Menschwerdung eines Affen

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Menschwerdung eines Affen
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Heike Behrend

MENSCHWERDUNG EINES AFFEN

Eine Autobiografie

der ethnografischen Forschung


Für meine Enkelinnen Hanna,

Lili und Emma

Inhalt

EINFÜHRUNG

MENSCHWERDUNG EINES AFFEN

In den Tugenbergen im Nordwesten Kenias

AUFSTAND DER GEISTER

Feldforschung in einem Kriegsgebiet im Norden Ugandas

IM HERZEN DER POSTKOLONIE

Die katholische Kirche im Westen Ugandas und die Figur des Kannibalen

GETEILTE FOTOGRAFIE

Fotografische Praktiken an der ostafrikanischen Küste

EPILOG

Rückkehr zum Affen

Anmerkungen

Literatur

Dank

EINFÜHRUNG

Ihr Affentum, meine Herren, soferne sie etwas derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine: An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht, den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.

Franz Kafka1

1

Der Affe, der Mensch werden will, bin ich, eine (Berliner) Ethnologin. »Affe« nannten mich die Bewohner der Tugenberge im Nordwesten Kenias, als ich 1978 zu ihnen kam. »Affe«, »Närrin« oder »Clown«, »Hexe«, »Spionin«, »satanischer Geist« und »Kannibale« waren Namen, die mir auch auf späteren Forschungen in Ostafrika gegeben wurden. Über diese ethnografischen Forschungen möchte ich hier berichten. Mein Text ist also dem Genre des autobiografischen Feldforschungsberichts zuzuordnen und folgt ethnologischen »Vorfahren« wie Hortense Powdermaker, Laura Bohannan, Claude Lévi-Strauss, Paul Rabinow, Alma Gottlieb, Harry West oder Roy Willis, um nur einige zu nennen. Doch während bei ihnen der Ethnograf im Feld meist als heroischer Wissenschaftler und Meister der Forschung in Erscheinung tritt, behandle ich in diesem Buch vor allem die Geschichte der eher unheroischen Verstrickungen und kulturellen Missverständnisse, der Konflikte und Fehlleistungen, die sich während meiner Feldforschungen in Ostafrika ereigneten. Es geht um die Irritationen, Zufälle, unglücklichen Erfahrungen und blinden Flecken, soweit sie mir überhaupt bewusst geworden sind, die in den publizierten Monografien fast immer ausgeschlossen werden.2 Zur ethnografischen Praxis gehören jedoch wesentlich Situationen des Scheiterns. Sie tun weh und zwingen die Ethnografin, den Kurs ihrer Forschung zu ändern, einen anderen Ort, einen anderen »Informanten« oder auch ein anderes Feld des Wissens zu suchen. Doch in publizierten Texten ist das Scheitern meist ausgelöscht; die Ethnografin erzählt vor allem eine Erfolgsgeschichte. Die Produktivität, die auch im Scheitern liegen kann, wird selten anerkannt und der Reflexion unterzogen.

Tatsächlich aber bestimmten Irritationen, Missverständnisse und Zufälle wesentlich den Forschungsprozess, denn sie zwangen mich, in nicht vorhersehbare Richtungen zu denken und den Gegenstand der Forschung immer wieder neu zu fassen.

2

Feldforschungen nehmen ihren je eigenen Verlauf, da auch die Menschen vor Ort Interessen und Projekte haben, in die sie die Ethnografin einzubinden suchen. »Meine« Forschung gehörte mir nicht. Sie wurde weitgehend, wie ich zeigen werde, von den Ethnografierten bestimmt, verlief weder nach Plan noch ohne Konflikte. Denn mein »Wille zum Wissen« (Foucault) kollidierte nicht selten mit lokalen Interessen und Vorstellungen von Höflichkeit, Moral, Macht, Geschlecht und Geheimnis. Gerade die Akzeptanz, das Sich-Einlassen auf Kollisionen und deren Reflexion, erwies sich als äußerst produktiv und eröffnete Felder des Wissens, die ich mir zu Hause nicht hätte ausdenken können. Das heißt aber auch, dass ich ein Anderes postuliere, das in der Beziehung zum Eigenen nicht aufgeht. Es gibt ein Außen, das über die narzisstische Spiegelung des Eigenen im Fremden hinausweist und den Kreis der Selbstreflexion durchbricht.

Die Irrungen und Wirrungen, die »im Feld« akkumulierten, nahmen schemenhafte Gestalt an und verlangten, so scheint es mir, wie Geister nach Anerkennung. Sie führten zur Herausbildung von einem »Gegenstand«, der gemeinhin Forschungsthema genannt wird. Der war nicht einfach gegeben, sondern musste erst im Austausch – manchmal auch im Streit – mit den Männern und Frauen vor Ort gefunden werden. Dabei waren, wie ich feststellen musste, meine Gesprächspartner höchst interaktiv und überhaupt nicht indifferent; sie veränderten sich bereits, während wir noch miteinander sprachen. Und sie veränderten mich; auch ich bin heute das, was sie während der Forschungszeit in Afrika aus mir gemacht haben.

3

Ein autobiografischer Bericht beruht auf einem einzigen Namen. Da ich die Autorin, Erzählerin und Protagonistin des Textes bin, halte ich den »autobiografischen Pakt«3 ein und bin verantwortlich für den Text. Gleichzeitig aber sprenge ich den Rahmen, denn ich füge dem einen Namen, der den Pakt garantiert, andere, fremde Namen hinzu. Diese Namen, die mir in Afrika von den Subjekten meiner Forschung gegeben wurden, stelle ich ins Zentrum meiner Autobiografie der ethnografischen Forschung. Es sind Namen, die nicht schmeicheln und in denen ich mich nicht unbedingt wiedererkenne. Ich versuche, meine Subjektivität bis ins Äußerste zu steigern und zu erweitern, indem ich mich zum Objekt der Ethnografierten machen lasse und zeige, wie sie mich sahen und benannten. Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, das »Auto-« in Autobiografie stark zu machen. Ist es nicht so, dass die eigentliche Signatur des Textes aufgebrochen, fragmentiert, erweitert und verfremdet wird, wenn fremde Namen ins Zentrum rücken? Ist ein Text noch eine Autobiografie, wenn er sich bemüht, Elemente einer ethnografischen Fremdbeschreibung zu liefern?

Tatsächlich ist mein Text der Versuch nachzuvollziehen, wie im Austausch mit den Subjekten meiner Forschungen zahlreiche sehr befremdliche und beunruhigende »Ichs« entstanden, die mich fragen ließen, welche Wahrheit, welche Kritik, welches Versprechen und welches Versagen diese fremden Namen bergen, die mir gegeben wurden. Mein Text ist zugleich ein Versuch, die ethnografische Produktion von Wissen – manchmal sehr unwissenschaftlich – erzählbar zu machen. Vor diesem Hintergrund erhebe ich auch nicht den Anspruch, einen wissenschaftlichen Bericht zu produzieren, denn höchst unwissenschaftlich halte ich manchmal an beiden Seiten eines Gegensatzes fest und falle mir selbst in zahlreichen Aussagen immer wieder in den Rücken.

Die kritische Beschäftigung mit der westlichen autobiografischen Tradition, unserer »biografischen Illusion«4, wie Pierre Bourdieu sie nannte, veranlasste mich, auch den Vorstellungen von (Auto-)Biografie, Leben und Lebensweg der Subjekte meiner Forschung nachzugehen und sie in diesen Text mit aufzunehmen.

4

In Deutschland und Frankreich gibt es eine kleine Tradition, die als »inverse Ethnografie« beschrieben worden ist. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg haben Julius Lips, Hans Himmelheber, Michel Leiris, Jean Rouch, Fritz Kramer und Michael Harbsmeier und andere sich für die Frage interessiert, wie die Konfrontation mit fremder Fremderfahrung europäisches – und vor allem – koloniales Selbstverständnis erschüttern konnte. Sie kehrten die Perspektive um, vertauschten die kolonialen Positionen von Beobachter und Beobachteten und thematisierten in verschiedenen Medien, wie die Kolonisierten die Kolonisatoren, deren Lebensweise und Technologien zum Objekt ihrer eigenen Ethnografien machten. Diese Figur der Umkehrung, des inversen Blicks der Ethnografierten auf die Ethnografin und ihre Forschung, liegt auch diesem Bericht zugrunde und treibt ihn an. Welche Kategorien bemühten die Subjekte meiner Forschung, um mich und meine Arbeit zu bezeichnen? Welche Möglichkeiten der Eingliederung boten sie mir als einer zunächst Fremden an? Wann und unter welchen Bedingungen wurde ich als Person angenommen oder zurückgewiesen? Welche Grenzen setzten sie mir? Gab es Augenblicke, in denen sich ihre und meine Perspektiven trafen oder sogar zur Deckung kamen? Welches Wissen, welche Begriffe und Theorien schenkten sie mir? Welche Allianzen gingen wir ein, und welche Widerstände bildeten sich bei ihnen wie bei mir heraus? Konnten sie sich in meinen Texten wiedererkennen? Und wie ging ich mit den Namen um, die sie mir gaben? Affe, Närrin oder Clown, Hexe, Spionin, böser Geist und Kannibale – diese irritierenden Bezeichnungen, die mir während meiner Aufenthalte in Afrika gegeben wurden, verunsicherten, verwirrten und trafen mich. Welche Kraft und Dynamik gewannen diese Namen während der Forschung und im Schreiben darüber?

 

Wie ich im weiteren Verlauf meiner ethnografischen Arbeit feststellte, hatten die Namen bereits eine lange Geschichte. Sie waren mehr oder weniger klassische Stereotype der Fremdheit, die in interkulturellen Begegnungen, beschrieben in Reiseberichten bereits aus dem 19. Jahrhundert (manchmal sogar weit früher), auftauchen und von den Beteiligten – Kolonisatoren und Kolonisierten – hin und her gespielt wurden. »Alterisierung« ist eine Praxis, die nicht nur (koloniale) Ethnologen betrieben haben, auch die Subjekte ihrer Forschung haben Fremde – Ethnologen eingeschlossen – »verandert«, sie als Kannibalen bezeichnet, als Fremdgeister in Ritualen der Besessenheit tanzen lassen, als Colon-Figuren auf Altäre gestellt oder mit Namen verspottet.

Die Namen, die mir gegeben wurden, gewähren also Einblick in fremde Fremderfahrung und zeigen, wie die Subjekte meiner Forschung mich in ihren Kategorien in Besitz genommen haben. Gegen eigene Selbstwahrnehmung, Intentionen und Forschungspläne vervielfachten sie Versionen von mir, die ich mir nicht im Traum vorgestellt hätte. Vielleicht sind es aber gerade diese eher destabilisierenden Erfahrungen, die ein Verständnis des Differenten ermöglichen.5

Ich präsentiere mich dem Leser also weniger als autonomes Subjekt und Beobachterin, sondern vielmehr als sehr genau beobachtetes Objekt in einem Feld von Zufällen, Unsicherheiten, Konflikten und höchst unterschiedlichen Machtverhältnissen. Dennoch bin ich es, die schreibt und beschreibt. Ich bin es, die sich als erinnerndes Subjekt in einer Beziehung der Differenz zu den vielen fremden Versionen meines Selbst befindet. Und ich bin es, die dem Genre der Reise– und Forschungsliteratur folgt – dieser »Schundliteratur«, wie Lévi-Strauss sie genannt hat –, ihre Konventionen manchmal aber auch bricht oder persifliert. Ich bin beides, Opfer und Akteurin in fremden Komödien und Dramen, und steige, als Affe oder Kannibalin, in immer niederere Genres hinab – ohne eine erhabene Umkehr am Ende.

Tatsächlich geht es um mehr als Umkehrung. Denn die Namen, die mir gegeben wurden, brachten weniger das Andere der anderen zum Ausdruck – wie ich zumindest während meiner ersten Feldforschung annahm – als vielmehr die wechselseitigen Spiegelungen von Fremd- und Selbstbildern. In der langen Geschichte kolonialer Begegnungen und Konfrontationen sprang der Affe als Unruhestifter zwischen den verschiedenen Akteuren hin und her. Er war Beschimpfung und subversive Figur zugleich, eingelassen in eine Hierarchie von Alteritäten in einem kolonialen Mosaik von Anziehung und Abweisung. Als die Ältesten in den Tugenbergen mich »Affe« nannten, bezog sich diese Namensgebung eben nicht nur auf mein ungehobeltes, wildes und äffisches Benehmen, wie ich ursprünglich angenommen hatte, sondern war auch eine Replik auf die eigene koloniale Erniedrigung und Diskriminierung, die sie erlitten hatten. Offensichtlich stehen die Namen nicht mehr nur eindeutig in Relation zu dem, was wir »ihren eigenen kulturellen Kontext« nennen. Die scheinbar klare Trennung zwischen ihnen und uns und zwischen ihren und unseren Vorstellungen vom Anderen ist instabil geworden. Das eine ist mit dem anderen bereits verwoben. Die einfache Umkehrung der Perspektive, so wie ich sie am Anfang dieses Textes ins Spiel brachte, muss also vor dem Hintergrund einer langen Geschichte von Globalisierungs-, Austausch- und Aneignungsprozessen eher einer Vielfalt von miteinander verflochtenen Alteritäten Platz machen, die sich wie in einem Kaleidoskop brechen, spiegeln und umherwirbeln, aber nicht leicht zu isolieren sind und immer wieder neue Differenzen hervorbringen.6

5

Bronisław Malinowski, der Gründerheros der modernen Ethnologie, forderte von seinen Schülern einen mindestens zweijährigen Aufenthalt in der Fremde. Meine Forschungsaufenthalte in Ostafrika dauerten sehr viel länger; mit Unterbrechungen kehrte ich in einem Zeitraum von sieben bis acht Jahren immer wieder an denselben Ort zurück. Meist hielt ich mich nur zwei bis vier Monate am Stück in Afrika auf, weil ich Mann und Kind nicht zu lange alleinlassen wollte. Der Aufenthalt zu Hause erlaubte mir, Distanz zu gewinnen, zu lesen und nachzudenken, um mich dann mit neuen Fragen wieder nach Afrika zu begeben. Das Verschwinden und die wiederholte Rückkehr an den Ort der Forschung stellten sich als unerwartete Maßnahme der Vertrauensbildung heraus. Ich verschwand nicht auf Nimmerwiedersehen, sondern kam zurück; die Rückkehr war kein leeres Versprechen, denn ich brachte auch die Geschenke mit, die ich versprochen hatte. Was das Wiederkommen betraf, stellte ich mich als verlässlich heraus. Tatsächlich gab dieses Hin und Her zwischen Europa und Afrika meinem Leben einen festen Rhythmus der Zerrissenheit.

Während die ethnografische Feldforschung auch als eine Art Besessenheit beschrieben werden kann – die fremde Kultur ergreift von mir Besitz und die Subjekt/Objekt-Relationen lösen sich teilweise auf –, so geht das Schreiben der Monografie zu Hause mit einem Rückgewinn der im Feld verlorenen Macht einher. Dieses Schreiben hat Michael Harbsmeier als »Heimkehrritual«7 bezeichnet, durch das die Heimgekehrte »gereinigt« wird und sich reintegriert. Während sich im Feld Ethnografin und Ethnografierte im Idealfall einander annähern und gemeinsam die zu ethnografierende Kultur erfinden8, vollzieht sich im Schreibprozess ein Exorzismus, der oft genug die Freunde und Gesprächspartner in der Fremde in den Hintergrund treten lässt. Stattdessen rücken die Kollegen, für die oder gegen die man schreibt, ins Zentrum. Im partiellen Ausblenden der Gesprächspartner im Feld behauptet sich die Ethnologin als Autorin; sie tritt wieder ganz und gar in den wissenschaftlichen Diskurs ein, den sie nie völlig verlassen hatte. Sie bleibt im Genre des Forschungsberichtes gefangen und damit im schriftlichen Diskurs mit seinen kolonialen und postkolonialen hierarchischen Ordnungen, auch noch oder gerade in der Umkehrung.

Ich werde jedoch im Folgenden weniger über den Prozess des ethnografischen Schreibens als vielmehr über das Nachleben der ethnografischen Texte berichten. Sie zirkulierten nicht nur im akademischen Milieu, sondern kehrten auch – übersetzt – als Gegengabe zu den Ethnografierten zurück. Denn der Dialog und die Auseinandersetzung hören auch nach der Publikation einer Monografie nicht auf. Die Texte, die gefüllt sind mit dem Wissen der Ethnografierten, finden den Weg zu ihnen zurück; sie werden (hoffentlich) auch von ihnen gelesen, und dann können die Subjekte der Forschung, wenn sie wollen, Rache nehmen, Kritik üben, den Text umschreiben, ihn aufnehmen oder auch weiterschreiben.

6

Seit Langem erreichen wechselseitige Informationen und Wissen übereinander die Peripherien unserer Welt. Alle Regionen, in denen ich ethnografisch gearbeitet habe, waren bereits von anderen Ethnologen besucht und erforscht worden. In den Antworten meiner lokalen Gesprächspartner traf ich also nicht unbedingt nur auf vermeintlich authentisches Wissen, sondern manchmal auch auf die Spuren meiner Kollegen. Auf diese Weise sind Ethnologen und die Subjekte ihrer Forschung einander sowohl a priori vertraut und bekannt wie auch fremd. Ihre Geschichten und die der Ethnografierten sind lange schon eng miteinander verwoben und Transformationen voneinander. Es mag in Zukunft vor allem darum gehen, in einem Prozess nicht endender Reflexivität vor allem die Gemeinsamkeiten und weniger die Differenzen zwischen den verschiedenen Versionen so genau wie möglich zu bestimmen.

Mit dem Bericht über meine vier ethnografischen Forschungen in Kenia und Uganda in einem Zeitraum von fast fünfzig Jahren enthält dieses Buch auch ein Stück Ethnologiegeschichte, eine Geschichte der Veränderungen des Machtgefüges und der Debatten sowie eine eher implizite Auseinandersetzung mit ihren Theorien, Methoden, Medien und deren Kritik. Dies ist auch ein Versuch der Dekolonialisierung der ethnografischen Arbeit. Die (post-)kolonialen Verhältnisse im Verlauf dieser fünfzig Jahre haben zwar eine radikale Veränderung erfahren, aber das »Elend der Welt«9, wie Pierre Bourdieu den Zustand der Globalisierung bezeichnet hat, ist nicht beendet. Im Gegenteil, neue Formen der Abhängigkeit und Kolonialisierung bildeten und bilden sich heraus, die ein Elend produzieren, das in manchen Regionen heute vielleicht noch größer ist als zur Zeit des klassischen Kolonialismus. Unter diesen Bedingungen bleibt die Dekolonialisierung ein nicht abzuschließendes Projekt.

Während ich im Folgenden die vier verschiedenen Feldforschungen chronologisch in einzelnen Kapiteln darstelle, bleiben die jeweiligen Berichte fragmentarisch und springen in der Zeit vor und zurück, sodass das Alte manchmal näher erscheinen kann als die jüngere Vergangenheit. Die einzelnen Fragmente haben den Status von Vignetten. Da die Monografien, die ich über die verschiedenen Forschungen geschrieben habe – mit einer Ausnahme –, auf Englisch (und Französisch) publiziert wurden, ist dieser Text auch eine Rückkehr zur deutschen Sprache. Er stützt sich wesentlich auf bereits veröffentlichte Texte, die umgeschrieben und erweitert eine neue Fokussierung erfahren.

Eine Autobiografie schreiben heißt, in einer rückläufigen Bewegung am Anfang anzukommen. Deshalb erfährt im Epilog der Affe ein Comeback. Er erscheint noch einmal in seiner Vieldeutigkeit als »Wilder«, als Nachahmer, als Forscher und als »akademischer Affe« – so wie Franz Kafka ihn in seinem »Bericht für eine Akademie« von 1917 auftreten ließ.

MENSCHWERDUNG EINES AFFEN
In den Tugenbergen
im Nordwesten Kenias
1978–1985

Der Mensch ist auch die Summe aller Tiere, in die er sich im Lauf seiner Geschichte verwandelt hat.

Elias Canetti, im Gespräch mit Theodor W. Adorno1

1

Claude Lévi-Strauss hat Ethnologen als die letzten mehr oder weniger heroischen Abenteurer bezeichnet. Und es war das Abenteuerliche an der ethnografischen Feldforschung, das mich immer wieder nach Afrika führte, die Herausforderung, mich in der Fremde, in Situationen, die ich nicht oder kaum kontrollieren konnte, zu bewähren und dabei herauszufinden, ob es mir gelänge, das Interesse und Vertrauen von Fremden zu erlangen und sie in Freunde zu verwandeln. Dabei vergaß ich, dass Abenteurer auch leiden müssen, ehe sie nach unzähligen Missgeschicken nach Hause zurückkehren.

Aus einem diffusen Gefühl des Protestes begann ich 1966 das Studium der Ethnologie. Auch andere, spätere Entscheidungen in meinem Leben gründeten auf einer Haltung, die Kraft vor allem aus Opposition und Verweigerung gegen das Vorherrschende schöpft. Meine Eltern hatten – ohne Druck auszuüben – damit gerechnet, dass ich in ihre Fußstapfen treten und Ärztin werden würde. Ich hatte, im Alter von 12 oder 13 Jahren, den französischen Film Es ist Mitternacht, Dr. Schweitzer aus dem Jahr 1952 gesehen, ein koloniales, schwülstiges Machwerk in Schwarz-Weiß, das Albert Schweitzer zeigt, wie er mit einer hübschen, tapferen Krankenschwester Lambarene aufbaut. Noch bevor er das Krankenhaus überhaupt eingerichtet hat, kommt kurz vor Mitternacht ein Häuptling mit furchterregenden Kriegern, die seinen kranken, bereits bewusstlosen Sohn zur Station tragen, der, wie Dr. Schweitzer sofort feststellt, an einer Blinddarmentzündung leidet. Der Häuptling zeigt auf den Mond, der silbrig am Himmel steht, und erklärt, wenn der Mond hinter einer bestimmten, sich im Wind biegenden Palme verschwunden sei und der Sohn nicht mehr lebe, werde er dem Doktor und der hübschen Krankenschwester den Kopf abschneiden. Nachdrücklich macht er die entsprechende Geste mit einem großen, scharfen, im Mondlicht blitzenden Messer. Dr. Schweitzer und die Krankenschwester bauen den Küchentisch zu einem OP-Tisch um, und mit einem in kochendem Wasser notdürftig sterilisierten Küchenmesser schneidet der tapfere Doktor, Schweißperlen auf der Stirn, dem Häuptlingssohn den Bauch auf. Als Zwischenschnitt wird immer wieder der Mond eingeblendet, der sich viel zu schnell auf die Palme zubewegt. Die Spannung steigt ins fast Unerträgliche. Aber alles wird gut! Im Augenblick, als der Mond hinter der Palme verschwindet, gibt der Sohn ein Lebenszeichen von sich, und der Häuptling wird, wenn ich mich recht erinnere, nicht nur ein bester Freund des Doktors, sondern er konvertiert auch noch zum Christentum.

Dieser durch und durch koloniale Film hat mich entscheidend beeindruckt. Er verband sich auf heroische Weise mit dem Beruf meiner Eltern, verlegte aber das Geschehen in ein gefährliches, sehr fremdes Anderswo, nach Afrika. Dort wollte ich hin.

 

Die Ethnologie oder Völkerkunde, wie sie damals genannt wurde, war eine seltsame Disziplin. Sie hatte sich ihren Gegenstand aus einem verachteten Rest gebildet, aus einem Sammelsurium von Kulturen, die nicht zu den sogenannten Hochkulturen gehören, sondern durch Negation bestimmt wurden – keine Schrift, kein Staat und keine Geschichte. Tatsächlich erfuhr die Ethnologie damals eine gewisse Geringschätzung, die sich erst nach 1968 mit der Neudefinition der Sozialwissenschaften ändern sollte.

Im Winter 1966/67, meinem ersten Semester, habe ich in München als einzige Anfängerin mit dem Studium der Völkerkunde begonnen. Im Jahr davor hatte sich niemand für das Fach eingeschrieben, Nachwuchs und Zukunft des Instituts verkörperten sich für ein Semester in meiner Person. Ich wurde äußerst freundlich, zuvorkommend und nachsichtig behandelt und musste mich nicht von Unter- in Oberseminare hocharbeiten, sondern durfte an allem teilnehmen, was mich interessierte.

Ich hatte damals keine Ahnung, wie tief der Ordinarius Hermann Baumann in die Ideologie des Nationalsozialismus verstrickt war. Die älteren Studenten und Assistenten schwiegen über Baumanns Vergangenheit. In seinen Vorlesungen und Seminaren standen »Kulturkreise« im Vordergrund, über deren Kennzeichen, Zusammensetzung und Geschichte manchmal recht heftig gestritten wurde. Nach zwei Semestern hatte ich genug von München, ging ein Semester nach Wien und dann im Januar 1968 nach Berlin, ins Zentrum der studentischen Proteste.

Das Berliner Institut für Ethnologie war in diesem Jahr, nachdem die Studenten die Macht übernommen hatten, akephal geworden; der Professor hatte sich nach Asien geflüchtet. Es herrschte eine merkwürdig enthusiastische Stimmung, getragen von einer (aus heutiger Sicht) naiven Hoffnung auf radikale Veränderung, die manchmal Charakteristika aufwies, wie ich sie später in der Prophetenbewegung der Alice Lakwena im Norden Ugandas wiederfinden sollte. Das Studentenleben bestand aus einer Reihe ziemlich aufregender sozialer Experimente mit unsicherem Ausgang. Wir hatten einen wirklich großen Gegner, das kapitalistische System, und gefielen uns darin, aus dieser halluzinatorischen Opposition manchmal sehr fadenscheinige Rechtfertigungen für Krawall und alle möglichen Formen des Ungehorsams zu finden. Und oft genug gelang es, das Sich-Abstoßen vom Althergebrachten mit viel Spaß und Lust zu verbinden. Ich wohnte in einer alten Dahlemer Villa mit älteren Studenten in einer Wohngemeinschaft; wir lasen zusammen Das Kapital und andere Texte von Marx, aber auch von Bakunin und Kropotkin, und diskutierten nächtelang, wie die Revolution zu bewerkstelligen sei. Wir feierten ausgiebig Feste, die mitunter das ganze Wochenende dauerten, wir nahmen an Demonstrationen unter der schwarzen Fahne der Autonomen teil und wir fuhren nach Ostberlin in die kubanische Botschaft, um mit dem dort kostenlos verteilten Tagebuch von Che Guevara Spanisch zu lernen. Denn Ziel war es, uns als Ethnologen nutzbringend in den Dienst von antikolonialen und antikapitalistischen Freiheitsbewegungen zu stellen.

Im Jahr 1971 endete die Akephalie. Fritz Kramer kam aus Heidelberg ans Berliner Institut. Damit veränderte sich meine Vorstellung von Ethnologie grundlegend. Kramer zeigte uns, dass Ethnologie nicht museal und exotistisch sein musste. Er brachte uns die Dialektik der Aufklärung nahe, mit ihm studierten wir (bäuerliche) Umsturzbewegungen und später die klassische britische Sozialanthropologie. Die akephalen Gesellschaften, die englische Ethnologen wie Edward E. Evans-Pritchard oder Meyer Fortes erforscht hatten, lieferten uns das Vorbild für eigene soziale Utopien. Allerdings nur für kurze Zeit. Dann rückten die anarchistischen Illusionen und Karl Marx zunehmend in den Hintergrund und machten Max Weber, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer und anderen Platz.

Etwas später kam Lawrence Krader aus New York ans Institut. Mit ihm, Fritz Kramer und Jacob Taubes fanden unvergessliche Seminare statt. Und am religionswissenschaftlichen Institut lehrte Klaus Heinrich die kritischen Potenziale der Psychoanalyse mit Religion, Philosophie, Kunstgeschichte und Ethnologie zu verbinden. Ich machte 1973 meinen Magister und unterrichtete danach als wissenschaftliche Assistentin bis 1978 vor allem politische und ökonomische Anthropologie. Es gab keinen Studienplan; die Themen der Lehrveranstaltungen bestimmten die Studenten zusammen mit den Dozenten. Das änderte sich erst, als gegen Ende der 1970er-Jahre die Ethnologie zum Massenfach wurde und in den Veranstaltungen plötzlich Hunderte saßen: als ob sich unsere Begeisterung durch die enttäuschte Hoffnung auf radikale Veränderungen in der eigenen Gesellschaft auf die sogenannte Dritte Welt verschoben hätte. Wie zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die »Primitiven« in Afrika und Ozeanien mit ihrer Kunst für das herhalten mussten, was im Westen zerstört und verloren gegangen war, so suchten auch wir in Afrika nach alternativen Lebensformen. Allerdings, so viel verstanden wir immerhin, hatte der Kolonialismus das Ziel unserer Fluchtversuche bereits in Begegnungen verwandelt, die uns mit den »allerunglücklichsten Formen unseres eigenen historischen Daseins«2 konfrontierten.