Anfang und Ziel ist der Mensch

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Anfang und Ziel ist der Mensch
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Heinrich Mann

Anfang und Ziel ist der Mensch

Texte eines Idealisten

Herausgegeben von Günther Rüther


Inhalt

Einleitung

Kind aus wohlhabender Familie

Jahre der Selbstfindung

Geist und Tat

Lehrmeister der Demokratie

Fremde Heimat

Neubeginn ohne Erfolg

Die Anfänge im Wilhelminischen Reich

Vorbemerkung

Fantasien über meine Vaterstadt L.

Wohin

Haltlos

Bourget als Kosmopolit

Reaction

Kaiser Wilhelm II. und das Gottesgnadentum *

Antisemitismus im Geist der Zeit *

Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten

Die Göttinnen

Die Jagd nach Liebe

Pippo Spano

Zu neuen Ufern im neuen Jahrhundert

Vorbemerkung

Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen

Zwischen den Rassen

Die Branzilla

Der Tyrann

Die kleine Stadt

Geist und Tat

Voltaire und Goethe

Zola

Zu Ehren Frank Wedekinds

Der Untertan

Vorbemerkung

Der Untertan und Seine Majestät der Kaiser *

Die Enthüllung des Kaiserdenkmals *

Die Weimarer Republik

Vorbemerkung

Kaiserreich und Republik

Der hundertjährige Flaubert

Gerhart Hauptmann

Wir feiern die Verfassung

Sie gehen bis zum Verrat

V. S. E.

Anatole France

Kobes

Arm oder reich?

Der Kopf

Liliane und Paul

Der tiefere Sinn der Republik

Mutter Marie

Deutsche Republik

Rede im Palais du Trocadéro

Ein geistiges Locarno

Huldigung für Max Liebermann

Eugénie oder Die Bürgerzeit

Die große Sache

Heinrich Heine

George Sand

Die deutsche Entscheidung

Ein ernstes Leben

Vor der Katastrophe

Leben und Schreiben in Nizza

Vorbemerkung

Der große Mann

Guernica

Kampf der Volksfront

Nietzsche

Der Königsroman

Vorbemerkung

Die Jugend des Königs Henri Quatre

Die Vollendung des Königs Henri Quatre

Fern von Europa in Los Angeles

Vorbemerkung

Der deutsche Europäer

Empfang bei der Welt

Der Atem

Ein Zeitalter im Rückblick

Vorbemerkung

Ein Zeitalter wird besichtigt

Quellen

»Heinrich Mann war nebeneinander ein ausschweifender Ästhet, ein satirischer Erzähler und ein radikaler Tendenzschriftsteller. Er hatte keinen Respekt vor den herrschenden sozialpolitischen oder künstlerischen Konventionen. Er nahm keine Rücksicht auf die Realität, weder als Artist noch als politischer Kopf.«

 

Hermann Kesten (1959)

Einleitung

»Meinem Geschick bin ich dankbar – nicht weil ich bald oben, bald unten war. ›Wo ich sitze, ist immer oben.‹« Diese trotzigen Worte schrieb Heinrich Mann in seinem ErinnerungsbuchEin Zeitalter wird besichtigt in den frühen Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts in einer kleinen Wohnung einer Durchgangsstraße direkt in Los Angeles. Er brachte damit seinen moralischen Anspruch als Schriftsteller zum Ausdruck, spielte aber zugleich auf seinen wechselvollen Lebensweg an. In den Zwanzigerjahren der Weimarer Republik zählte er zu den einflussreichsten Intellektuellen, die regelmäßig in den großen Tageszeitungen und Journalen präsent waren. Zeitweise blickte sein Konterfei auch von den Litfaßsäulen auf die vorbeiziehenden Menschen der Straßen Berlins. Doch Ruhm ist flüchtig. Schon bald darauf musste er Deutschland verlassen. Als unerbittlicher Streiter für Wahrheit und Gerechtigkeit, die Ideale der Demokratie in einer Republik, zählte er schon unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung zu den Personen, für die im »Dritten Reich« zukünftig kein Platz mehr war. Seine Flucht – zuerst nach Nizza und von dort aus 1940 nach Los Angeles – hinterließ in seiner Seele tiefe Narben und zwang ihn zu einem Leben mit Einschränkungen, das er in seinen letzten Jahren nicht mehr ohne die finanzielle Hilfe seines Bruders Thomas führen konnte. Für ihn war dies eine Schmach, die er mit in den Tod nahm.

Die Brüder verband von dem Tag an, wo sich beide berufen fühlten, Schriftsteller zu werden, ein schwieriges, von Rivalität und zeitweise Missgunst geprägtes Verhältnis. Zunächst schaute Thomas, der Jüngere, voller Achtung und Wertschätzung auf Heinrich. Er bewunderte sein Talent und seinen unbekümmerten Lebensstil. Als Kinder hatten sie sich im Elternhaus in der Lübecker Beckergrube fern der Wirklichkeit gemeinsam in eine Märchenwelt hineingeträumt, in einen »Zustand freien Schwebens, der Enthobenheit aus Zeit und Raum« (Hans Wysling). Beide berichteten in ihren Lebensrückblicken über die Bindungskräfte, die diese Kindheitserlebnisse auslösten. Noch Jahre später, als Thomas seinen Bruder Ende der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts in Rom und dem nahegelegenen Städtchen Palestrina besuchte, verlebten sie glückliche Tage der Brüderlichkeit, obwohl sich schon damals die Lebenslinien der beiden zu trennen begannen. Sie genossen den Sommer in den Sabiner Bergen, wanderten, lobten die einheimische Küche und ließen es nicht an gutem Wein fehlen. Im Winter verweilten sie in Rom. Sie diskutierten, lasen und fassten Pläne. Sie haben wohl sogar daran gedacht, es den Brüdern Edmond (1822–1896) und Jules de Goncourt (1830–1870) in Frankreich gleichzutun und gemeinsam einen Roman zu schreiben. Heinrich entfaltete in diesen glücklichen Tagen neben seinen schriftstellerischen Ambitionen auch sein Talent als Maler. Die monatlich eintreffende Zuwendung aus dem väterlichen Erbe gewährte ihnen den kleinen Wohlstand, dessen es bedurfte, um ein Künstlerleben zu führen. Das Erscheinen von Thomas’ Buddenbrooks wenige Jahre später führte zu einer tiefgreifenden Veränderung des Verhältnisses der beiden Brüder. Heinrich fühlte sich herausgefordert, was sich weiter verstärkte, je mehr diese Familiengeschichte des Verfalls der bürgerlichen Gesellschaft Furore machte. Als Reaktion darauf veröffentlichte er binnen weniger Jahre mehrere Romane. Es kam zum Zerwürfnis. Thomas warf ihm vor, eine »Blasebalg-Literatur« zu schreiben, die vor allem auf Wirkung und Erfolg setze und nicht genug Wert auf Stil, Sorgfalt, innere Ordnung, inhaltliche Konsequenz und Geschlossenheit, Tiefe und Strenge lege. Heinrich war schockiert. Ihm fehlten die Worte. Er schwieg. Das enge brüderliche Band war vorerst zerschnitten; die noch verbleibende Verbindung lebte fortan vor allem aus den Tagen der Kindheit. Auch wenn es zu Beginn der Zwanzigerjahre zu einer Versöhnung der Brüder kam, fanden sie nicht zu der Unbekümmertheit früherer Tage zurück. Sie lebten ein jeweils anderes Leben: Heinrich das Leben eines Bohemiens, Thomas ein bürgerliches Leben in einem fest gefügten sozialen Rahmen. Für Heinrich änderte sich dies vorübergehend, als er 1914 die Prager Schauspielerin Maria Kanová heiratete. Die Brüder schauten mit anderen Augen auf die Welt. Ihre Bücher sprachen, augenfällig von Heinrichs Roman Im Schlaraffenland und Thomas’ Buddenbrooks an – sie erschienen kurz nacheinander – von dieser Verschiedenheit, das Leben zu betrachten und es in Literatur zu formen. Beide feierten große Erfolge. Thomas erhielt sogar 1929 den Literaturnobelpreis. Heinrich genoss in der Weimarer Republik höchstes Ansehen. Er wurde zum »Mann der Republik«. Aber mit seinen Büchern war ihm insgesamt nicht annähernd ein so anhaltend großer Erfolg vergönnt wie seinem jüngeren Bruder. Darunter litt er.

Als Schriftsteller in der »Bonner Republik« am Ende der Sechzigerjahre danach gefragt wurden, welche Romane sie von Heinrich Mann gelesen hätten, stellte sich heraus, dass nur wenige von ihnen tiefergehende Kenntnisse seines Werkes besaßen. Das mag sich heute geändert haben. Doch noch immer lasten auf seinem Werk zwei Schatten. Der Ruhm und literarische Erfolg seines Bruders Thomas und die deutsche Teilung, die Heinrich Mann als Vorzeige-Autor der DDR in der Bundesrepublik die verdiente Anerkennung versagte. Er hat sie bis heute nicht gefunden.

Kind aus wohlhabender Familie

Heinrich Mann wurde am 27. März 1871 als erstes Kind von Thomas Johann Heinrich Mann und dessen junger Ehefrau Julia, geb. da Silva-Bruhns, in der Freien Hansestadt Lübeck geboren. Bei diesem Ehepaar handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Bürgerfamilie, sondern um junge Leute gehobenen Standes. Mitte der Siebzigerjahre flüsterte die stolze Mutter ihrem gerade einmal vierjährigen Sohn Heinrich ins Ohr: »Wir sind nicht reich, aber sehr wohlhabend.« Und das traf es auf den Punkt. Lübecker, die etwas auf sich hielten, protzten nach alter Hanseatischer Tradition nicht mit ihrem Wohlstand. Sie versteckten ihn aber auch nicht, vielmehr wussten sie damit behutsam umzugehen. Dies galt insbesondere für die alten Kaufmannsfamilien. Und dazu zählte die Familie Mann.

Heinrichs Vater führte ein seit Jahrzehnten einträgliches Kommissions- und Speditionsgeschäft, das vor allem auf dem Getreidehandel basierte. Die Familie erwarb damit so viel Ansehen, dass ihrem »Oberhaupt« der Titel eines »Königlich Niederländischen Konsuls« verliehen wurde. Thomas Johann Heinrich Mann wurde zudem 1877 zum Senator auf Lebenszeit berufen. Er zeichnete in Lübeck für das Finanz- und Steuerwesen verantwortlich. Auch seine elf Jahre jüngere Frau Julia da Silva, Heinrichs Mutter, mehrte das Ansehen der Familie. Sie hatte deutsch-portugiesische Wurzeln. Ihre Eltern lebten in Brasilien. Sie brachte gelebte Weltoffenheit nach Lübeck und verzauberte mit ihrem Charme und ihrer Anmut das familiäre Umfeld. Besonders begehrt waren ihre Einladungen zum Maskenball. Heinrich erinnerte in seiner Novelle Das Kind an diesen Ballzauber, der vom Kaiserlichen Hof Napoleons III. schließlich auch den Weg nach Lübeck fand. Er schrieb: »Man spielte Scharaden, gab Rätsel auf, die Damen bemalten die Fächer ihrer Freundinnen mit Aquarellen, Herren, die sie verehrten, schrieben ihre Namen darauf.« Diese Sitten und Gebräuche fanden ihren Höhepunkt im Maskenball, dessen Faszination nicht nur die Höflinge in Paris erlagen, sondern auch die braven Lübecker. Heinrich wuchs in einer behüteten Welt des Wohlstands, der sozialen Anerkennung und in gewissem Maße des Exotischen auf. Im Maskenball fand dies seinen kultivierten Ausdruck.

Wie sich alsbald zum Leidwesen seines Vaters herausstellen sollte, fühlte Heinrich sich mehr vom Exotischen angezogen als vom Kaufmannswesen. Alle Versuche, ihn für Letzteres zu gewinnen, scheiterten. Ihn begeisterten Bücher, Schriftsteller und das ganz in der Nähe des elterlichen Hauses gelegene Theater. Die Gedichte von Heinrich Heine, Theodor Storm und Emanuel Geibel, die Balladen und Romane von Theodor Fontane hatten es ihm mehr angetan, als das Zahlenwerk des Kommissionshandels und die Verhandlungen mit den Getreidebauern. Schon als Schüler fing er an zu schreiben. Das Gymnasium trat dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Zuerst ein vortrefflicher Schüler, ließen seine Leistungen allmählich nach. Das Abitur zu machen, wozu es ihm keineswegs an Fähigkeiten mangelte, reizte ihn nicht. Er sah seine Zukunft nicht in Lübeck. Es zog ihn nach Dresden. Durch den Beginn einer Buchhandelslehre glaubte er, zusätzlich zur Profession des Schreibens auch noch das Lesen zum Beruf machen zu können. Doch schon schnell zeigte sich, dass von ihm anderes erwartet wurde, als Bücher zu studieren. Von seiner Mutter zum Freigeist erzogen, missfiel ihm die soziale Unterordnung in dem feinen aber kleinen Unternehmen Zahn und Jaensch. Um die Enge zu verlassen, kündigte er und suchte im S. Fischer Verlag in Berlin sein Glück. Dort begann er im April 1891 ein Volontariat. An der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität schrieb er sich als Gast ein. Damit eröffnete sich ihm die Möglichkeit, die dort versammelten Geistesgrößen von Wilhelm Dilthey, über Heinrich von Treitschke bis Hermann Grimm zu hören. Doch auch der streng geregelte und lebensferne Universitätsbetrieb entsprach anscheinend nicht ganz seinem inneren Wesen. Er tummelte sich lieber in der Berliner Theaterszene und den Etablissements der Berliner Nacht. Der frühe und unerwartete Tod seines Vaters im Oktober 1891 bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben der Familie. Die Mutter zog bald darauf mit ihren Kindern nach München. Gerade 20 Jahre alt, musste Heinrich auf eigenen Füßen stehen. Fortan stand für ihn fest, Schriftsteller zu werden.

Jahre der Selbstfindung

Nach dem Tod seines Vaters führte er ein rastloses Leben. Von einer systematischen schriftstellerischen Arbeit konnte zunächst nicht die Rede sein. Aber er bereitete sich darauf vor; er las viel, hörte den einen oder anderen Vortrag und vertiefte sich in die Lektüre zeitgenössischer Autoren. Besonders Friedrich Nietzsche, dieser »Aufwühler des Zeitgeistes«, hatte es ihm angetan. Seine Werke wurden zu seiner Hauptlektüre. Hinzu kam der aufregende Prophet der Moderne, Hermann Bahr. Er nahm einen nachhaltigen Einfluss auf sein Denken und Schreiben. Bahr beschäftigte, wie die Hektik der Tage, die Industrialisierung und Landflucht, auf die innere Verfassung der Menschen einwirke, wie die rastlose Zeit deren Nerven und Seele bestimme, sodass schließlich sie – nicht die Vernunft – zum bestimmenden Wesenszustand des Menschen würde. Nach einem Blutsturz musste Heinrich sein Volontariat beim S. Fischer Verlag aufgeben und zu seiner Genesung längere Zeit in Sanatorien verweilen. Nachdem er seine Krankheit überwunden hatte, zog es ihn nach Italien; nach Florenz, Rom oder an den Gardasee nach Riva, das damals noch zum Habsburger Reich gehörte. Nur selten kehrte er nach München zu seiner Familie zurück. Italien galt in den Neunzigerjahren als Sehnsuchtsland der europäischen Oberschicht.

Heinrich führte zur Jahrhundertwende ein Künstlerleben. Hier und da gelang es ihm, einen Artikel zu schreiben, der in der Monatsschrift Die Gesellschaft und bald darauf auch in Die Gegenwart veröffentlicht wurde. Mitte der Neunzigerjahre gab er die Berliner Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert heraus und schrieb dafür zahlreiche Beiträge im Geiste der Wilhelminischen Zeit. Sein Lebensstil änderte sich erst, als er 1914 nach München zurückkehrte und Maria Kanová heiratete. Aus der Ehe ging die gemeinsame Tochter Leonie hervor, genannt Goschi.

Bedeutende Köpfe der Philosophie und Literatur beeinflussten Heinrich Manns schriftstellerische Arbeit. Über Bahr fand er zu dem französischen Schriftsteller Paul Bourget. Ihm widmete er seinen ersten Roman In einer Familie, der mit finanzieller Hilfe der Mutter bereits 1894 erschien. Bourget öffnete ihm den Blick in die Welt der heimatlosen Oberschicht, die ein ausschweifendes, genusssüchtiges Leben führt und das Wohl des Einzelnen über die gesellschaftliche Verantwortung stellt. Bourgets radikaler Individualismus, seine konservative Weltanschauung, seine Stoffauswahl und psychologisierende Darstellungsweise prägten ihn. Auch Heinrich Manns in den Neunzigerjahren entstandene Novellen atmen den Geist dieses französischen Meisters. Bourgets Weltanschauung formte sein Bewusstsein. Heinrich Mann war in den Neunzigerjahren ein patriotischer Monarchist. Seine Beiträge in der Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert weisen ihn als Gefolgsmann Wilhelm II. aus. In seinen politischen Essays verteidigte er nicht nur den Kaiser, die Monarchie und das Gottesgnadentum; er polterte zugleich gegen das Parlament und die Juden. Obwohl er sich mit Nietzsche schon lange beschäftigt hatte, wiesen dessen Schriften ihm erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weg zu einer literarischen Neuorientierung. Vor allem machte er sich Nietzsches Kritik am Wilhelminischen Reich zu eigen und fühlte sich von dessen Verständnis des Künstlerdaseins inspiriert. Im Künstler sah Nietzsche einen »Philosophen der Macht«, der ohne Rücksicht auf sein eigenes Lebensglück tätig sei. Die Romane Im Schlaraffenland, Jagd nach Liebe und die Trilogie Die Göttinnen, die alle in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, verweisen auf ihn. In Die Jagd nach Liebe schildert er, wie die Kunst den Zugang zum Leben verschließt. Die Schauspielerin Ute kanzelt ihren Jugendfreund Claude mit den Worten ab: »Eine Künstlerin, die sich verliebt, wirklich und ganz verliebt – das war nie eine.«

 

Im Eingangszitat offenbart sich Nietzsches Einfluss auf Heinrich Mann bis ins hohe Alter. Zweifellos ließ er sich von ihm am Anfang seines Lebens als Schriftsteller begeistern. An dessen Bild vom Künstler, dessen Sendungsbewusstsein, Ausnahmestellung in der Gesellschaft und dessen Glaube an die Macht des Wortes hielt er fest, auch wenn die Wirkungsmacht dieses »Aufwühlers des Zeitgeistes« auf ihn insgesamt im Laufe der Jahre abnahm. Mit der Machtübernahme der Nazis bekam sein Nietzsche-Bild Risse, je mehr diese sich auf ihn beriefen und sein Werk missbrauchten. 1939 schrieb er in seinem Nietzsche-Essay: »Was haben Eingeweihte ihm geglaubt?« Er fügte an: »Vieles, aber nicht alles.«

Geist und Tat

Eine zentrale Figur in Nietzsches Philosophie ist der zur Tat schreitende, geistige Mensch und die »Verachtung der dumpfen, unsauberen Macht«, wie es in Heinrich Manns Essay Geist und Tat heißt. Doch bevor Heinrich Mann von 1910 an mehr und mehr in die Rolle des intellektuellen Wortführers zur Gestaltung einer besseren Gesellschaft hineinwuchs, verfasste er mit Professor Unrat, Zwischen den Rassen und vor allem dem Roman Die kleine Stadt, der 1909 erschien, gesellschaftskritische Werke, die sich vom Kult des Individualismus und Ästhetizismus abwandten und mit kritischem Blick auf die Gegenwart schauten. In seinem Roman Die kleine Stadt inszenierte er am Beispiel italienischer Lebenskultur einen Gegenentwurf zur wilhelminischen Untertanengesellschaft. In Gestalt der Mitglieder einer fahrenden Theatertruppe und der Bürger der kleinen italienischen Stadt, in der die Schauspieler gastieren, treffen zwei Welten aufeinander, sind Kunst und Leben Teil eines vielfältigen Reigens. Die Kultur, besonders deren musikalische Form, spielt im Roman wie in Heinrich Manns Leben eine zentrale Rolle; sie wird für ihn nicht nur im Roman zum prägenden Element des gesellschaftlichen Fortschritts. Von ihr geht der Impuls zu einer demokratischen Lebensform aus. Heinrich Mann selbst schrieb über Die kleine Stadt: »Was hier klingt ist das hohe Lied der Demokratie. Es ist da, um zu wirken in einem Deutschland, das ihr endlich zustrebt.« Den Weg zur demokratischen Lebensweise zeigte er in dem Zola gewidmeten Essay auf. In der Spiegelung von dessen Lebensgeschichte erklärte er auch seine eigene. Der Essay Zola erschien 1915. Er ist ein wahres Kunstwerk des Versteckens und Anklagens. Zolas Leben und das des Autors, deren Gedanken fließen hin und her und verschränken sich, sodass die Vergangenheit in die Gegenwart rückt und umgekehrt. Allein diese kunstvolle Form der Verhüllung ermöglichte es, dass diese Anklageschrift während des Krieges erscheinen konnte. Am Scheidepunkt des Wilhelminischen Reiches sprach Heinrich Mann sich darin im Namen Émile Zolas gegen die Monarchie, den Krieg und für die Republik, ihre Ideale der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aus. Zwei Schlüsselsätze aus diesem Manifest der Freiheit lauten: »Die Wahrheit und die Gerechtigkeit siegen trotz allem, nur darf es nicht verlauten. Der Sieg muß zweifelhaft bleiben.« Er musste zweifelhaft bleiben, weil die Stunde des Tages es erforderte. Die Stunde der Wahrheit und Gerechtigkeit war im Wilhelminischen Reich noch nicht gekommen, aber sie kündigte sich für kritische Zeitgenossen wie Heinrich Mann an. Da es zu den Eigenschaften der Vernunft gehört, zeitweilig zu ermüden, muss ständig um sie gerungen werden. Nur dann kann sie sich auch nach einer Phase der Erschlaffung kraftvoll zurückmelden. Sie ist mehr Hoffnung als Erfüllung. Dies erklärt der zweite Schlüsselsatz: »Wir können nichts tun, als kämpfen für die Ziele, die nie erreicht werden, aber von denen abzusehen schimpflich wäre, – kämpfen und dann dahingehn.«

Als er diese Zeilen schrieb, hatte er bereits sein nach dem Ersten Weltkrieg Furore machendes satirisches Meisterwerk Der Untertan abgeschlossen, das zunächst 1914 der Zensur zum Opfer fiel. Darin thematisiert er die fatale Neigung der Deutschen nach oben zu buckeln und nach unten zu stoßen. Oberflächlich betrachtet schien dieser menschenverachtende Untertanengeist mit dem Ende der Monarchie und der Niederlage des deutschen Militarismus 1918 überwunden. Doch Heinrich Mann zweifelte nicht daran, dass er in Wahrheit in den Tiefenstrukturen der Weimarer Republik fortleben würde. In dem Essay Kaiserreich und Republik entwickelte er, in welchem Maße die noch junge Demokratie auf den Trümmern des Kaiserreiches und seines missratenen Geistes fußte. Ihm war bewusst, dass es nicht ausreiche, die Republik auszurufen und in der Verfassung zu verbriefen; die Republik brauche Zeit, damit sie im Innern der Bürger wachsen könne.