Menschwerdung eines Affen

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Am Berliner Institut für Ethnologie hatte ich mit Adornos Kritik der empirischen Sozialforschung gelernt, der quantitativen Forschung grundsätzlich zu misstrauen. Ich stellte also den Ältesten, nachdem ich die wichtigsten Themen gefunden zu haben meinte, vor allem qualitative Fragen, und erst später begann ich, auch quantitativ zu arbeiten. Dass dies die passende Vorgehensweise war, wurde mir klar, als ich versuchte, die Kolonialzeit aus der Perspektive der Ältesten zu rekonstruieren. Denn wie mir Kipton erzählte, hatten die Europäer ihre Herrschaft mit der Forderung etabliert, dass die Bewohner der Tugenberge für »die Regierung« zu zahlen hätten. Regierungsbeamte oder die von ihnen eingesetzten Häuptlinge begannen, Rinder und Ziegen zu zählen. Sie zählten auch Häuser, Kinder und Erwachsene. Danach mussten die Gezählten Steuern zahlen, zuerst in Form von Naturalien, später in Form von Geld. Auch andere Älteste erzählten, dass das Gezähltwerden mit Zwangsabgaben und kolonialer Kontrolle einherging. Vielleicht als Reaktion darauf, vielleicht aber auch als bereits althergebrachtes Verbot versuchten die Bewohner der Tugenberge jegliche Form von Quantifizierung zu vermeiden. Zwar kannten alle die Anzahl der eigenen Ziegen, Rinder und natürlich auch der Kinder ganz genau, aber darüber zu sprechen oder sogar die Zahl zu nennen, galt nicht nur als unhöflich, sondern war geradezu eine Herausforderung, aus Neid dem Reicheren Schaden zuzufügen. Hätte ich also angefangen, die Häuser, Tiere und ich weiß nicht was zu zählen, dann hätte ich mich sehr direkt in die Tradition kolonialer Herrschaftspraktiken gestellt. Die Erhebung quantitativer Daten wäre auf Kosten jener Versenkung ins Detail erfolgt, die gerade den Reichtum und die Subversion ethnografischen Wissens ausmacht.

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Zum ethnografischen Unternehmen gehört wesentlich die Übersetzung. Sie stellte sich als ein überaus schwieriger Prozess heraus, nicht nur für mich, sondern für alle Beteiligten. Unsere Not war groß. Besonders anfangs wurde das Übersetzen zu einem Übersetzen an ein anderes Ufer, das kaum bekannt war. Es gab Irrfahrten und mitunter auch Schiffbruch.8 Manchmal wurde mir angesichts der unumkehrbaren Fremdheit zwischen den Sprachen schwindelig. Bevor ich Naftali Kipsang kennenlernte, hatte ich bereits in Kabartonjo mit einem jungen Mann als Übersetzer gearbeitet, der recht gut Englisch sprach und die Grundschule besucht hatte. Er war sehr freundlich und höflich und wollte mir vor allem gefallen. Seine Vorstellung von Übersetzung bestand darin, mir mehr oder weniger unabhängig von dem, was unser Gesprächspartner sagte, zu erzählen, wovon er meinte, es erfreue mich. Ich versuchte ihm zu erklären, dass es darum ging, möglichst genau – Wort für Wort – das vom Gesprächspartner Gesagte ins Englische zu übertragen, unabhängig davon, ob es mir gefiel oder nicht. Er verstand und war enttäuscht. Kipsang dagegen las englische Literatur und hatte sich mit dem Problem der Übersetzung durchaus beschäftigt. Er wusste auch, dass das Missverständnis wesentlich dazugehört. Meine Fragen verstand er auf seine Weise; manchmal übersetzte er sie so, dass die Antwort des Ältesten in nichts daran anknüpfte. Oder mein Gesprächspartner missverstand Kipsangs Übersetzung meiner Frage und antwortete entsprechend erratisch. Die Kette der Übersetzungen – der Fragen wie der Antworten – erinnerte mich oft an »Stille Post«, ein Spiel, das ich als Kind gern gespielt hatte. Es dauerte seine Zeit, bis wir in konkreten Sprachsituationen und Kontexten durch wechselseitiges Nachfragen, lange Diskussionen, Einübung und Wiederholung einen gemeinsamen Wortschatz aufgebaut hatten, der die Basis für neue Themen lieferte. Doch gerade die vielfältigen Missverständnisse ließen manchmal neue, unvorhersehbare Themen und Fragen aufscheinen, an die ich nie gedacht und die ich deshalb auch nicht hätte erfragen können. Tatsächlich ging es mir vor allem darum, vor dem Hintergrund von Benjamins Theorie der Übersetzung die fremde Sprache und ihre Übersetzung als eine Form von Produktion zu begreifen, die die Fremdheit nicht völlig auflöst, sondern als eine Art Ergänzung und Bereicherung in die eigene Sprache überführt, die ihrerseits verfremdet wird. Ich wollte also eine »Tugenisierung« und damit eine Bereicherung und Erweiterung der deutschen Sprache erreichen.

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Um die richtigen Fragen zu finden, kam mir manchmal auch der Zufall zu Hilfe. So erfuhr ich anlässlich eines Streits von der zyklischen Geschichtsvorstellung der Ältesten, die sowohl ihre Lebenszeit als auch ihre Geschichte zu einem Kreislauf bogen, in dem sich die Ereignisse wiederholten. In der Literatur, die ich zur Vorbereitung gelesen hatte, war von dieser Geschichtsauffassung keine Rede; ich hätte also nicht danach fragen können. Zufällig, bei einer Unterhaltung einiger Ältester, erfuhr ich von ihrer Erwartung, dass die Europäer wieder ins Land kommen und die Regierung übernehmen würden. Ich fragte vorsichtig nach, und es stellte sich heraus, dass ich richtig verstanden hatte. Die Großmutter eines der Anwesenden hatte die Rückkehr der Europäer und damit die Wiederkehr der Kolonialzeit prophezeit. Mit dem schlechten Gewissen der Ethnografin, die um die Verstrickung von Kolonialismus und Ethnologie weiß, protestierte ich heftig und versuchte zu erklären, dass die Europäer kein Interesse daran hätten, Kenia erneut zu kolonialisieren. Mit meinem Einspruch machte ich mich unbeliebt; die Ältesten ärgerten sich. Einer von ihnen wies mich scharf zurecht und sagte, ich wisse gar nichts, bei ihnen in den Tugenbergen würden die Ereignisse nicht nur einmal geschehen, sondern zweimal, dreimal, viele Male. Darauf begann ich, mich für ihre Vorstellung von Zeit und Geschichte zu interessieren.

Die Bewohner der Tugenberge teilten ein zyklisches Altersklassensystem mit ihren Nachbarn, das nicht nur als Integrationsmaschine für die Aufnahme von Fremden diente, sondern auch wesentlich ihre Zeit- und Geschichtsvorstellung bestimmte. Das Altersklassensystem lieferte ihnen die Kategorien, ihre Gesellschaft und Geschichte zu denken. In den Tugenbergen gab es acht Altersklassen mit je einem eigenen Namen. Altersklassen sind soziale Gruppen, die Männer und Frauen hierarchisch gliedern und den Fluss der Zeit markieren. Mit der Initiation in eine der acht Altersklassen verordneten die Ältesten, »denen die Welt gehört«, die »soziale Geburt« von jungen Frauen und Männern unterschiedlichen Alters; als »Gleichaltrige« durchliefen sie dann zusammen die verschiedenen Stadien des Lebenszyklus. Nach etwa 100 Jahren, wenn alle Ältesten einer Altersklasse gestorben waren, wurden die Jungen, ihre Urenkel, in die verwaiste Altersklasse initiiert, und ein neuer Zyklus begann.

Gleichnamigen Altersklassen wurden gemeinsame Eigenschaften zugesprochen, zum Beispiel besonders friedfertig oder kriegerisch zu sein. Diese Eigenschaften wiederholten sich, wenn die entsprechende Altersklasse im nächsten Zyklus die Macht übernahm. Gleichzeitig wurden die jungen Mitglieder einer Altersklasse als Wiederkehr der alten angesehen. Und die Ältesten erwarteten, dass auch die Ereignisse, die zur Zeit der »Herrschaft« einer bestimmten Altersklasse stattgefunden hatten, sich im neuen Kreislauf wiederholen würden. In gewisser Weise geschah das auch, weil die Ältesten sie nach dem ihnen überlieferten Muster interpretierten und danach handelten.

Doch kannten sie auch eine Möglichkeit, dem Zwang der Wiederholung zu entgehen. Aingwo erklärte mir, dass die Ältesten auf otin – »Tradition«, »Vergangenheit« oder »Geschichte« – schlagen, so wie sie nach einem schlechten Traum auf eine Ziegenhaut zu schlagen pflegen, um durch den Lärm die Gedanken an den Traum zu vertreiben. Als im 19. Jahrhundert die Krieger der Altersklasse Maina eine katastrophale Niederlage erlitten, entschlossen sich die Ältesten listig, diese Altersklasse abzuschaffen, um eine Wiederholung der Katastrophe im nächsten Zyklus zu verhindern. Ihre Maßnahme hatte Erfolg, die Katastrophe blieb aus. Seither gibt es statt acht nur noch sieben Altersklassen.

Auch die Kolonialzeit wurde in die zyklische Geschichtsvorstellung integriert. Die »Entdeckung« der Europäer und der Beginn der Kolonialzeit fanden statt, als die Altersklasse Kaplelach an die Macht kam. Mir wurde erzählt, dass die ersten Begegnungen mit den Fremden ein Schock waren, aber keine Katastrophe. Denn die Ältesten nahmen die Ankunft der Europäer für die Wiederkehr der Sirikwa, einem geheimnisvollen Volk, das vor Hunderten von Jahren in die Tugenberge gekommen war. Die Sirikwa hatten Rinder und Eisen mitgebracht und waren nach einigen Generationen wieder verschwunden. Und genauso verschwanden auch die Europäer, die zweiten Sirikwa, Anfang der 1960er-Jahre. Doch, so sagte Sigriarok, habe sich mit dem Verschwinden der Europäer nicht viel verändert. Tatsächlich bezeichneten die Ältesten, wie bereits erwähnt, die postkoloniale kenianische Regierung mit demselben Namen wie die Europäer: chumbek. Offensichtlich war ihnen die eigene nationale Regierung genauso fremd wie die Europäer.

Aingwo erzählte, dass er erschrak, als er den ersten Europäer sah. Er hielt ihn für einen Ahnengeist. Der Europäer war weiß wie Salz, und man konnte das Blut sehen, das in den Adern durch seinen Körper floss. Noch mehr aber fürchtete sich Aingwo vor dessen Gewehr. Auch war der Europäer so fett, dass er annahm, dieser esse nicht nur Hirse, sondern auch Menschen.

Andere Älteste erzählten, dass die Europäer während der Kolonialzeit kreuz und quer durch ihre Berge zogen und dass sie einen großen Reichtum an Lebensmitteln besaßen. Doch sie tauschten nur selten. Sie gingen nicht auf die Jagd, und obwohl sie keine Frauen dabeihatten, weigerten sie sich – so beschwerten sich die Ältesten –, Frauen aus den Tugenbergen zu heiraten und über diese Allianz in die Gemeinschaft der Tugen aufgenommen zu werden. Man hielt sie für Spione, die das Land auskundschafteten, um später Verwandte nachzuholen und das Land zu stehlen. Wie mich, so nannten sie auch die Europäer, die lange vor mir bei ihnen aufgetaucht waren, »Affen«, weil sie aus der Wildnis kamen, herumzogen und keine Häuser bewohnten. Und sie nannten einige Europäer auch »Kannibalen«, »die Leute vom Haus mit dem großen Topf«. Es tröstete mich ein wenig, dass ich die Bezeichnung Affe (und Kannibale) nicht mehr nur persönlich nehmen musste.

 

Als ich 1978 in die Tugenberge kam, stand die Initiation der Altersklasse Kaplelach bevor. Sie war an der Macht gewesen, als die Kolonialzeit begann. Es ist möglich, dass die Ältesten auch in meiner Anwesenheit ein Zeichen dafür sahen, dass die Europäer wiederkommen würden.

Während die Tugen im Norden nur selten direkten Kontakt mit Europäern hatten, bestimmte die Nähe zu den weißen Siedlern, die in der Umgebung von Nakuru auf Farmen lebten, wesentlich die Geschichte im Süden. Die Ethnografie, die die nördlichen Tugen von den Europäern während der Kolonialzeit entwarfen, zeichnet denn auch ein sehr viel positiveres Bild als das der südlichen, die häufig zu brutaler Zwangsarbeit, Trägerdiensten und Straßenbau herangezogen wurden und als Squatter auf den Farmen der Siedler arbeiten mussten. Tatsächlich erinnerten sich die Bewohner der nördlichen Tugenberge an die Kolonialzeit als eine Zeit des Friedens. In vorkolonialer Zeit hatten die Pokot ihnen immer wieder Rinder gestohlen und sie aus den besseren Weidegebieten verdrängt. Als die Kolonialverwaltung 1916 die Grenze zwischen Pokot und Tugen festlegte, gewannen sie einen Teil ihres Weidelandes zurück. Auch gelang es der Kolonialverwaltung – im Gegensatz zur postkolonialen Regierung –, sie vor weiteren Übergriffen zu schützen. Auf lokaler Ebene erlebten die Kolonialisierten den Kolonialismus also höchst unterschiedlich, im Süden der Tugenberge als äußerst gewalttätig und ausbeuterisch, im Norden als eher friedlich. Erst in postkolonialer Zeit wurden den Bewohnern von Bartabwa die Rinder wieder von den benachbarten Pokot gestohlen.

Ich war nicht die erste Ethnologin, die die Tugenberge besuchte.9 Doch keiner der anderen Forscher fand in den Berichten der Ältesten von Bartabwa Erwähnung, wahrscheinlich weil sie sich weiter im Süden aufgehalten hatten. Aingwo erzählte jedoch von europäischen Geografen, die in die Berge kamen und das Land vermaßen. Sie befahlen, dicke Eisenblöcke auszugraben, die von den Sirikwa stammten. Oder sie schauten auf den Boden und sagten: »Da liegt ein Elefant.« Dann gruben sie seine Knochen und Elfenbeinzähne aus.

Es scheint, als hätten die Europäer während der Kolonialzeit die nördlichen Bewohner der Tugenberge nicht besonders beeindruckt. Einen Anlass, eine differenzierte Ethnografie der Europäer zu entwerfen, hat es wohl nicht gegeben. Überhaupt war das Interesse der Ältesten für ihre (koloniale) Geschichte gering. Wenn ich Aingwo fragte, wann dieses oder jenes Ereignis stattgefunden habe, lächelte er und sagte, das sei nicht wichtig, weil die Ereignisse sich sowieso wiederholten. Auch die Kolonialzeit war nicht einmalig, sie war bereits die Wiederholung der Begegnung mit Fremden, den Sirikwa, und die Ältesten rechneten damit, dass sie sich auch in Zukunft wiederholen würde. Sie erkannten jedoch auch, dass ihre Geschichte nicht in einem Kreislauf der immer gleichen Ereignisse aufging. So sahen sie durchaus Unterschiede zum Beispiel zwischen Sirikwa und Europäern. Und sie stellten fest, dass seit der Ankunft der Europäer die verlässliche Verbindung von Überlieferung und Prophezeiung, von Tradition und Erwartung, gestört war. Denn auch sie mussten erfahren, dass sich die Zukunft immer mehr aus dem Kreislauf des scheinbar Gleichen löste und in eine eher neue Ereignisse produzierende Zeit entfloh, die sich nicht mehr so einfach mit der vergangenen gleichsetzen ließ. Der vergangene Zyklus, den sie erinnerten, wurde von zu vielen unkontrollierbaren Einflüssen gestört und nahm Richtungen, die nicht ihren Erwartungen entsprachen. Auch sie mussten feststellen, dass eine einfache Umkehrung des Blicks von der Vergangenheit in die Zukunft nicht mehr gelang.

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Mit der Aufnahme in den Teriki-Clan war meine soziale Karriere noch nicht beendet. Die Ältesten hatten mir bisher verboten, an ihren Ritualen teilzunehmen, und sich auch weitgehend geweigert, darüber zu sprechen. Es war, wie ich später erfuhr, in ihren Augen völlig überflüssig, über Rituale zu reden: Sie waren, wie Aingwo mir erklärte, da, um gemacht zu werden. Jedes Kind in den Tugenbergen wurde in Ritualen des Lebenszyklus zu einer sozialen Person gemacht, am Anfang als Initiand, der das Ritual erleidet, dann als ritueller Helfer, der Handlungsmacht gewinnt und den Mitgliedern der nachfolgenden Altersklasse bei ihrer Initiation beisteht, und zum Schluss als Ältester, der nun wissend, mächtig und aktiv das Ritual leitet.

Allein Sigriarok machte mir das Angebot, Sohro, das letzte und größte Ritual des Lebenszyklus, zu »kaufen«. Tatsächlich erlaubten die Ältesten Fremden, die Tugen werden wollten, ihre Rituale zu erwerben. Ich »kaufte« das Ritual und steuerte Geld für Honig und Mais zum Bierbrauen bei. Gegen den Widerstand von einigen Männern und Frauen – darunter auch Kopcherutoi – setzte Sigriarok meine Teilnahme durch. Zum einen, so erklärte er, sei ich eine Teriki geworden und habe damit das Recht zur Teilnahme an den öffentlichen Ritualen erworben. Andererseits, so tröstete er die Gegner, könne ich ja sowieso nichts verstehen und damit auch die Rituale nicht stehlen und mit nach Deutschland nehmen.

Ich durfte also an Sohro teilnehmen, jedoch nur an den öffentlichen Zeremonien, von den eher geheimen Ritualen, die allein den Männern oder allein den Frauen »gehörten«, blieb ich ausgeschlossen. Ich gehörte dem einfachen Publikum an, das lediglich zuschauen durfte. Ich habe die Grenzen, die mir gesetzt wurden, immer akzeptiert und nicht versucht, sie »im Dienste der Wissenschaft« mithilfe von Tricks zu durchbrechen, zeigten sie mir doch, wie weit die Subjekte meiner Forschung mir vertrauten und wie weit die Fiktion meiner Aufnahme in ihre Kultur reichte (und wo sie endete).

Drei Tage und drei Nächte dauerte das Ritual Sohro, in dem die Ältesten ihre Ritualkunst entfalteten. Ihr Ausdruckszauber riss mich mit und überzeugte mich. Mit geschickten Lichteffekten und einer raffinierten Lichtdramaturgie des Zeigens und Verhüllens, mit mehrstimmigen Gesängen, Tänzen, rituellen Handlungen und sehr viel Honigbier gelang es ihnen, eine dichte außeralltägliche Atmosphäre zu erschaffen, die mich tief beeindruckte.

In ihren Ritualen stellten die Ältesten eine praktische Philosophie der Bewegung, des Übergangs, der Verkehrung und der Verwandlung dar. Die Wege, die in den Ritualen zwischen bewohnter Welt und Wildnis gegangen wurden, trennten und verbanden die entgegengesetzten Pole der räumlichen Ordnung und erzeugten Transformationen. Indem Personen und Gegenstände einem »verkehrten« Ort zugeführt wurden, veränderten sie sich; Frauen wurden Männer und Männer (sogar) menstruierende Frauen, Menschen wurden wilde Tiere und umgekehrt.

In ihren Ritualen brachten sie zum Ausdruck, dass nichts ohne sein Gegenteil existiert. So steht die Wildnis, das eigene Andere, der bewohnten Welt gegenüber, das Tier – zum Beispiel der Affe – dem Menschen, der Mann der Frau und der Tod dem Leben. Doch ist das eine immer auch im anderen enthalten. Die Wildnis hat Orte der bewohnten Welt, die bewohnte Welt Orte der Wildnis; ein Stückchen Affe bleibt im Menschen erhalten und umgekehrt. Gegen die Übermacht des Todes bestanden die Ältesten auf einem komplementären Verhältnis von Leben und Tod. Sie domestizierten den Tod zum einen, indem sie ihn in das zyklische Altersklassensystem einbanden und damit die Rückkehr der Verstorbenen in die bewohnte Welt garantierten; und zum anderen, indem sie die männlichen und weiblichen Initianden in der liminalen Phase der Beschneidung und damit einem »kleinen Tod« auslieferten. Sie gaben dem Tod freiwillig ein Stück ihres Leibes und Lebens, um ihn in ein Tauschverhältnis zu zwingen und so seine Macht zu begrenzen.

Am Anfang ihrer Welt stand nicht das Eigene, sondern das Fremde und Andere, der Affe aus der Wildnis, der in Ritualen zur sozialen Person gemacht wurde und Schmerz und Gewalt erleiden musste, die mit der Entfernung aus der Wildnis und der Domestizierung einhergehen. In den Ritualen des Lebenszyklus wiederholten die Initianden diese Rückkehr in die Wildnis immer wieder. Damit führten sie auch vor Augen, dass die Wiederholung nie wirklich gelingt, da die Welt, die unverändert bleiben sollte, doch Veränderungen unterworfen ist. Gleichzeitig aber erzeugten sie auch »einen Gewinn an Sein«10, denn erst in der Wiederholung wird die Wirklichkeit wirklich.

In ihren Ritualen behandelten die Ältesten auch das Thema der Verkehrung der Perspektive, das mich bis heute umtreibt. Denn jedes Ritual des Lebenszyklus, das der Initiand durchlief, führte zu einer Verschiebung seiner Sicht auf das eigene Leben und Selbst sowie auf das der anderen. Tatsächlich demonstrierten die Ältesten mir in verdichteter Form, dass die Verkehrung der eigenen Perspektive durch die Anderer notwendiger Bestandteil der Menschwerdung ist.

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Nachdem das »große« Ritual Sohro beendet war, sagte Sigriarok zu mir: »Jetzt bist du groß geworden«, und lachte. Und der Vater von Kipsang erklärte, das Ritual habe mir gutgetan, ich sei fetter geworden! Auch er lachte, und alle Anwesenden stimmten mit ein.

Tatsächlich bin ich in meinem ganzen Leben nie so sehr ausgelacht worden wie in den Tugenbergen. Wie Clifford Geertz 1968 bemerkte, kann eine Feldforschung nur dann gelingen, wenn sich die Ethnografierten auf die Fiktion einlassen, dass die Ethnologin ein Mitglied ihrer Kultur ist – oder zumindest die beschränkte Mitgliedschaft anstrebt.11 Mit meiner Aufnahme in den Teriki-Clan und der Teilnahme an den öffentlichen Sequenzen des Rituals Sohro bewiesen die Ältesten mir, dass sie sich diese ethnografische Fiktion zu eigen gemacht hatten. Natürlich durchschauten sie sie und spielten, wie ich, mit ihr, nur besser. Der Preis, den ich dafür zahlte, war die Übernahme der Rolle eines lächerlichen Menschen, einer Närrin. Jede meiner Handlungen konnte zu Heiterkeitsausbrüchen führen. Manchmal verstand ich die Ursache, meistens allerdings blieb mir der Grund verborgen. Ich wusste nur, dass ich lächerlich war. Mit diesem Lachen schützten sich die Ältesten vor mir und führten mir vor Augen, dass ich weiterhin Eindringling und fremd war. Ihr Lachen markierte die Grenze, den Augenblick, an dem sie an der ethnografischen Fiktion nicht mehr festhalten konnten – wie in der Pause eines Spiels, in der die Spieler für einen Moment ihre Umwelt vergegenwärtigen, bevor sie weiterspielen.

Ich kann nicht behaupten, dass dieses Lachen ohne Wirkung geblieben wäre. Auch wenn es nicht nur ein Auslachen war, sondern manchmal auch ein eher freundliches Anlachen, so trug ich, je länger es dauerte, sein Gewicht auf meinen Schultern. Es verunsicherte mich. Ich schaute öfter in den kleinen Spiegel, den ich aus Berlin mitgebracht hatte. Nach drei oder vier Wochen schnitt ich mir in den Finger, fiel hin oder rutschte einen Abhang hinunter. Dann wusste ich, dass es Zeit war für eine Pause, für einen Besuch meiner Freunde in Kabarnet oder Nairobi. Dort las ich meine Post, telefonierte mit meinem Mann und mit Freunden in Berlin, ging auf Partys und amüsierte mich. Nach einigen Tagen kehrte ich dann gestärkt und aufgerichtet in die Tugenberge zurück.

Das Lachen der Ältesten eröffnete mir jedoch auch einen gesellschaftlichen Freiraum, den man nur einem Narren zugesteht. Es ermöglichte mir, zwischen den verschiedenen Kategorien der sozialen Person und der Geschlechter hin und her zu wechseln und sie mit Fragen zu belästigen, die sie sich selbst so nicht gestellt hätten.

Nur wenn mein Ehemann mich besuchte, bestanden die Ältesten darauf, dass ich mich wie eine anständige Frau zu verhalten hätte, damit er sich nicht schämen müsse. Dann saß er zusammen mit anderen Männern im Schatten eines Mangobaumes und trank Bier, während ich zähneknirschend Frauenarbeiten verrichtete, Wasser holte, Wäsche wusch und kochte. Fuhr er wieder fort, wurde ich erneut geschlechtlich neutralisiert, gewann meine Freiheit zurück und durfte zwischen den verschiedenen Kategorien der Frauen- und Männerwelt hin und her wechseln.

Aber es gab auch einen Bereich, in dem sich die Interessen der Ältesten mit den meinen trafen. Sie erkannten, dass meine Aufmerksamkeit für ihre Rituale sie aufwertete. Weil ihre Kinder und Enkel in der Schule lernten, dass die eigenen Traditionen primitiv seien und man sie zugunsten von Fortschritt und Moderne aufgeben müsse, weigerten sich viele Junge, überhaupt an den Ritualen teilzunehmen. Dadurch stockte die rituelle Karriere der Väter und Großväter, die nun nicht mehr ihre soziale Person vervollständigen und sich in Ahnengeister verwandeln konnten. Mein Interesse für Traditionen und Rituale gab ihnen eine neue Beachtung und bewirkte immerhin, dass Kipsang sich entschloss, ein wichtiges Ritual durchzuführen, das nicht nur ihn, sondern auch seinen Vater zu einer »größeren Person« machte.

 

Ich kann nicht ausschließen, dass die Ältesten im Rahmen ihres zyklischen Geschichtsverständnisses hofften, dass die Erzählungen, die sie mir schenkten, eine verlorene Vergangenheit wieder aufleben ließ und ihre Wiederkehr herbeiführen würde.