Menschwerdung eines Affen

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Ich versuchte vor allem mit den Ältesten, »die noch wie ihre Väter lebten«, ins Gespräch zu kommen. Das war recht schwierig, zum einen, weil ich Kalenjin, die lokale Sprache, zwar erlernte, aber nicht gut sprechen konnte. Kalenjin gehört zu den tonalen Sprachen und besitzt mindestens fünf verschiedene Tonhöhen, die ich nie traf. Da sich mit der Tonhöhe auch die Semantik ändert, konnte es passieren, dass ich das Gegenteil von dem sagte, was ich eigentlich sagen wollte. Einmal versuchte ich einen Mann mit freundlichen Worten zu begrüßen, doch was ich sagte, war eine Beleidigung. Er wurde böse, und Kipsang musste ihm mühsam erklären, dass ich ihn nicht absichtlich beleidigt hatte, sondern unfähig war, seine Sprache zu sprechen.

Zum anderen weigerten sich viele der Ältesten, überhaupt mit mir zu reden. Denn ich kannte die Regeln der Höflichkeit nicht, ja wusste nicht einmal, dass es sich für eine junge Frau nicht gehörte, einem älteren Mann Fragen zu stellen. Die aus ihrer Perspektive unverschämte Neugier, die mich antrieb und die, wie ich glaubte, selbstverständlich zum ethnografischen Unternehmen gehörte, führte zu Ablehnung.

Besonders der Älteste Aingwo, der mit der Geschichte der Tugen und ihren Ritualen bestens vertraut war, litt unter meinen Besuchen. Immer wieder fragte er, ob nicht wenigstens mein Ehemann meine Arbeit übernehmen könne. Er fragte auch, was ich mit dem Wissen, das er mir gab, anstellen würde. Er seufzte und stöhnte, setzte sich aber doch mit mir zusammen und antwortete auf meine »falschen« Fragen. Falsch waren sie in dem Sinn, dass er sie sich so nie selbst gestellt hätte. Ohne es eigentlich zu wollen, forderte ich ihn heraus, das manchmal Ungesagte und im Dunkel Gebliebene zur Sprache zu bringen und in neue Richtungen zu denken. Ich mutete ihm eine Fremderfahrung zu, die er zu artikulieren suchte. Oft genug mögen ihm meine Fragen höchst unsinnig erschienen sein. Doch großzügig gab er mir Antworten, die sich aus der Übernahme eines ihm fremden Anspruchs ergaben und ihn veranlassten, nicht einfach etwas zurückzugeben, was bekannt war, sondern etwas zu erfinden.

Auch rührte ihn mein Interesse an seiner Vergangenheit. Er liebte es, von den alten Zeiten zu sprechen, als seine Altersklasse noch mächtig war. Nicht ohne eine gewisse Nostalgie trafen wir uns in dem gemeinsamen Wunsch nach Rekonstruktion des Vergangenen.

Und ich lernte und ließ mich belehren. Wenn wir eine ältere Frau, die »Bulle« geworden war, oder einen männlichen Ältesten besuchten, rief ich laut vor dem Eingang zum Haus toek, was so viel bedeutet wie »hier kommt ein Gast«. Dann wartete ich, bis die Frau des Hauses oder der Hausherr erschien, mich begrüßte und einlud, Platz zu nehmen. Danach tauschten wir Neuigkeiten aus, redeten über das Wetter, die Ernte, die Gesundheit und so weiter. Erst danach begann ich vorsichtig anzufragen, ob ich fragen dürfe; und wenn mir die Erlaubnis erteilt wurde, stellte ich zuerst eher allgemeine und dann immer konkretere Fragen, die Kipsang kunstvoll den lokalen Regeln der Höflichkeit anzupassen suchte.

Da ich jedoch überhaupt erst die richtigen Fragen finden musste, Fragen, die ich mir zu Hause nicht hätte ausdenken können, bat ich die Ältesten um Geschichten. Ich hatte, um Forschungsgelder zu bekommen, in Berlin einen sehr vorläufigen und extrem offenen Forschungsplan zur »Sozial– und Wirtschaftsgeschichte in den Tugenbergen« geschrieben, der es mir erlaubte, vor Ort das Thema meiner Arbeit zusammen mit meinen Gesprächspartnern zu (er-)finden.

In ihren Geschichten führten mich die Ältesten in höchst unterschiedliche – und mir oft unbekannte – Felder des Wissens ein. Sie erzählten nicht eigentlich ihre Lebensgeschichte, denn die Tradition autobiografischer Bekenntnisse war ihnen fremd. So wie das individuelle Porträt in vielen Teilen Afrikas in der vorkolonialen Kunst verboten war, weil nicht das Einzigartige, Idiosynkratische des Individuums, sondern seine soziale, den anderen zugewandte Seite interessierte, so stellten die Erzähler in ihren Geschichten eher das Beispielhafte, Allgemeine heraus. Individuelles Scheitern und Aufbegehren blitzten darin nur als ein kurzes Abweichen auf, um das rechte Leben umso eindringlicher vorzuführen. Sie sahen sich eher von außen und betrachteten ihre Person als opak, »als ein geschlossenes Gefäß, in das man nicht hineinschauen kann«. Ihr »Ich« gehörte vor allem den anderen.

Anders als bei uns wurde ihnen in den Ritualen des Lebenszyklus die soziale Biografie irreversibel in den Körper eingeschrieben. Die Ältesten übten so ihre Macht aus, fügten Schmerzen zu und markierten den Körper der Kinder, indem sie Zähne rituell entfernten und Ohrläppchen durchbohrten. Nach Eintritt in die Pubertät fand die Beschneidung statt. Im Ritual erlitten die Initianden den sozialen Tod, opferten einen Teil ihres Körpers, um als Mann oder Frau »wiedergeboren« zu werden. Die verheilten Narben lieferten eine Spur, eine soziale Biografie, die wie eine Schrift gelesen werden konnte, aber der Singularität der einzelnen Initianden und ihrem Schmerz nicht unbedingt Rechnung trug.

Die Geschichten, die Kopcherutoi, Sigriarok, Aingwo und Kipton mir erzählten, waren nicht eigentlich zum Bleiben bestimmt. Dass ich sie aufschrieb, verstanden sie als Versuch, sie vor dem Verschwinden zu bewahren. Kopcherutoi sagte: »Du schreibst die Geschichten auf, damit wir sie vergessen können.«

Das ethnografische Notizbuch, meist ein Schulheft, das ich in einem der kleinen Läden in Bartabwa gekauft hatte und immer bei mir trug, wurde Teil meiner Person. Wo immer ich auftauchte, war es dabei. Es ist nicht übertrieben, wenn ich heute mein Verhältnis zu diesem Notizbuch als fetischistisch beschreibe. Das Heftchen war aufgeladen mit Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten. Ich hatte wilde Träume über seinen Verlust, es wurde gestohlen oder verbrannte im offenen Feuer meiner Hütte. Tatsächlich taucht in Erzählungen und Anekdoten, die Ethnologen sich gerne über ihre Feldforschung erzählen, das Thema der verlorenen Feldnotizen immer wieder auf.4 Auch in Darstellungen von Ethnologen als Masken, Skulpturen oder in Zeichnungen, die während der Kolonialzeit von den Kolonisierten angefertigt wurden, bildet das ethnografische Notizbuch ein unerlässliches Accessoire des Forschers. So tauchte unter den Dogon in Mali, als der Ethnologe Marcel Griaule mit seinem Team 1931 die Felsen von Bandiagara besuchte, eine Maske mit Namen »Madam« auf. »Madam« trat ohne feste rituelle Form auf. Doch der Träger der Maske trug immer ein Notizheft bei sich, mischte sich mit unverschämter Neugier in Zeremonien ein, machte Notizen, riss Seiten aus dem Heft und verteilte sie, als seien sie schriftliche Befehle. Ein andermal setzte sich »Madam« auf einen Stuhl, ein wenig entfernt von den anderen Masken. Ihr zu Füßen saßen zwei Gehilfen (ohne Maske). Aus einem Koffer holte sie Papier und Stift und schrieb auf, während sie sich abwechselnd den beiden Gehilfen zuwandte, die Informant und Übersetzer spielten. Wie Griaule in einer Fußnote mitteilte, handelte es sich um eine Imitation der Arbeitsweise der weiblichen Expeditionsmitglieder, wenn sie Leute befragten.5

Auf einer Zeichnung, die südamerikanische Indianer vom Ethnologen Karl von den Steinen anfertigten, gaben sie seiner rechten Hand sieben statt fünf Finger. Auf seine Frage nach dem Grund dafür erklärten sie, sie hätten ihm zwei Finger extra gegeben, damit er sein ethnografisches Notizbuch besser halten könne.6 Auch in den Tugenbergen gehörte mein Notizbuch zu dem mehr oder weniger exotischen Bild, das sich die Bewohner Bartabwas von mir machten. »Wo ist dein Notizbuch?« war die erste und regelmäßig wiederholte Frage, die Aingwo und Kopcherutoi mir zu Beginn eines Gesprächs stellten.

Meistens schrieb ich direkt auf, was die Ältesten mir erzählten und Naftali übersetzt hatte. Abends in meiner Hütte ergänzte ich die Notizen und fügte Anmerkungen, Beobachtungen und Ideen zum Weiterdenken ein. Und ich listete neue Fragen auf, die ich bei der nächsten Begegnung stellen wollte. Daneben führte ich ein privates Tagebuch, das manchmal therapeutische Funktionen übernahm. Wenn das Heimweh zu stark war, meine Fragerei nichts erbracht hatte oder Kipsang oder ein Ältester mich hatte sitzen lassen, dann schrieb ich mir hier meine Enttäuschung von der Seele. Und gerade diese sehr subjektiven Eintragungen, die nicht in die publizierten Monografien Eingang fanden, erlauben mir jetzt im Prozess des Schreibens, mich als Objekt zu sehen, mich zu ethnografieren und mir als Fremde gegenüberzutreten.

Schriftlichkeit und damit alphabetische Herrschaft hatten einige der Ältesten bereits in den Missionsschulen kennengelernt. In den Gesprächen, die sie mit mir führten, nutzten sie das Wort kesir für die Tätigkeit des Schreibens. Kesir heißt so viel wie »ein beständiges Zeichen setzen«. Als zum Beispiel die koloniale Administration die Grenze zwischen Tugen und ihren nördlichen Nachbarn, den Pokot, mithilfe von Bäumen und Felsen festgelegt hatte, bezeichneten die Ältesten diese Grenzmarkierung als kesir. Wenn Männer die Ohren von Ziegen und Rindern einschnitten und mit dem Clan- oder Familienzeichen versahen, benutzten sie für diese Tätigkeit kesir im Sinn von »etwas in Besitz nehmen«. Während die im Alltag gesprochenen Worte allen gehörten, überführte das Markieren oder Aufschreiben sie in ein Besitzverhältnis. Wenn ich etwas aufschrieb (oder auf Tonband aufnahm), dann wurde das Geschriebene, ihr Wissen, mein Besitz. Dem entsprachen auch die Sorgen, die sich einige der Ältesten um ihre Worte und Geschichten machten. Sie fürchteten nicht nur, dass ich das Gesagte verdrehen und verfälschen könnte, sondern auch, dass ich es gegen viel Geld in Europa verkaufen würde und sie bei diesem Geschäft leer ausgingen. Die Überführung in Schrift schuf also eine asymmetrische Situation, einen ungleichen Tausch, bei dem sie sich als potenzielle Verlierer sahen. Deshalb überwachten sie nicht nur mich, sondern auch Naftali Kipsang und stellten auf diese Weise sicher, dass das, was ich aufschrieb, ihren Vorstellungen entsprach und sich innerhalb der Grenzen bewegte, die sie gesetzt hatten.

 

Das semantische Feld von kesir ist damit aber noch nicht erschöpft. Denn die Tätigkeit, die das Wort bezeichnet, verleiht auch eine bestimmte Autorität. Um mir die Macht von Asis, ihrem Gott, zu verdeutlichen, erklärte ein Ältester, dass dieser alles wisse, weil er alles aufschreibe. Da könne nichts verloren gehen. Ein anderer Ältester erzählte, dass die ersten Europäer, die die Tugenberge besuchten, alles in ein großes Buch schrieben und deshalb allwissendwaren. Schriftlich fixiertes Wissen wird nicht vergessen und erhebt wie Asis, der Gott der Tugenberge, Anspruch auf (göttliche) Wahrheit. Die ihnen seit der Kolonialzeit aufgezwungene alphabetische Herrschaft hinderte die Ältesten jedoch nicht, sie zu eigenen Zwecken zu nutzen. Mit der Erschaffung der Figur ihres alles aufschreibenden Gottes Asis beantworteten sie die Asymmetrie, die die alphabetische Herrschaft hervorgerufen hatte, mit einer machtvollen Gegen-Asymmetrie.

Während die Ältesten auf der einen Seite ihr rituelles Wissen vor mir zu schützen suchten, erkannten sie auf der anderen sehr wohl, dass meine Verschriftlichung und auch das spätere Filmen ihrer Rituale ihnen eine zusätzliche Autorität verlieh. Und nachdem ich immer wieder über viele Jahre zu ihnen zurückgekehrt war, trat ihre Sorge über den möglichen Diebstahl in den Hintergrund. Sie forderten mich nun aktiv auf, das aufzuschreiben, was ihnen wichtig war. Sie luden mich zu Ritualen ein, und Aingwo sagte: »Schreib das auf!«, oder er fragte Kipsang: »Hat sie diese rituelle Handlung mit allen Details aufgeschrieben?« Sie machten mich zu ihrer Chronistin, die durch Verschriftlichung das vor dem Vergessen bewahren sollte, was ihnen wichtig war.

9

Meine Verwandlung von einem Affen in eine »kleine Person« begann mit Einladungen zum Essen und Trinken. Gemeinsame Mahlzeiten machten aus mir, der Fremden, einen Gast. Die Gesetze der Gastfreundschaft und das gemeinsame Essen und Trinken garantierten ein friedliches Miteinander. Die Einverleibung derselben Substanzen näherte uns einander an und minderte unsere Fremdheit auch physisch. Zur Festigung des Bandes musste das gemeinsame Mahl öfter wiederholt werden. Ich erwiderte die Einladungen und war bald eingewoben in ein Netz von Beziehungen, in dem Gleiches gegen Gleiches – Tabak gegen Tabak, Hirsebrei gegen Hirsebrei und Bier gegen Bier – getauscht wurde.

Die Bewohner der nördlichen Tugenberge nannten ihr Land, wie gesagt, »das Land der Steine«. Die Erde war nicht besonders fruchtbar, der Regen fiel unvorhersehbar, und regelmäßig suchte der Hunger Menschen und Tiere heim. Die verschiedenen Hungersnöte wurden als »Hunger der vertrockneten Bäume«, »Hunger des Vogels Tuge«, »Hunger der Heuschrecken« oder als »Hunger des wilden Yams« erinnert. Das Motiv des Hungers und knapper Nahrung durchzog nicht nur die Geschichten der Ältesten wie ein roter Faden, auch in den Begrüßungsformeln und in den Tischsitten kam es zum Ausdruck. Mit der Frage: »Was essen die Großmütter heute?«, begrüßten sich ältere Frauen. Darauf gab es keine Antwort; es war eine rein rhetorische Frage, ein Gruß, der ins Leere lief.7

Ich war als Nachkriegskind von meinen Eltern, die mir viel vom Hunger im Krieg und in den ersten Jahren danach erzählt hatten, dazu erzogen worden, Nahrung zu schätzen und aufzuessen, was auf den Teller kam. Als der Häuptling mich in Bartabwa das erste Mal zum Essen einlud – es gab Hirsebrei und Gemüse –, servierte seine Frau mir und den übrigen Gästen den Brei auf je einem Teller; ich aß meinen Teller leer. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass alle anderen die Hälfte oder mindestens ein Drittel des Essens auf dem Teller liegen ließen und deutlich durch Rülpsen kundtaten, dass sie rundum gesättigt waren. Mir dagegen bot die Hausfrau noch einen Nachschlag an, den ich höflich ablehnte, weil ich satt war.

Später erklärte mir Kipsang, dass ich einen Fauxpas begangen hatte. In den Tugenbergen verlangen die Tischsitten, dass man niemals aufisst, was auf dem Teller liegt, weil das den Eindruck erweckt, man sei nicht satt geworden und wolle mehr. Außerdem gehören die Reste auf dem Teller der Hausfrau und den Kindern, die sie nach den Gästen essen. Weil ich meinen Teller geleert hatte, hatte ich mich wie ein Fresssack benommen und, schlimmer noch, den Anteil der Hausfrau und der Kinder aufgegessen.

Ich schämte mich sehr, bat Naftali, mich zu entschuldigen, und brachte der Frau des Häuptlings bei unserem nächsten Treffen einen Korb gefüllt mit Mais- und Hirsemehl mit. Ich lernte, dass in den Tugenbergen, gerade weil dort der Hunger oft so groß war, vor allem eines die Tischsitten bestimmte: Mäßigung. Niemals darf ein Hungriger zeigen, dass er hungrig ist, und Gefräßigkeit ist der Inbegriff schlechten Benehmens. Seither habe ich keinen Teller mehr völlig leer essen können.

Nach meiner Einführung in die Tischsitten beschlossen die Ältesten, mir auch Verwandtschaft zu geben. Weil ich bereits verheiratet war, konnte ich nicht über eine Heiratsallianz integriert werden; deshalb gaben sie mir eine Mutter mit Namen Kopcherutoi, eine hoch angesehene weise Frau, die den Status eines Mannes, eines Bullen und rituellen Ältesten, besaß. Sie war bereits Urgroßmutter und trug einen Gürtel, der mit vier Reihen Kaurimuscheln geschmückt war. Jede Reihe stand für eine Generation von Nachkommen. Ich zog zu ihr auf den Berg Rimo und schlug mein Zelt neben ihrer Hütte auf. Wieder erhielt ich einen neuen Namen. Man nannte mich jetzt die »kleine Kopcherutoi«.

Weil Kopcherutoi meine Mutter geworden war, gehörte ich nun dem Teriki-Clan an und mein Totem war der Elefant. Mit einem Schlag hatte ich zahlreiche Verwandte und war in ein Netz aus Freund- und Feindschaften eingebunden. Als ich meine neue Verwandtschaft zu einem Fest einlud und Maisbier braute – was von der kenianischen Regierung verboten war, in den Tugenbergen aber überall getan wurde –, sagten Kopcherutoi und ihr Bruder Sigriarok: »Sie gibt uns zu essen, sie liebt uns!«

Tatsächlich wurde meine Teilnahme an offiziell verbotenen Bierfesten von den meisten Bewohnern Bartabwas mit einer gewissen Genugtuung gesehen. Gegen den Häuptling, der das staatlich verordnete Arbeitsethos durchsetzen sollte – aber so tat, als wisse er nichts von den morgendlichen Saufereien –, verbündete ich mich mit der anderen Seite, den Alten und den Habenichtsen. Wie ich später herausfand, war der Häuptling nicht sehr angesehen. Nicht umsonst war er die einzige Person in Bartabwa, die über eine beachtliche Leibesfülle verfügte. In der lokal geltenden, sehr einsichtigen Logik galt derjenige, der fett und reich war, als einer, der es den anderen weggenommen haben musste. Ich denke heute, dass meine Teilnahme an den eigentlich verbotenen Bierfesten dazu beigetragen hat, das Wohlwollen und Vertrauen der Ältesten zu gewinnen. Doch war damit der Affe als Teil meiner Person nicht völlig verschwunden. Er blitzte immer wieder in den Witzen auf, die die Ältesten erzählten. Als ich zusammen mit einer jungen Frau die Maisfelder bewachte, um Affen und Vögel vom Fressen der Ernte abzuhalten, habe mein äffisches Wesen die Affen so erschreckt, dass sie schnell wegliefen, erzählte Sigriarok, und alle anwesenden Verwandten schüttelten sich vor Lachen.

Ich erschreckte nicht nur Affen, sondern auch kleine Kinder. Mir fiel auf, dass sie bei meinem Anblick zu weinen und zu schreien begannen. Anfangs nahm ich das nicht persönlich, sondern sagte mir, die Kleinen hätten wohl Hunger oder Bauchweh. Doch dann erklärten mir zwei Frauen, ich sähe mit meinem wilden Haar – ich trug es lang und offen, eine Frisur, mit der ich eigentlich sehr zufrieden war – wie ein Monster aus der Wildnis aus, besonders wenn der Wind mein Haar bewege. Die Kinder, so sagten sie, schrien, weil mein Anblick so schrecklich sei. Ich musste feststellen, dass ich für die Bewohner der Tugenberge offensichtlich eine fremdkulturelle Zumutung war. Frauen trugen dort das Haar sehr kurz; allein in liminalen Phasen, während der Initiation oder nach einem Todesfall, ließen sie es wachsen.

Die beiden Frauen setzten mich auf einen Stuhl, und unter allgemeinem Zuspruch und Gelächter flochten sie mein Haar in zwei feste Zöpfe. Ich erlitt diese Demontage, unterwarf mich dem mir fremden Schönheitsideal und versuchte von nun an, mein Haar zu bändigen. Und tatsächlich hörten die Kinder auf zu schreien, wenn sie mich sahen. Gleichzeitig erfuhr ich aber auch, dass einige Eltern mich zur Disziplinierung einsetzten. Wenn die Kinder etwas Verbotenes getan hatten, drohten sie: »Mama Henry kommt und frisst dich!« Ich diente also als kannibalischer Kinderschreck. In der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, die ich verschlungen hatte, beschrieben westliche Reisende Afrikaner mit Vorliebe als Kannibalen, die andere Afrikaner, aber auch Europäer, gerne in großen Töpfen kochten, um sie dann zu verspeisen. Nun wurde ich zur Belustigung der Erwachsenen und zum Schrecken der Kinder zu einem solchen Kannibalen erklärt. Ich sah mich gefangen in der komplizierten Wechselseitigkeit der Perspektiven und den sich ins Unendliche spiegelnden Bildern von Alterität.

Ich musste auch zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur mein Haar, sondern meine ganze Person als hässlich empfunden wurde. Aus Sicht der meisten Bewohner der Tugenberge war ich viel zu dünn, mir fehlten die körperlichen Rundungen, die eine Frau schön und begehrenswert machen. Weil sich dort Reichtum und Wohlbefinden direkt in Fettleibigkeit und Körperfülle manifestieren – ein Ideal, das aufgrund von Armut und Hunger nur selten erreicht wurde –, erschien ich als armseliges, bedauernswertes Geschöpf. Auch war meine Nase zu groß. Meine Haut, so erklärte mir Kopcherutoi, sei viel zu durchsichtig und lasse nicht nur die Adern sehen, in denen das Blut fließt, sondern auch das rohe Fleisch. Sie schüttelte sich und lachte. Ich war offensichtlich auf eine obszöne Weise transparent, nackter als nackt und ließ Dinge sehen, die besser verhüllt blieben. Auch meine sich ändernde Hautfarbe, die nach einem Sonnenbrand von knallrot zu braunrot und dann zu bräunlich wechselte, gab Anlass zu Kommentaren und Witzen, die meine Eitelkeit verletzten und mein Selbstbild nicht unbedingt stärkten. Überhaupt verfügten meine sehr genau hinsehenden Beobachter über einen erstaunlichen Interpretationsreichtum, der den meinen bei Weitem übertraf und (leider) mit ihm nicht deckungsgleich war. Doch gerade weil ich ihren ästhetischen Vorstellungen so wenig entsprach und ihnen – zumindest anfangs – so fremd war, griffen sie auf ihre Regeln der Höflichkeit und Gastfreundschaft zurück, die mir über lange Zeiträume hinweg zu vergessen gestatteten, wie sie mich sahen. Ihre Wahrheitsliebe erlaubte ihnen nicht, mir (falsche) Komplimente zu machen. Aber wenn es genug zu essen gab, schoben mir die Frauen manchmal kleine Fleischstücke extra zu, damit ich »fett und ansehnlich« würde.

Obwohl ich gegen das Bild, das sie von mir hatten, letztlich nicht ankam, gewöhnten sich meine Verwandten, Nachbarn und vor allem die Kinder im Verlauf meiner Aufenthalte langsam an mich – und ich mich an sie. Ich passte mich an, veränderte mich in ihre Richtung und verlor wenigstens teilweise meinen exotischen Ausstellungswert. Meine vorsichtigen Vorstöße, mein Selbstbild ein Stück weit zurückzugewinnen, indem ich zum Beispiel das Haar wieder ein wenig offener trug und auf die Zöpfe verzichtete, wurden kommentarlos hingenommen.