfer, wie es sie in jeder Klassenstufe gab. Obwohl es schon nett gewesen war, dass er sie nach Hause gebracht hatte. Ob der sich zum Abschied von ihr mehr als einen Händedruck erwartet hatte? Wenn, dann hatte er es sich nicht anmerken lassen. Wann, um wie viel Uhr, er sie abgesetzt hatte, wusste sie auch nicht mehr. Sie glaubte bemerkt zu haben, dass es am Horizont schon wieder ein wenig hell geworden war. Sicher war sie sich nicht, da sie einfach zu viel getrunken hatte. An was sie sich noch sehr gut erinnern konnte, war der Moment, als sie Fabrice, nach einer weiteren verbalen Auseinandersetzung, mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Zu dem Zeitpunkt war sie noch ziemlich nüchtern gewesen. Erst danach hatte sie sich dann am Wodka vergriffen. Nina hatte vorhin wissen wollen, wann und mit wem Fabrice die Party verlassen hatte. Sarika hatte keine Ahnung. Auf alle Fälle war er nicht sofort abgehauen. Er war ihr noch ein paarmal an dem Abend aufgefallen. Seine Nase in Verbindung mit der aufgeplatzten Lippe und der Platzwunde hatte schlimm ausgesehen. Sein T-Shirt war voller Blut gewesen. Sarika war noch nie so von Sinnen gewesen. Der hatte es echt geschafft, sie auf die allerhöchste Palme zu bringen.

Sie erhob sich, ging ans Auto, holte die Schachtel mit den Zigaretten aus dem Handschuhfach und eine kleine Flasche Wasser, die seit Tagen im Fußraum umherkullerte. Sie trank einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. Die Plörre war viel zu warm. Dann steckte sie sich eine Zigarette an. Nicht, weil sie jetzt rauchen musste. Nein, sie brauchte das nicht. Sie würde sich eigentlich sogar als Nichtraucherin bezeichnen. So eine Schachtel hielt bei ihr mehrere Wochen oder gar Monate. Doch der Rauch half ihr im Moment ein wenig, den üblen Geschmack nach Erbrochenem loszuwerden. Fest stand, dass sie der Polizei alles sagen würde, was sie wusste, um zu helfen, den Fall zu lösen. Dafür musste sie sich allerdings wieder an alles ganz genau erinnern. Sie hatte ja keinen Filmriss. Auf keinen Fall. Der Film war halt nur ein wenig verschwommen. Sie öffnete auf ihrem Handy die App für Notizen und begann, die Namen von denjenigen Personen einzugeben, die ihr vom gestrigen Abend noch einfielen. Es funktionierte. Je mehr Namen sie notierte, umso mehr andere kamen ihr in den Sinn.

Kapitel 3

Sonntag, 8. August 2021, 11:24 Uhr

Betzdorf-Bruche

Oberkommissar Hans Peter Thiel stand am Fenster und beobachtete, wie Klaus Schmitz die Schiebetür des alten VW Bullis öffnete und die Zwillinge einsteigen ließ. Seine Rolle als Opa gefiel Thiel. Wäre es nach ihm gegangen, hätten Chiara und Matteo gerne noch ein wenig bleiben können. Vier Jahre waren die beiden jetzt alt. An Kindern merkte man, wie die Zeit verging. Nina und Thomas Kübler seien zu einem Leichenfund nach Friesenhagen gefahren, hatte Klaus ihm vorhin berichtet. Näheres wusste er allerdings auch nicht.

Obwohl es nächsten Monat zehn Jahre her war, seit sie ihn in den Ruhestand entlassen hatten, konnte Hans Peter immer noch nicht loslassen. Er hatte seinen Job so manches Mal verflucht, gehasst, aber auch geliebt. Es hatte Momente gegeben, an die er sich nicht gerne erinnerte und die ihn aber auch nach so langer Zeit noch in seinen Träumen verfolgten. Dennoch fehlte ihm das Leben als Polizist. Okay, er jammerte auf verdammt hohem Niveau. Es ging ihm, obwohl er nun siebzig war, gesundheitlich blendend. Er war fit, hatte eine liebevolle Frau gefunden. Finanziell standen sie beide sehr gut da und waren, zumindest gefühlt, drei Viertel des Jahres unterwegs. Fast ganz Europa hatten sie in den letzten Jahren bereist und dabei wunderschöne Orte und viele nette Menschen kennengelernt.

Draußen in der Einfahrt startete Klaus den Motor des Bullis und winkte ihm noch einmal zu. Auch die Zwillinge winkten. Hans Peter musste lächeln, als er sah, wie Matteo sein Gesicht an die Scheibe drückte und ihm eine Grimasse schnitt. Er mochte den ungestümen Wildfang, der, wenn er mit ihm zusammen war, lieb und brav wie ein Lämmchen sein konnte. Natürlich mochte er die ruhige und besonnene Chiara ebenso. Wobei die sich eher mit seiner besseren Hälfte Inge verstand. Er sah dem Bulli hinterher, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war. Erst dann ging er in den Flur, schlüpfte in seine Schuhe und nahm den Schlüssel seines BMWs aus der Schale auf dem Garderobenschränkchen.

„Willst du noch mal los?“, hörte er Inge fragen, die mit zwei leeren bunt bedruckten Kindertassen aus dem Wohnzimmer kam.

„Ja, ich dachte, ich schau noch mal, ob das Reisemobil auch startklar ist“, log er, da er mitnichten vorhatte, nach Grünebach in die Halle zu fahren, in der das große Wohnmobil parkte.

Inge legte den Kopf schief und musterte ihn. Und er wusste in diesem Moment, dass sie ihm wie so oft wieder kein Wort glaubte. War er so leicht zu durchschauen?

Bevor er etwas sagen konnte, seufzte und nickte sie.

„Sag besser nichts, Hans Peter, und grüß Nina und Thomas von mir“, meinte sie nur und schickte sich an, in die Küche zu gehen.

Jetzt musste er doch grinsen. Er trat auf sie zu, fasste sie bei den Schultern und gab ihr einen Kuss.

„Wie konnte ich nur glauben, dir etwas vormachen zu können, mein Sonnenschein?“, flötete er und ging dann.


Thomas Kübler lehnt im Schatten des großen Baumes vor der roten Kapelle und besah sich auf seinem Tablet zum x-ten Mal das Video, das Fabrice Gladenberg am Morgen auf Facebook hochgeladen hatte. Zwar war das Filmchen für die Öffentlichkeit in der Timeline der Band nicht mehr sichtbar, konnte jedoch noch immer im Profil von Fabrice angesehen werden. Sobald Heike ihm das Notebook des Jungen brachte, das sie bei der Mutter im Haus sichergestellt hatten, würde Thomas sich darum kümmern, den Account zu knacken, um das Video offline zu stellen. Er war sich mittlerweile sicher, dass die Aufnahmen im Inneren der kleinen Kapelle gedreht worden waren. Zu erkennen war dies ganz klar am Hintergrund, der schemenhaft im Licht der Kerzen zu sehen war. Außerdem hatten die Kollegen von der Kriminaltechnik frische Blutspuren in und um das kleine Gotteshaus gefunden. Er blickte zu dem Scheiterhaufen, von dem zwei Mitarbeiter des Bestattungsinstituts gerade die verkohlten Überreste des jungen Mannes bargen. Laut Wagner war der Tote schätzungsweise ein Meter neunzig groß gewesen. Im Personalausweis von Fabrice war dessen Körpergröße mit eins zweiundneunzig angegeben. Sie hatten seinen Rucksack samt seiner blutigen Hose und einer Jacke gefunden. Thomas brauchte keine weiteren Beweise. Der DNA-Abgleich würde nur das bestätigen, was sie eh schon wussten. Er stoppte das Video und betrachtete die Stirn des Jungen. Zwischen den verklebten Haaren waren ganz deutlich drei Ziffern zu erkennen. Was die Zahl wohl hier bedeutete? Er hatte so eine Ahnung, war sich aber nicht wirklich sicher. Er zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, gab die 666 in die Suchmaschine ein und wurde sofort bei Wikipedia fündig.

„Die Sechshundertsechsundsechzig ist eine biblische Zahl, die in der heute geläufigen Bedeutung erstmals in der Offenbarung des Johannes vorkommt. Im Rahmen des Okkultismus und der Zahlenmystik wird ihr eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Sie wird auch als Zahl des Tieres oder Zahl des Antichristen bezeichnet“, las er flüsternd die Textstelle und ließ dann das Handy sinken.

So ein Mist. Warum nur mussten sie sich ständig mit solchen Psychos rumschlagen? Ermittlungen in solchen Fällen waren meist ziemlich kompliziert, da der Täter, anders als sonst, nicht zwangsläufig aus dem Umfeld des Opfers stammte. Bei einem Mord aus Eifersucht war es zumeist einfacher, da sich in solch einem Fall Opfer und Täter unbedingt kennen mussten.

 

Psychisch kranke Täter, noch dazu mit einem Hang zum Okkulten, brauchten keinen direkten Bezug zum Opfer. Tötung aus Mordlust, nannte die Kriminalistik diese eigentlich eher seltenen Fälle.

Von dem Weg, der von der Landstraße zur Kapelle führte, vernahm er das Geräusch eines näher kommenden Fahrzeuges. Er sah auf und erkannte den mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen 5er-BMW von Thiel. Thomas kannte Hans Peter Thiel, seit er vor fünfzehn Jahren als junger Polizist frisch von der Polizeischule kam. Damals war der Wagen noch funkelnagelneu gewesen. Rein optisch stand der Karren auch noch immer wie ein Jahreswagen da. Anders als das Auto war sein Fahrer allerdings über die Zeit um einiges gealtert. Neulich hatte Thomas sich mit seiner besseren Hälfte Alexandra alte Fotos angesehen. Auf einigen war auch Thiel gewesen. Erst da war es ihm wirklich aufgefallen, wie der alte Bulle sich verändert hatte. Die Frage, die sich Thomas jedoch gerade stellte, war, was Thiel hier und jetzt wollte?

Der Senior stieg aus und kam näher. An der Absperrung sprach er kurz mit einem der uniformierten Kollegen, der lachend das Absperrband anhob und Thiel darunter hindurchschlüpfen ließ, als gehöre der immer noch zur Truppe. Thomas löste sich aus dem Schatten der mächtigen Linde und ging ihm entgegen.

„Moin, Jungchen“, grüßte Thiel gut gelaunt.

„Herr Thiel, ich muss Sie bitten zu gehen, dies ist nämlich ein Tatort“, blieb Thomas jetzt einfach mal förmlich.

„Sag mal, hast du was genommen?“, fragte Thiel und tippte sich gegen die Schläfe.

„Mensch, Hans Peter, wie oft soll ich dir noch sagen, dass das so nicht läuft? Du kannst als Zivilist nicht einfach hier rumschnüffeln, wie es dir gerade passt“, stellte Thomas klar, doch seine Worte schienen an dem Alten einfach so abzuprallen.

Thiel latschte an ihm vorbei bis zu dem halb verkohlten Holzstoß, von dem noch immer der Geruch von Verbranntem ausging. Er grüßte die beiden Bestatter und warf noch einen Blick auf den Leichnam, bevor sie den Reißverschluss des Leichensacks zuzogen.

„Wisst ihr, wer das Opfer ist?“, wollte der alte Bulle wissen.

„Wir haben einen Verdacht“, gestand Thomas.

„Und?“

„Wie, und?“, keifte Thomas zurück. Er wusste genau, was Thiel wollte. Der Kerl war neugieriger als ein Klatschreporter. Konnte der nicht einfach zu Hause auf seiner Terrasse sitzen, Zeitung lesen und seiner Inge auf die Nerven gehen? Thiel war nicht in diese Ermittlungen eingebunden. Und nur weil er gelegentlich als Berater für die Staatsanwaltschaft mitmischen durfte, hieß das noch lange nicht, dass Thomas ihm ständig Auskunft geben musste oder durfte. Es gab gewisse Spielregeln in seinem Job, an die er sich halten musste und die auch für Thiel galten. Etwas anderes wäre es, wenn Nina, als leitende Ermittlerin, Staatsanwalt Lambrecht oder irgendein anderer Vorgesetzter Thomas die Weisung gäbe.

„Mensch, Kübler, jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen“, beschwerte sich Thiel derweil.

„Hans Peter, du weißt genau, dass ich in Teufels Küche komme, wenn ich dir was erzähle. Und überhaupt … warum willst du das eigentlich wissen? Ich dachte, du und Inge wollt in Urlaub“, versuchte er den alten Bullen zu vertrösten, ohne ihm dabei allzu sehr auf den Schlips zu treten.

„Okay, Kübler, ihr braucht meine Hilfe hier also nicht“, schien Thiel es endlich zu kapieren.

„Genau, Hans Peter, wir haben alles im Griff“, bestätigte er.

Thiel nickte und grinste irgendwie verschlagen.

„Na, dann ist es ja gut. Weiß ich Bescheid. Dann fahr ich jetzt nach Hause und kümmere mich in Zukunft ausschließlich nur noch um meine Angelegenheiten“, erklärte der Alte, machte kehrt und ging sichtlich eingeschnappt zu seinem Wagen.

Thomas hättte schreien können. Dies war der Nachteil, wenn man mit Leuten, mit denen man arbeitete, auch privat zu tun hatte.

Vor einigen Jahren, zu der Zeit, als Thomas seine Frau Alexandra noch nicht gekannt hatte, war diese ziemlich am Boden gewesen. Ein Straßenmädchen, gerade einmal sechzehn, alleine und schwanger. Inge Moretti, Thiels bessere Hälfte, hatte Alexandra damals bei sich zu Hause aufgenommen. Sie behandelt, als wäre sie ihre eigene Tochter. Eine tiefe Verbundenheit, die auf Gegenseitigkeit beruhte und die bis heute anhielt. Linus, das ungeborene Kind von damals, war mittlerweile zehn und nannte die beiden älteren Herrschaften, genau wie seine kleine Schwester Leah, ganz selbstverständlich Oma und Opa. Ja, Inge und Thiel kümmerten sich um Küblers Kinder, als seien diese tatsächlich ihre Enkel. Und dies nicht nur an Weihnachten und Geburtstagen. Thiel fuhr zum Beispiel jeden Donnerstagnachmittag mit Leah zum Reitunterricht, wartete dort und brachte sie anschließend wieder nach Hause. Er zahlte der Kleinen sogar die Reitstunden. Letztens waren Thiel und Linus zum Frankfurter Flughafen gefahren. Einfach mal so, um dem Jungen die Flugzeuge zu zeigen. Wenn Thomas und Alexandra mal abends oder über das Wochenende einen Babysitter brauchten, standen Thiel und Inge immer Gewehr bei Fuß. Dennoch war Thiel auch ein sturer alter Mistkerl. Wenn Thomas ihn jetzt gehen ließ, würde er es früher oder später bereuen. Spätestens dann, wenn seine Alexandra es mitbekam. Familie ging seiner Alex über alles. Und außer ihm und den Kindern hatte sie halt nur noch Thiel und Inge.

„Mensch, Hans Peter … jetzt warte mal“, gab er also wie jedes Mal wieder klein bei und ärgerte sich dabei über sich selbst. Warum bekam Thiel eigentlich immer seinen Willen?


„Was denkst du?“, wollte Nina von Heike wissen, die, seit sie das Haus von Frau Gladenberg verlassen hatten, stumm auf dem Beifahrersitz hockte und aus dem Fenster starrte. Es war mehr als eindeutig, dass dieser Fall der Kollegin ziemlich heftig zusetzte. Natürlich ging der Tod des jungen Mannes auch an Nina nicht einfach so vorbei. Kein normaler Mensch konnte seine Gefühle in solch einem Fall einfach vollkommen ausblenden.

Heike drehte den Kopf und hob die Schultern.

„Du … das kann ich dir alles gar nicht in Worte fassen, was mir gerade durch den Kopf geht“, erwiderte sie und schüttelte ihr Haupt, als wolle sie damit auch die Gedanken abschütteln. Die Kollegin wirkte blasser als noch am Morgen.

„Heike, ich weiß, das klingt jetzt abgedroschen … aber lass das bitte nicht so nah an dich ran“, sagte Nina und lenkte den Porsche dann spontan auf eine geschotterte Haltebucht rechts der Straße. Heike blickte nach vorne durch die Scheibe und nickte.

„Ja, ich weiß. Es ist nur … da denkst du, sie sind erwachsen und aus dem Gröbsten raus …“, Heike stockte und schluckte.

„Nein, ich denke, das sind sie für eine Mutter nie“, gestand Nina. Sie war davon überzeugt, dass die Gedanken der Kollegin und die ihren gar nicht so weit voneinander lagen. Frau Gladenberg tat auch ihr so unendlich leid. Und die Tatsache, dass sie die Mutter des Jungen auch noch quasi hatten anlügen müssen, machte es nicht besser. Ninas Bauchgefühl sagte ihr, dass es sich bei dem verkohlten Leichnam eindeutig um die Überreste von Fabrice handelte. Die Körpergröße, das Video, der Rucksack. Alles sprach dafür. Der Junge würde nicht wieder nach Hause kommen. Das Einzige, was sie als Polizisten für die Mutter tun konnten, war, ihr schnellstens Gewissheit zu geben und die Umstände lückenlos aufzuklären.

„Meine Florentina wird im November schon zwölf“, überlegte Heike. Nina hatte bereits befürchtet, dass Heike Parallelen zu ihren eigenen Kindern knüpfte. Die Ängste der Kollegin, nach einem Vorfall vor einigen Jahren, bei dem sie selbst und ihre Tochter Florentina beinahe ums Leben gekommen wären, waren so heftig, dass Heike sogar lange Zeit in ärztlicher Behandlung gewesen war. Eine Zeit lang hatte Nina sogar geglaubt, dass Heike nie wieder zurück in den Polizeidienst kommen könnte.

„Was sagt dir die Zahl 666“, versuchte Nina daher jetzt einfach mal das Thema zu wechseln.

Heike blies die Luft aus und nickte.

„Ähm, soweit ich weiß, hat es irgendetwas mit der Bibel zu tun“, wusste die Freundin.

„Und was sagt dir die Band Iron Maiden?“, wollte Nina als Nächstes wissen.

„Schon mal davon gehört. Ich weiß, dass das eine Rockband ist, könnte dir aber nicht den Titel eines einzigen Liedes von denen sagen. Warum fragst du? Ist es wegen der Schallplatte eben? Das war doch diese Band, oder?“, wollte Heike wissen.

„Ich zeig dir mal was“, erklärte Nina, gab den Namen „Iron Maiden“ und die „666“ bei Google ein. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis das Gerät ihr das, was sie gesucht hatte, anzeigte. Sie tippte auf einen Link zur Videoplattform YouTube und reichte Heike dann das Smartphone. Auf dem kleinen Monitor erschien eine düstere Friedhofszene. Dazu eine Stimme in englischer Sprache. Heike sah und hörte aufmerksam zu und nickte dann.

„Die Zahl der Bestie … 666. Du glaubst, der Mord könne in Zusammenhang mit der Musik stehen, die das mutmaßliche Opfer gehört hat?“, verstand Heike, was Nina meinte.

„Keine Ahnung. Das war halt eben mein erster Gedanke, als ich in dem Filmchen von Fabrice die 666 auf seiner Stirn gesehen habe“, erwiderte Nina und steckte ihr Smartphone wieder ein.

„Ich weiß nicht …“, erwiderte Heike und schüttelte den Kopf.

„Die Texte, die Fabrice für seine Band geschrieben hat, handelten fast ausschließlich von Tod, Teufel, Hexen und Dämonen“, erklärte Nina.

„Du meinst, er war ein Satanist, oder so etwas?“, fragte Heike.

„Keine Ahnung, ob er tatsächlich an den ganzen Stuss glaubte, den er zu Papier gebracht und ins Mikro gebrüllt hat. Kann natürlich auch alles nur Show gewesen sein. Die wenigsten dieser Metalheinis glauben an den Kram, den sie in ihren Texten besingen. Von Sarika weiß ich ziemlich sicher, dass sie überhaupt nicht gläubig ist. Die spielt in dieser Band mit, weil sie einfach gerne Musik macht. Mit Gott, Himmel und der Hölle hat die nichts am Hut“, erklärte Nina.

Heike überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf.

„Ich denke, wir sollten erst einmal mehr Fakten sammeln, bevor wir in irgendeine Richtung rennen. Vielleicht ist das Ganze auch nur eine billige Inszenierung, um uns auf eine falsche Fährte zu locken“, gab sie zu bedenken. Ein Gedanke, der Nina auch schon gekommen war.

„Du hast recht“, gab Nina entschlossen zu, legte den Gang ein und gab Gas. Vielleicht gab es ja am Tatort bereits neue Erkenntnisse.


Es nervte Alexandra Kübler jedes Mal gewaltig, wenn Thomas am Wochenende zur Arbeit musste. Wie gerne wäre sie heute Morgen noch mit ihm zusammen im Bett geblieben und hätte, während die Kinder vor der Glotze abhingen, noch das getan, was man als verliebtes Paar an einem solchen Sonntagmorgen halt tat. Aber was nicht war, das war nun mal nicht. Sie war daher gemeinsam mit ihm aufgestanden und hatte, während er zur Arbeit fuhr, Kaffee gekocht, die Hunde versorgt und den acht Hühnern in dem Gehege hinter dem Haus die Eier geklaut. Anschließend hatte sie noch ein paar Tomaten aus dem Gewächshaus besorgt und sich um ihre anderen Pflanzen gekümmert. Die, von denen ihr Polizistenmann offiziell nichts wissen durfte. Dass sie, Alexandra Kübler, mal zur Gärtnerin und Hühnerhalterin werden würde, hätte ihr vor einigen Jahren auch niemand erzählen dürfen, ohne dass sie in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre. Die Metamorphose vom Großstadtpunk zur Ökotussi machte ihr gelegentlich selber schon einmal Angst. Doch Alex liebte ihr Leben, so wie es war. Nur weil sie nun glücklich verheiratet mit einem Beamten war und mit zwei Kindern und zwei Hunden in einem schicken Eigenheim wohnte, hieß das ja noch lange nicht, dass der Punk tief in ihrem Herzen nicht mehr existierte. Punk hatte nichts mit grünen Haaren und all dem Äußerlichen zu tun. Punk war man im Herzen und im Kopf.

Nachdem Thomas ihr vorhin über die Nachrichtenapp mitgeteilt hatte, dass er nicht zum Frühstück käme und es heute vermutlich, obwohl es Sonntag war, länger dauern könnte, hatte sie mit Leah und Linus alleine gefrühstückt.

Die Idee, im Anschluss gemeinsam Kekse zu backen, hatte Leah gehabt. Und so kam es, dass sie nun mit den beiden in der Küche stand und den Teig zubereitete. Schokokekse für die Kinder und Thomas und Schoko- Hanf-Kekse, nach einem selbst ausgedachten Rezept, für sie selbst.

 

Wenn der Herr Polizist im Hause schon mal nicht da war, konnte sie die Zeit auch direkt sinnvoll nutzen und Dinge tun, die er nicht mitbekommen wollte. Zwar wusste Thomas, dass sie gelegentlich wegen ihrer ADHS Cannabis konsumierte, den sie selbst im Gewächshaus zwischen den Paprika und Tomaten zog, doch es war auch ein Thema, über das sie nicht sprachen. Im Übrigen das einzige. Ansonsten würde sie ihre Ehe als sehr harmonisch bezeichnen. Im Gegensatz zu vielen anderen Paaren sprachen sie miteinander und erzählten sich alles. Außer über die Hanfpflanzen im Gewächshaus. Die waren zwar da, doch Thomas übersah die Dinger einfach und erwähnte sie mit keinem Wort.

Alexandra würde sich nicht als drogensüchtig bezeichnen. Nein, davon war sie weit entfernt. Dennoch brauchte sie gelegentlich einen Joint, um sich zu erden, wenn die Pferde einmal wieder mit ihr durchgingen. Schon als Kind hatte ihr Papa sie immer „mein Zappelinchen“ genannt. Der Kinderpsycho, zu dem ihre Eltern sie damals schleppten, hatte es nicht so nett ausgedrückt, sondern ihr ohne zu zögern die volle Dosis Ritalin verschrieben. Kinder mit Energieüberschuss, zu vielen Flausen im Kopf und abseits der Norm passten eben einfach nicht ins Bild der gutbürgerlichen spießigen Gesellschaft. Medikamente nahm sie schon lange nicht mehr. Die einzige Medizin, die sie sich gelegentlich gönnte, war eben die, die sie selbst anbaute.

„Hey, das sieht ja echt super aus mit den bunten Streuseln“, lobte sie ihre Tochter, die gerade reichlich von den bunten Zuckerstreuseln auf die in Herzform ausgestochenen Teigrohlinge streute.

„Ich kann bei deinen Medizinkeksen auch welche draufmachen“, schlug Leah vor.

„Nein, mein Schatz, die Streusel machen wir doch deshalb drauf, dass wir die Kekse nicht aus Versehen mal vertauschen. Wir machen die Kinderkekse in Herzform mit bunten Streuseln und die Erwachsenenkekse mit der Medizin drin als Monde ohne Streusel, damit wir sie nicht verwechseln können“, erklärte sie ihrer Tochter noch einmal den Sinn hinter dem Ganzen.

„Ich würde das niemals nehmen. Onkel Klaus sagt, von Drogen wird man doof im Kopf“, fand Linus und verzog angewidert das Gesicht. Der Junge kam eindeutig ein bisschen zu sehr nach Thomas, obwohl der in Wahrheit gar nicht dessen leiblicher Vater war. Aber auch dies war gut so, wie es war. Nicht auszudenken, wenn der Junge nach seinem biologischen Erzeuger käme. Der Typ war ein Fehlgriff auf der ganzen Linie gewesen.

Alexandra zählte die von Linus ausgestochenen und von Leah verzierten Kekse auf dem Backblech. Neunundzwanzig. Das war nicht gut.

„Da fehlt noch einer“, stellte sie fest.

„Häh?“, antwortete Linus und klang dabei ebenfalls wieder wie Thomas.

„Weil es doch immer eine gerade Zahl sein muss“, erklärte sie ihm.

„Wieso das?“, verstand ihr Sohn nicht.

Bevor sie antworten konnte, tat Leah es bereits.

„Weil durch ungerade Dinge das Universum aus dem Gleichgewicht gerät.“

Linus sah zwischen Leah und Alexandra hin und her.

„Ihr spinnt, oder?“

Alexandra schüttelte den Kopf, während Leah einen der ungebackenen Kekse vom Blech nahm und ihn roh aß.

Ja, es konnte ein Spleen von Alexandra sein. Aber sie mochte es eben nicht, wenn Dinge unsymmetrisch oder ungerade waren. Vor allem, wenn sie malte, war dies ein wichtiger Aspekt. Punk hin oder her.

„Gut, Leah, jetzt passt es wieder“, lobte Alexandra ihre Kleine daher und schob das Backblech in den Ofen.

„Mama, du solltest echt weniger von dem Zeug nehmen“, fand Linus derweil und ging dann kopfschüttelnd hinaus.

Alexandra blickte zu Leah, die mit den Schultern zuckte.

„Der wird mal genauso ein Spießer wie Papa“, stellte die Kleine fest und klang dabei so altklug, dass Alexandra unweigerlich in lautes Gelächter ausbrach.


Sarika wollte jetzt unmöglich nach Hause fahren und sich alleine in ihrem Zimmer verkriechen. Sie konnte doch nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen, wenn gerade einer ihrer Freunde gestorben war. Wobei Freund ja nun nicht das richtige Wort war. Gestern in der Nacht hätte sie ihm am liebsten noch den Tod gewünscht oder ihm selbst den Hals umdrehen können. Aber jetzt, wo es so aussah, als sei Fabrice tatsächlich nicht mehr da, tat er ihr leid. Mehr noch. Sie hatte ein richtig schlechtes Gewissen. Sarikas Freundeskreis war überschaubar. Zu den Leuten, mit denen sie damals in Düsseldorf noch abgehangen hatte, hatte sie keinerlei Kontakte mehr. Alle Brücken zu ihrem früheren Leben waren nach dem plötzlichen und viel zu frühen Tod ihrer Mutter abgebrochen. Zwar besaß sie immer noch ein Haus in der Stadt am Rhein, und auch ihre Großeltern wohnten dort, doch es zog sie nichts mehr dorthin. Die Entscheidung, Düsseldorf hinter sich zu lassen und zu ihrem Vater und dessen Familie zu ziehen, hatte sie noch keinen Tag bereut. Auch die neue Schule, in der sie im Frühjahr das Abitur ablegen würde, war okay. Sie hatte eine Menge neue Menschen kennengelernt. Nette Leute … aber auch Idioten. Die gab es überall. Was ihr fehlte, war eine richtige Freundin oder ein Freund. Jemand, mit dem sie über alles reden konnte. Nicht jeder, den man gut kannte, war ein Freund oder eine Freundin fürs Leben.

Die Einzige, die ihr gerade einfiel und die dem, was man eine Freundin nannte, am nächsten kam, war Selina Marksdorf, ihre Klassenkameradin und die Bassistin der Band.

Sarika hat Glück. Selina schien zu Hause zu sein. Zumindest stand ihr Twingo auf dem Hof vor dem ehemaligen Kuhstall, in dem die Freundin wohnte und in dem sie gestern Abend noch gefeiert hatten. Die Spuren des nächtlichen Gelages waren noch immer allgegenwärtig. Rund um die Feuerschale, die sich direkt hinter dem Twingo auf dem Kopfsteinpflaster befand, lagen gut und gerne ein Dutzend leere Bier- und Weinflaschen. Auf der urigen Bank direkt neben dem Eingang zum Kuhstall stand noch immer die Wodkaflasche. Auf dem Boden davor leere Pappbecher und Zigarettenkippen. Die Türe war nur angelehnt. Dass Selina bereits wach war, stand außer Frage, da Sarika am Morgen, nach der Entdeckung des Videos, ja bereits mit der Freundin telefoniert hatte.

Sie klopfte gegen den Türstock und trat ein. Der ehemalige Stall war alt, die Wände dick, mit eher winzigen Fenstern. Es gab fast keinerlei Wände in dem riesigen Raum, alles war offen. Die Gewölbedecke ruhte auf mehreren alten Steinsäulen, wie man sie aus Kirchen oder Klöstern kannte. Nur eben etwas niedriger, wie in einem Keller. Der einzige abgetrennte Raum war das Bad im hinteren Bereich, von wo aus Sarika das Rauschen und Plätschern von Wasser vernahm. Irgendwer duschte da gerade. Selina war es nicht. Die stand nämlich mit Kopfhörern auf den Ohren an der Anrichte der Küchenzeile und goss sich Kaffee in eine Tasse.

„Selina?“, rief Sarika.

Die Angesprochene reagierte nicht. Gegen den Sound aus den Kopfhörern schien Sarikas Stimme keine Chance zu haben.

In dem Moment, als Sarika noch überlegte, wie sie sich bemerkbar machen konnte, drehte Selina sich um und zuckte sofort erschrocken zusammen.

„Fuck … Sari … Mensch, hast du mich erschreckt“, stieß Selina aus, riss sich mit der Linken den Kopfhörer von den Ohren, während sie versuchte, mit der Rechten den Kaffeebecher auszutarieren. Was nicht wirklich funktionierte, da doch einiges auf dem Boden landete.

„Sorry, die Türe war auf und du hast nichts gehört … ich wisch das eben schnell weg“, bemühte Sarika sich um Schadensbegrenzung.

„Nee, lass, mach ich gleich selbst“, antwortete Selina, ging zu dem großen Schlafsofa und ließ sich darauf sinken.

„Also, das ist jetzt kein Problem, wenn ich das weg­wische … ist ja quasi meine Schuld“, versuchte sie es noch einmal, war aber dann auch nicht böse drum, als Selina ein weiteres Mal abwinkte.