Anfang und Ziel ist der Mensch

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Lehrmeister der Demokratie

Zu Beginn des Großen Krieges sorgte sich Heinrich Mann, ob er nach dessen Ende – er rechnete mit einer Niederlage der Mittelmächte –die Familie als Schriftsteller ernähren könne. Doch seine düsteren Vorahnungen trafen nicht ein. Er wurde einer der einflussreichsten und angesehensten Intellektuellen im Land. Sein Bruder Thomas nannte Gerhart Hauptmann anlässlich dessen 60. Geburtstags »König der Republik«. Heinrich Mann wurde ihr Lehrmeister. In zahlreichen politischen Essays, die manches Mal die Titelseiten der großen Tageszeitungen zierten, warb er für ihren Erhalt. Zugleich zählte er aber auch zu ihren engagiertesten Kritikern. Am vierten Verfassungstag hielt er in der Dresdner Semperoper im August 1923 eine flammende Rede zur Weimarer Verfassung. Die Zeiten waren schwierig; die Inflation führte zur Verarmung der Gesellschaft, die Ruhrkrise stellte die Einheit der Republik in Frage, politische Morde von Rechtsextremisten und Putsche von links und rechts forderten die Wehrhaftigkeit der Republik heraus. Ihr Zerfall drohte. In dieser schweren Stunde rief Heinrich Mann den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Medien entgegen: »Anfang und Ziel ist der Mensch. Der Staat, die Wirtschaft sind tauglich oder verfehlt, je nachdem sie den Menschen fördern oder hemmen. Humanität im Sinne Weimars sollte der Kern der Politik sein.« In diesem Sinne plädierte er für Vernunft, Gerechtigkeit und Frieden. Er trat dafür ein, die Weimarer Verfassung in Ehren zu halten. Reichskanzler Gustav Stresemann riet er in einem offenen Brief zu einer Diktatur des Rechts und der Vernunft, um die Republik vor ihren Feinden zu schützen. Er sah sie durch Kommunisten und Nationalsozialisten in ihrem Inneren bedroht. Zum deutschen Volk sagte er: »Dieses Volk ist immer dort, wo nichts zu holen ist als Wahnsinn, wo nichts zu finden ist als Nacht.« Ein Menetekel für alle Deutschen, ein Warnruf, dessen Berechtigung erst zehn Jahre später in seiner ganzen Tragweite erkennbar wurde. Auf dem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei 1927 in Hamburg appellierte er als Festredner an alle Demokraten, im Kampf des Tages den Gemeinsinn nicht aus dem Auge zu verlieren. Denn Demokratie heißt Güte, heißt Zusammenhalt, alle sind für einander verantwortlich. Ihr Gegenteil sei Ideenhass und die Verweigerung des Rechts.

Heinrich Mann trat für eine Versöhnung der europäischen Staaten ein. Dabei wies er Frankreich und Deutschland eine Führungsrolle zu, weil ohne sie Europa nicht zusammenwachsen könne. Er plädierte für eine deutsch-französische Konföderation. Sie sollte den Nukleus für die Vereinigten Staaten von Europa bilden. Im europäischen Gedanken erkannte er die Chance, dem aufkommenden Nationalismus die Stirn zu bieten und einen nochmaligen europäischen Bürgerkrieg wie die Heimsuchung von 1914 zu verhindern. Seine politischen und kulturellen Essays in der Weimarer Republik weisen ihn als einen Brückenbauer zwischen den Nationen und Friedensstifter zwischen den gesellschaftlichen Kräften aus, die die Republik erhalten wollten. Zugleich wies er die geistigen Brandstifter, die Kommunisten und Nationalisten, aber auch die skrupellosen Wirtschaftsbosse in die Schranken. Er war bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 davon überzeugt, dass die sittliche Idee der Republik, ihr geistiges Fundament und ihre in der Verfassung garantierte politische Ordnung den Stürmen der Zeit standhalten würden. Zunächst als Mitglied der Akademie der Künste und später als Präsident der Sektion Dichtkunst in Berlin versuchte er, die Demokratie vor ihren Feinden zu schützen. In den Dreißigerjahren erlebte er, wie der Verfassungskonsens von den widerstreitenden zentrifugalen Kräften ausgezehrt wurde. Die Republik zerfiel, weil die staatstragenden Kräfte vom Reichspräsidenten, über den Reichstag bis zu den Parteien der Mitte kurzsichtige Interessen über das nationale Wohl stellten. Hitler hatte deshalb leichtes Spiel, die Macht an sich zu reißen und die Verfassung außer Kraft zu setzen.

Seit 1926 lebte Heinrich Mann überwiegend in Berlin. Ihn zog es in die Hauptstadt, weil dort die Kultur aufblühte. Immer mehr namhafte Künstler, Maler, Musiker, Schriftsteller und Schauspieler verließen die Großstädte in den Ländern, um in dem gärenden Musentempel Berlin dabei zu sein, wenn nahezu täglich eine neue Sensation die Gemüter erregte. Berlin schickte sich an, zum Babylon der Moderne zu werden und Paris als europäische Kulturmetropole den Rang abzulaufen. Einen Beitrag dazu leistete auch die Verfilmung seines 1905 erschienenen Romans Professor Unrat. Er wurde unter dem Titel Der blaue Engel mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen zu einem Welterfolg und machte Heinrich Mann zum Star der frühen Dreißigerjahre. Aber nicht nur die Produktion dieses Films erforderte seine Anwesenheit in Berlin. Vor allem war es sein neues Amt in der Preußischen Akademie der Künste in der Sektion Dichtkunst. Hier prallten die wachsenden geistigen und politischen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre in wachsender Härte aufeinander. Trotzdem wurde er 1931 zu ihrem Präsidenten gewählt. Seine Bekanntheit und seine Persönlichkeit halfen den Mitgliedern der Sektion offensichtlich dabei, über seine ebenso entschiedene wie streitbare Haltung zur Weimarer Republik hinwegzusehen. Er wurde einvernehmlich per Akklamation gewählt. Seine häufige Anwesenheit in Berlin ließ ihm immer weniger Zeit, sich um seine Familie in München zu kümmern.

Seine Ehe ging in die Brüche. Zuerst verliebte er sich in die Kabarettistin und Filmschauspielerin Trude Hesterberg, danach in die Bardame Nelly Kröger, die er 1939 im Exil zu Beginn des Zweiten Weltkrieges heiratete. Seine vielfältigen Verpflichtungen hinderten ihn nicht, neben seiner umfangreichen essayistischen Tätigkeit auch weiterhin Romane zu schreiben. Zeit für Novellen fand er nur noch selten. Hervorzuheben ist vor allem seine Generalabrechnung mit dem Kaiserreich in dem Roman Der Kopf, der 1925 erschien. Immer wieder kommt Heinrich in seinen Romanen auf die schmerzhafte Kontroverse mit seinem Bruder zu sprechen. Nirgendwo geschieht dies jedoch so ausführlich und unverhüllt wie hier. In den Figuren Terra und Mangolf schilderte er die Hintergründe und Rivalitäten. Terra, dem selbstlosen Gesellschaftskritiker steht Mangolf gegenüber, der Strebsame, Erfolgshungrige, dem es nicht schwerfällt, mit der Zeit zu gehen.

Von dieser Kontroverse ist in den darauf folgenden sogenannten »Republik-Romanen« Mutter Marie, Eugénie oder Die Bürgerzeit und Die große Sache nichts mehr zu spüren. Darin ging es Heinrich vor allem darum, der entgleisenden Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Seine moralische Lehre lautete: »Lernt verantworten«, »lernt ertragen« und »lernt euch freuen«. Dieser Dreiklang verbindet die ansonsten thematisch sehr unterschiedlichen Handlungen und Begebenheiten der Romane.

An seinem 60. Geburtstag 1931 befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er wurde in den Medien als Intellektueller gefeiert, der die Abgründe der Zeit aufgreift. Er schilderte sie, ermutigte die Zeitgenossen aber auch, nicht in sie hinabzusinken, sondern sich ihrem Sog zu erwehren.

Eine Ausnahmestellung seiner Romane in der Weimarer Republik nimmt das Sozialdrama Ein ernstes Leben ein. Darin erzählt er die schillernde Lebensgeschichte seiner späteren Frau Nelly Kröger, die aus einfachsten Verhältnissen kommend ein Leben zwischen familiärer Fürsorge, Kriminalität und Bordell führt. Der Roman erschien am Ende der Republik; ihm blieb es nicht zuletzt deshalb versagt, eine Breitenwirkung zu erzielen. Mit Beginn des Nationalsozialismus fiel er in Vergessenheit. Heinrich Mann stellte mit Marie Lehning eine Frau in den Mittelpunkt der Handlung, die es wegen ihrer Authentizität, Originalität, Menschlichkeit und Ausstrahlungskraft verdient mit anderen großen Frauengestalten der Weltliteratur verglichen zu werden. Im Geist seines großen Lehrmeisters Honoré de Balzac inszenierte er mit Marie eine Frauenfigur, deren Kriminalität nicht einer Charakterschwäche, sondern den Zumutungen einer entgleisenden Gesellschaft entspringt, einer Gesellschaft, die den Armen die Möglichkeit nimmt, ein Leben in Anstand und Würde zu führen. In keinem anderen Roman gelingt es dem Autor eine ebenso plastische, authentische und ergreifende weibliche Romanfigur zu schaffen, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zu überzeugen weiß und die Möglichkeit wertvoller Menschlichkeit trotz Kleinkriminalität aufzeigt. Wie bei Balzac ist es auch hier eine magische Macht in Gestalt eines Polizeikommissars, die Marie vor dem Abgrund rettet.

Fast zeitgleich zu diesem Roman erschien der Essayband Das öffentliche Leben. Nach Macht und Mensch, Diktatur der Vernunft, Sieben Jahre und Geist und Tat war es der fünfte und letzte in der Weimarer Republik. Geist und Tat nimmt unter ihnen insofern eine Sonderstellung ein, da in ihm biografische Portraits französischer Schriftsteller vorgestellt werden. Das öffentliche Leben vereinigt politische und kulturelle Beiträge der letzten Jahre unterschiedlicher Art. Rückblickend sticht seine Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Nationalsozialismus hervor. Heinrich Mann mutmaßte, dass der Nationalsozialismus zur Herrschaft gelangen könne, weil die Deutschen wieder einmal in sich den »Ruf des Abgrunds hören«. »Die Deutschen hören ihn reichlich oft«, stellte er fest. Doch noch schien es offen, ob sie ihm wirklich folgen würden. Heinrich Mann hoffte, dass die vorangegangenen Katastrophen das Volk belehrt hätten. Er hoffte vergebens, wie wir heute wissen.

Im Februar 1933 wurde er von den Nazis aus der Akademie der Künste ausgestoßen, ebenso wie unter anderen auch Käthe Kollwitz. Nach einem mahnenden Hinweis des französischen Botschafters und wohl auch anderer verließ er wenige Tage später das »Dritte Reich«. Er glaubte an eine Abreise auf Zeit, nicht an einen Abschied für immer.

 

Fremde Heimat

Heinrich Mann fühlte sich in Nizza wohl. Schon in früheren Jahren hatte er diese wunderbare Metropole an der Grenze zwischen Italien und Frankreich, zwischen dem Glitzern des Mittelmeeres und der Kühle der nahen Berge schätzen und lieben gelernt. In Nizza erlebte er nicht die Bitternis des Exils. Frankreich empfand er als »Vorposten der menschlichen Freiheit«. Aber fern von seinen Lesern in Deutschland hafteten Nizza und der Côte d’Azur auch etwas Fremdes an. Es war ein Unterschied, ob er dort Urlaub machte und ausruhte, oder ob er als Schriftsteller dort sein Leben bestreiten musste. Die »Côte« konnte trotz ihrer unbestreitbaren Reize seine Heimat nicht ersetzen und es kam noch hinzu, dass Deutschland ihm während der nationalsozialistischen Diktatur immer fremder wurde.

Nelly und Heinrich lebten gut sieben Jahre in Nizza, stets in der Nähe des Boulevard des Anglais. In dieser Zeit veröffentlichte er drei Essaybände. Der erste kam bereits Ende 1933 heraus, der letzte im Kriegsjahr 1939. In allen drei Büchern stand die Auseinandersetzung mit Hitler und seinen Helfershelfern im Vordergrund. Den schärfsten Ton schlug Heinrich Mann gegen sie in seinem ersten Band Der Haß an. Die Wunde der Flucht und die seelischen Folgen der Erniedrigung verleiteten ihn dazu, dem Regime mit blanker Verachtung und Hass zu begegnen. So nachvollziehbar dies nicht nur aus seiner persönlichen Situation heraus war, entsprach seine radikale Darstellung nicht der Wahrnehmung vieler Deutscher, Franzosen und der Einschätzung im europäischen Ausland. Sie sah darüber hinweg, dass es Hitler gelang, weite Teile der deutschen Bevölkerung für seine Politik einzunehmen und das Ausland zunächst zu beruhigen. Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin wären nicht zu einem internationalen Festival des Nazi-Regimes geworden, wenn es auf breite Ablehnung im Deutschen Reich und seitens der bei den Spielen versammelten Welt gestoßen wäre. Heinrich Manns Schriften blendeten dies weitgehend aus. Zudem zog er einen dicken Trennungsstrich zwischen dem deutschen Volk und seinen Verführern, ohne zu erkennen, dass es ihnen allzu bereitwillig folgte. Auch wenn er in den beiden Folgebänden seinen hasserfüllten Ton milderte, hielt er an seinem Ziel fest. Er wollte das europäische Ausland, insbesondere Frankreich, vor den deutschen »Schreckensmännern« warnen und die Wachsamkeit und Solidarität gegen das »Dritte Reich« fördern. Zweitens kam es ihm darauf an, die in der Emigration lebenden Deutschen über weltanschauliche Gräben hinweg zu einen. Beide Ziele erreichte er mit seinen politischen Essays, wenn überhaupt, nur ansatzweise. Sie stießen weder in Frankreich noch im erweiterten europäischen Ausland auf eine breite Resonanz. In den Kreisen der Emigranten fanden sein Mut und seine Unerschrockenheit breite Anerkennung. Erst seit Mitte der Dreißigerjahre, als die Nazis ihr Regime gefestigt hatten, traten Heinrich Manns schlimmste Befürchtungen für alle, die es sehen wollten, ein. Trotzdem scheiterte sein Bemühen, eine Volksfront gegen Hitler zu schmieden. Schon am Ende der Weimarer Republik hatte er Sozialdemokraten und Kommunisten aufgefordert, sich zusammenzuschließen. Daran knüpfte er wieder an. Jedoch wollte er den Kreis nunmehr um alle diejenigen erweitern, die bereit waren, gegen die Hitler-Diktatur ihre Stimme zu erheben. Das Vorhaben scheiterte, weil die Kommunisten einen Führungsanspruch erhoben und sich weigerten, ein Bekenntnis für ein freies republikanisches Nachkriegsdeutschland abzulegen. Heinrich Manns Vermittlungsversuche liefen ins Leere, obwohl er den Kommunisten weit entgegenkam. Er trat für ein enges Einvernehmen mit der Sowjetunion und ihren – seiner Meinung nach – glorreichen Führern Lenin und Stalin ein. Ohne die Sozialistische Sowjetunion könne es keinen Frieden und auch keinen deutschen Volksstaat geben, schrieb er. In seinen Lebenserinnerungen bekräftigte er diese Position und sah in Stalin einen genialen Weltenlenker, und in der Sowjetunion ein Modell der Zukunft für die Welt. Diese Sichtweise irritiert. Dabei bleibt zu bedenken, dass die Welt erst später vom ganzen Ausmaß des stalinistischen Terrors erfuhr.

Neben den Essaybänden beschäftigte ihn die Niederschrift seines Doppelromans Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Die Arbeit daran füllte nahezu die ganze Zeit seines Aufenthalts in Frankreich aus. Es entstand ein historisches Epos mit vielen Bezügen zur nationalsozialistischen Diktatur. Es hat Shakespear’sches Format. Im Mittelpunkt der Handlung steht Heinrich IV., der vom König von Navarra zum König von Frankreich während der Zeit der Religionskriege aufstieg. Heinrich Mann diente die historische Vorlage vor allem als Quelle der Inspiration. Er schrieb kein Geschichtswerk, sondern einen Roman, der sich vom Leben dieses sagenumwobenen Königs leiten ließ. Der Kristallisationspunkt der Handlung ist die Bartholomäusnacht im August 1572 in der tausende Protestanten niedergemetzelt wurden. Heinrichs Gefolgsleute hielten sich in Paris auf, um die Hochzeit der Versöhnung Heinrichs, dem Hugenotten, mit der Katholikin Margarete von Valois zu feiern. Sie zahlten mit dem Tod, Heinrich IV. überlebte.

Margarete war die Tochter des bösen Geistes im Louvre, Katharina von Medici, die im Hintergrund die Strippen dieser Bluttat zog. Die Bluttat stellt den zivilisatorischen Tiefpunkt der Religionskriege in Frankreich dar. Nach seiner Flucht aus dem Louvre versuchte Heinrich IV., der inzwischen zum Katholizismus konvertiert war, das Land zu befrieden, was ihm schließlich mit dem Edikt von Nantes 1598 als König von Frankreich gelang. Es garantierte die Gewissens- und Religionsfreiheit. Von der Bartholomäusnacht bis zum Edikt vergingen über 20 Jahre, in deren Mittelpunkt Henris Kampf gegen die immer einflussreicher werdende katholische Liga stand. In ihrer Radikalität und menschenverachtenden Herrschaft entdeckte Heinrich Mann Parallelen zur nationalsozialistischen Diktatur. Mit der Darstellung ihrer Führer und deren Wortwahl verwies er auf ihren gewaltsamen Weg zur Macht. In der Gestalt des Predigers Boucher skizzierte er das Portrait von Joseph Goebbels. Als Kontrast zu den Gewaltmenschen zeichnete er mit Henri einen Herrscher, der seine Macht auf Güte und Ausgleich gründete, der versuchte, in seiner Amtszeit den Menschen ein guter König zu sein. Heinrich Mann schildert seine Entwicklung vom kämpfenden Heerführer zum volksnahen Herrscher, der dafür eintritt, dass seine Untertanen ein auskömmliches Leben in Freiheit führen können. Am Ende des Romans zieht Henri die Bilanz seines Lebens: »Ich habe viel geliebt. Ich habe mich geschlagen und die Worte gefunden, die packen. Französisch ist meine Lieblingssprache: selbst die Fremden möchte ich daran erinnern, dass die Menschheit nicht dazu erschaffen ist, ihren Träumen zu entsagen, die nichts anderes sind als wenig bekannte Realitäten. (…). Das Glück, es gibt es. Erfüllung und Überfluß sind in Reichweite. Und die Völker kann man nicht erdolchen. Habt keine Angst vor den Messern, die man gegen euch aussendet. Ich habe sie nie gefürchtet. Macht es besser als ich. Ich habe zu lange gewartet. Die Revolutionen kommen nie zur rechten Zeit: deshalb muß man sie zu Ende führen, und zwar gewaltsam.«

Im Angesicht des Nationalsozialismus trat Heinrich Mann für einen kämpferischen Humanismus ein, um die Freiheit zu verteidigen. Er war ein Idealist, der spürte, dass in der Stunde der Not die Ideale nicht allein mit Ideen und Worten verteidigt werden können. Im zweiten Teil des Romans heißt es: »Unser König ist kein Künstler, sondern ein Soldat«.

Neubeginn ohne Erfolg

Als die nationalsozialistischen Truppen Paris besetzten, konnten Nelly und Heinrich nicht länger in Frankreich bleiben. Sie flohen über die östlichen Ausläufer der Pyrenäen nach Lissabon und von dort mit dem Schiff nach New York. Nach einem kurzen Aufenthalt bei seinem Bruder Thomas in Princeton zog Heinrich mit seiner Frau nach Los Angeles. Dort versammelten sich – wie einst in Nizza – viele deutsche Migranten. Auch sein Bruder Thomas ließ sich bald darauf in Pacific Palisades nieder, wo er eine geräumige Villa baute, das sogenannte »Weiße Haus«. Ein Jahr erhielt Heinrich eine großzügige Unterstützung von der Filmgesellschaft Warner Brothers. Doch ihm fehlte das Talent, Drehbücher à la Hollywood zu schreiben. So war er fortan darauf angewiesen, von seinen Büchern zu leben. Im amerikanischen Exil gelangen ihm noch drei Romane und sein Memoirenbuch Ein Zeitalter wird besichtigt. Bei den Romanen handelt es sich um Lidice, Der Atem und Empfang bei der Welt. In diesen Arbeiten schlug er einen neuen Ton an. Sein Bruder Thomas sprach von einem »Greisen-Avantgardismus«, ohne genau zu erklären, was er damit meinte. Heinrich jedoch fühlte sich geehrt. Neben der politischen Dimension dieser zum Teil sehr aufwändigen Arbeiten lag es vielleicht auch an dem neuen poetischen – teils extravaganten, teils geheimnisvollen, surrealistischen – Ton, dass es nicht gelang, einen Verlag in den USA dafür zu finden. Mit großen Hoffnungen gestartet, gerieten seine Frau Nelly und er in Not. Nur mit finanzieller Hilfe seines Bruders und anderer Migranten konnte sich das Paar über Wasser halten. Nelly versuchte mit verschiedenen Tätigkeiten ihre schwierige wirtschaftliche Lage zu verbessern. Ihrer labilen Befindlichkeit war dies nicht förderlich. 1944 starb sie beim fünften Versuch, sich das Leben zu nehmen. Heinrich Mann fiel in tiefe Trauer und vereinsamte. Nur noch wenige Freunde besuchten ihn. Lion Feuchtwanger und seine Frau, Ludwig Marcuse und dann und wann der eine oder andere der in Los Angeles lebenden Migranten. Mit seinem Bruder telefonierte er fast täglich. Einmal in der Woche wurde er ins »Weiße Haus« eingeladen. Vor allem das Schreiben gab ihm Halt. Besucher berichteten, dass die ihn im Alltag begleitende Melancholie Heinrich nicht davon abhielt, im Gespräch seinen Witz und Geist aufblitzen zu lassen. Aufmerksam verfolgte er bis zuletzt das Weltgeschehen.

Heinrich Mann verstarb am 11. März 1950 in Santa Monica. Sein Tod kam überraschend, obwohl er seit Längerem krank war. Am Tag zuvor hatte sein Bruder ihn noch gemeinsam mit seiner Frau Katia nachmittags in seiner kleinen Wohnung besucht. Noch lange Musik hörend, verbrachte Heinrich den Abend. Es ging ihm den Umständen entsprechend gut. Spröde vermerkte Thomas zu Heinrichs unerwartetem Ableben in seinem Tagebuch: »Gehirntod, bei noch schwach fortarbeitendem Herzen. K. dort. Das Ableben eine Frage von Stunden. Natürliche Erschütterung ohne Widerstand gegen dies Geschehen, da es nicht zu früh kommt und die gnädigste Lösung ist.« Die Trauerfeier fand in kleinem Kreis statt. Die DDR rühmte ihn als großen deutschen Dichter, Freund des Friedens und der Sowjetunion. Sie förderte sein Werk, benannte Straßen und öffentliche Plätze nach seinem Namen und ehrte sein Gedenken mit einem Heinrich-Mann-Preis, der bis heute jährlich an seinem Geburtstag verliehen wird. Zu den frühen Preisträgern zählten u. a. Stefan Heym, Franz Fühmann und Christa Wolf. Aus der Bonner Republik trafen keine offiziellen Reaktionen ein. Dort galt Heinrich Mann als Kommunist und Stalin-Verehrer. Als Walter Ulbricht bei der Beisetzung seiner Urne – nach diplomatischem Tauziehen kam sie aus Los Angeles nach Berlin – auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof im März 1961 kurz und bündig formulierte: »Heinrich Mann ist unser«, instrumentalisierte er sein Werk. Diese Vereinnahmung trug dazu bei, dass der S. Fischer Verlag erst Mitte der Achtzigerjahre damit begann, es nach und nach in einer Taschenbuchausgabe einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Noch heute haftet Heinrich Mann das Stigma an, ein Parteigänger des Kommunismus gewesen zu sein. Doch er stand auf der Seite der Freiheit. Als er gebeten wurde, ein Vorwort zum Verfassungsentwurf der DDR zu schreiben, notierte er der SED-Führung ins Stammbuch: »wer die ganze Wahrheit wünscht, rechnet mit der Verschiedenheit der Meinungen.«

In dem nachfolgenden »Lesebuch« werden Ausschnitte aus Heinrich Manns Romanen, Novellen und Essays dokumentiert. Sie eröffnen dem Leser die Möglichkeit, seine literarische und zeitkritische Entwicklung nachzuvollziehen. Sie bieten nicht nur Einblicke in das Werk Heinrich Manns, sondern ermöglichen auch, sich in den Menschen Heinrich Mann und seine Zeit hineinzufühlen. Dennoch vermitteln sie nicht mehr als einen ersten Eindruck. Sie sollen zu einer vertiefenden Betrachtung einladen. Nicht alle Romane, noch weniger alle Novellen und schon gar nicht die Vielzahl seiner Essays fanden hinreichend Erwähnung. Auf Auszüge aus seinem nicht unbedeutenden dramatischen Werk musste aus Platzgründen ganz verzichtet werden. Zur Illustration wurden drei Gedichte zitiert; es gibt gut 200 Gedichte von ihm. Sie entstanden zum größten Teil in seinen jungen Jahren; einige finden sich aber auch in seinem Werk verstreut. Bis heute fehlt es an einer Sammlung. Das erste zitierte Gedicht und die sich anschließende Novelle verraten viel über seinen Orientierungsnotstand zu Beginn der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Die beiden Gedichte aus dem Doppelband Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre verweisen darauf, wie Heinrich Mann Prosa und Lyrik zu verflechten weiß.

 

Bei der Zusammenstellung ließ der Herausgeber sich davon leiten, inwieweit die Texte repräsentativen Charakter für den Roman, die Novelle und den jeweiligen Essay des Werkes insgesamt haben. Zudem kam es ihm darauf an, dass sie in sich abgeschlossen und damit gut verständlich sind. Drei Bücher wurden aufgrund ihres besonderen Stellenwertes herausgestellt: Der Untertan, der Doppelroman Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre sowie das Erinnerungsbuch Ein Zeitalter wird besichtigt. Die mit * gekennzeichneten Überschriften stammen nicht von Heinrich Mann, sondern vom Herausgeber.

Günther Rüther, Euskirchen im Sommer 2020