Grundbegriffe der Ethik

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Grundbegriffe der Ethik
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Gerhard Schweppenhäuser

Grundbegriffe der Ethik

Reclam

2006, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Coverabbildung: Foto der Plastik Le Peuseur (entstanden zwischen 1880 und 1882) von Auguste Rodin (1840–1917)

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961868-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014089-5

www.reclam.de

Inhalt

  1. Vorbemerkungen

  2. Seiendes und Geltendes

  3. Praktische Vernunft

  4. Ethik und Politik

  5. Sollen, Pflicht

  6. Freiheit

  7. Autonomie

  8. Gerechtigkeit

  9. Menschenrechte und moralphilosophischer Universalismus

  10. Glück

  11. Gutes, gelingendes oder stellvertretendes Leben?

  Literaturhinweise

  Zum Autor

  Namenregister

  Sachregister

[9]1. Vorbemerkungen

Ethische Grundbegriffe benötigen wir, um Grundfragen der Moral zu klären. Mit ihrer Hilfe lässt sich ergründen, was die Kriterien gelingenden Lebens und richtigen Handelns sind.

Moralisches Handeln, lehrte Kant, ist praktische Vernunft, freie Selbstbestimmung. Das Wesentliche »jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist«, schrieb Nietzsche (1886, 91). Wir haben es hier mit weit mehr zu tun als mit zwei inkompatiblen Paradigmen der philosophischen Tradition. Die beiden Aussagen widersprechen einander aufs entschiedenste, weil sie sehr präzise die gegensätzlichen Bestimmungen benennen, die in der Sache selbst liegen. Keine freie Selbstbestimmung ohne Selbstbeherrschung; kein Zwang ohne den Widerstand, den er hervorruft und aus dem sich Freiheit herausbilden kann.

»Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« (Kant 1803, 711.) Diese Frage liegt Kants Vorlesungen zur Pädagogik zugrunde. Das Paradoxon der Erziehung zur Selbstbestimmung ist auch für die Ethik relevant. Wie können Individuen auf der Grundlage allgemeingültiger, verbindlicher Prinzipien handeln, die unabhängig von Ort und Zeit gewährleisten, dass alle in Freiheit und Selbstbestimmung leben können? Kants moralphilosophische Überlegungen haben eine normativ richtig (d. h. gerecht) eingerichtete Gesellschaft zum Ziel. Diese ist die Voraussetzung seines aufklärerischen Prinzips einer rational begründeten Würde des autonomen Menschen. Wenn die Menschheit in jedem Einzelnen nicht nur mental, sondern auch real »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Einzelinteressen und das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen.

[10]»Der Freiheit Gesetze geben« (Kant 1803, 728) – das ist seit der Neuzeit das Thema der Moralphilosophie. Doch gerade wo Zwang und Gewalt durch vernünftige Interaktion überwunden werden sollten, nämlich in der Moral, wirkten sie fort, lautet Nietzsches Diagnose. Der Rahmen für humane, friedliche Interaktion und Interessenausgleich, für Achtung und Anerkennung der anderen, werde durch Gewaltverhältnisse abgesteckt. Gewalt werde durch moralische Gebote und Konventionen internalisiert; das Überwundene kehre wieder, wenn sich Moral gegen die eigene, innere Natur erweist. »›Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst‹ – dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein« (Nietzsche 1886, 92). Für Nietzsche stand eine »Umwertung aller Werte« an, wenn sich die Gattung zu einer Lebensform freier, unabhängiger Menschen weiterentwickeln solle. Wie dies sozial, politisch oder ökonomisch zu verwirklichen wäre, darüber finden sich bei ihm allerdings nur Mutmaßungen, teilweise sehr abwegige. Dass die von Kant philosophisch begründete Autonomie des Subjekts, die für Nietzsche Fiktion war, gesellschaftliche Realität werden könnte, wenn eine solidarische Menschheit selbstbestimmtes Subjekt ihrer Praxis würde – das war ein Gedanke, den Nietzsche nicht zuließ (ebenso wenig wie der Neonietzscheanismus der Postmoderne, aber auch dessen systemtheoretischer Kontrapunkt).

Moralphilosophie behandelt nicht bloß Fragen und Problemstellungen des einzelnen Subjekts und seiner Handlungsentscheidungen. Sie entfaltet sich mit dem kritischen Nachdenken über das Allgemeine, zu dem es sich in Beziehung zu setzen hat: zu Gesellschaft, Politik und [11]Geschichte. Im Folgenden wird es um gegensätzliche Bestimmungen in der Sache selbst, nämlich in der Philosophie der Moral, gehen. Untersucht werden die normativ-kritische Kraft des Diskurses der abendländischen Moralphilosophie und seine Widersprüche. Dies geschieht in einer dialektischen Bewegung des Gedankens: indem versucht wird, innere Ambivalenzen und Antagonismen in den Objekten des Denkens begrifflich zum Ausdruck zu bringen. Die Gegensätze in der Sache sind durch Begriffe, Urteile und Schlüsse angemessen nachzuzeichnen, nicht – durch Aufhebung der Widersprüche in der Identität eines sich selbst reflektierenden Geistes oder einer logisch konsistenten formalisierten Sprache – zu harmonisieren. In exemplarischen und systematischen Erörterungen sowie in punktuellen philosophiegeschichtlichen Exkursen wird es um Gegenwart und Tradition einiger grundlegender Begriffe gehen, die den Diskurs der Ethik von der Antike bis heute prägen.*

In diesen Grundbegriffen reflektiert sich der Gegensatz, vielleicht sogar der Antagonismus zwischen individuellem Freiheits- und Glücksanspruch und gesellschaftlichem Zwang, zwischen Autonomie und Fremdbestimmung, zwischen der befreienden Kraft und der sozialen Stabilisierungsfunktion der Moral.

[12]Diese Ambivalenz findet ihren besonders intensiven Ausdruck in einem Konzept, das in diesem Buch zwar nicht eigens erörtert wird, aber hier vorab Erwähnung finden soll: dem Konzept der Empörung. Es bezeichnet die Empfindung, die Menschen angesichts moralisch nicht hinnehmbarer Handlungen und Zustände verspüren. Im Kontext gesellschaftlich-politischen Handelns steht es für Aufstand, Erhebung und Widerstand gegen Herrschaft und Unterdrückung. Zusammen mit dem Konzept der Solidarität (das als soziopolitisches zu verstehen ist, nicht als moralisches) bildet es den gesellschaftlichen Bezugsrahmen einer kritischen Theorie der Moral.

[13]2. Seiendes und Geltendes
2.1 Normen und Werte

In der Ethik wird über die Prinzipien der Moral, ihre Begründung und ihre Anwendung nachgedacht. Anders gesagt: Ethik ist derjenige Teil der Philosophie, in dem es um Werte und Normen geht, also um moralische und sittliche Kriterien, nach denen Handeln beurteilt wird. Unter Werten versteht man höchste Güter wie Glück oder Freiheit, während Normen Regeln sind, die unbedingte Geltung beanspruchen, wenn es etwa um Gerechtigkeit oder Wahrhaftigkeit geht.

Moralische Werte bilden sozusagen Hintergrundannahmen darüber, was einerseits zu einem gelingenden Leben der Individuen gehört und was andererseits eine vernünftig eingerichtete Gesellschaft ausmacht. Hier geht es, mit Kant gesprochen, nicht um den »relativen Wert« von etwas, also nicht um seinen »Preis«, sondern um »einen innern Wert« von etwas (Kant 1786, 71). Moralische Normen sind »handlungsleitende Anweisungen, die dazu dienen, Werte zu realisieren oder gegenüber anderen Zielsetzungen zu schützen« (Schmid Noerr 2012, 36). Werte sind dann sozusagen Angebote, während Normen Gebote bzw. Verbote sind. Mit anderen Worten: Werte sind attraktiv, Normen entweder präskriptiv (vorschreibend) oder restriktiv (eingrenzend).

Sieht man sich beispielsweise den moralischen Wert der Selbstbestimmung näher an, der im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der sozialen Arbeit und in der Altenpflege häufig im Fokus steht, zeigt sich Folgendes: Für Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, gilt die Norm, so [14]zu handeln, dass Willensäußerungen von Schüler*innen, Klient*innen und Patient*innen möglichst weitgehend beachtet und befolgt werden, damit der Wert der Selbstbestimmung der Akteure realisiert werden kann, etwa in Bezug auf die persönlichen Freiheiten der Bewohner*innen eines Seniorenheims oder einer therapeutischen Wohngemeinschaft für Heranwachsende sowie in Bezug auf den Datenschutz ebenso wie pädagogische Förderungsmaßnahmen.

 

2.1.1 Wertlehre

Der Begriff des Werts stammt allerdings nicht aus der Ethik bzw. der Philosophie der Moral, sondern aus der Ökonomie – also aus jener Sphäre, von der Kant sein soeben angeführtes Konzept des ›innern Werts‹ abgegrenzt hat.

Für Kant ist der innere Wert eine Kategorie der »Moralität« (Kant 1786, 70). Diese ist nichts per se Gegebenes; sie entsteht vielmehr dann, wenn Menschen ihr Handeln an einer moralischen »Gesetzgebung« ausrichten, durch die »ein Reich der Zwecke möglich ist« (70). Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet Kant grundlegende menschliche Kompetenzen und Charakterdispositionen, die zusammen die »Sittlichkeit« (71) ausmachen. Diese hat man sich vorzustellen als Moralität, die sich im soziokulturellen Zusammenleben verwirklicht. Ganz oben in der Rangliste stehen Kant zufolge zwei moralische Haltungen: »Treue im Versprechen« und »Wohlwollen aus Grundsätzen« (71). Diese hätten einen »innern Wert« (71). Alles Können und Wissen hingegen, das »sich auf die allgemeinen menschlichen [15]Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis« (71). Auch diejenigen Kompetenzen und Dispositionen, die zwar nicht überlebensnotwendig, aber für ein menschliches Zusammenleben unverzichtbar sind, haben lediglich einen Preis, nämlich einen »Affektionspreis« (71). Hierunter fasst Kant »Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten«, »Witz, lebhafte Einbildungskraft und Launen« (71). Im Unterschied zum diesen menschlichen Kompetenzen, die alle »bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis« besäßen, hätten allein die moralischen Handlungsdispositionen »Würde« (71). Moralität ist demnach mit nichts zu verrechnen; sie darf nicht als Mittel zum Zweck missverstanden werden, denn sie selbst ist der höchste aller denkbaren und möglichen Zwecke.

Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. (71.)

Im ökonomischen Bereich liegen die Dinge in Bezug auf den Wert ganz anders. Hier geht es eben gerade nicht um ›innern Wert‹, nicht um ›Würde‹ und den »Zweck an sich selbst«, als den man »ein vernünftiges Wesen« (71) anzusehen und zu respektieren habe, sofern es moralisch reflektiert und handelt. Hier geht es um Äquivalente. Ökonomisch gesprochen, ist Wert vor allem Tauschwert, der Dingen oder Dienstleistungen in Marktgesellschaften zugemessen wird. Bei Knappheit steigt der Wert eines Gutes – wie die Wertschätzung, die ihm zuteilwird. Stets drückt sie sich auch [16]darin aus, auf was jemand zu verzichten bereit ist, um das Begehrte zu besitzen. Wert ist in dieser Hinsicht per se eine negative Kategorie. Sie bezeichnet das monetäre Äquivalent von etwas, also ein Äquivalent, das nicht positiv oder direkt zur Hand ist, sondern nur potentiell im Tausch realisiert werden kann.

Bevor ein Wert im Tausch realisiert wird, ist er nur virtuell vorhanden. Ein Fahrzeug hat diesen oder jenen Wert auf dem Gebrauchtwagenmarkt, doch solange man es nicht veräußert, verfügt man nicht über den entsprechenden Geldbetrag. Dass das Fahrzeug einen praktischen, einen persönlichen oder gar einen sentimentalen ›Wert‹ haben mag, steht auf einem anderen Blatt. Es spielt keine Rolle bei der Berechnung und Realisierung seines Tauschwerts. Das wird insbesondere im Falle eines Verkehrsunfalls mit sogenanntem ›wirtschaftlichen Totalschaden‹ relevant: Wenn die Instandsetzungskosten des beschädigten Fahrzeugs seinen derzeitigen Tauschwert, den sogenannten ›Zeitwert‹, übersteigen, dann ›lohnt‹ oder ›rechnet‹ sich die Reparatur nicht.

Werte im ökonomischen Sinn werden auf Märkten ermittelt. Sieht man von Sekundärmärkten wie dem für Gebrauchtwagen ab, dann gilt in der Weise, wie Wirtschaft heute betrieben wird und die heute fast auf der ganzen Welt dominiert, dass sich der Mehrwert von Waren durch Verkauf auf dem Markt zu realisieren hat.

Doch wo wird der Mehrwert erzeugt? Er entsteht bei der Produktion von Waren, und zwar dadurch, dass den Bestandteilen des Produkts, vermittels lebendiger Arbeitskraft, unbezahlte Mehrarbeit hinzugefügt wird. Wie geht das zu? Die Eigentümer der Produktionsmittel kaufen denjenigen, die nichts anderes zu verkaufen haben als ihre [17]Arbeitskraft, diese als Ware ab. Die Ware Arbeitskraft wird zu ihrem Tauschwert gekauft: Darin besteht der zentrale Inhalt eines jeden Arbeitsvertrags. Die Ware Arbeitskraft besitzt einen ganz speziellen Gebrauchswert, den keine andere Ware sonst hat: Sie kann Mehrwert entstehen lassen. »Dass die Arbeitskraftbesitzer durch ihre Arbeit einen größeren Wert bilden, als sie in Gestalt des Lohns erhalten« (Heinrich 2016, 175), bildet entsprechend der Analyse von Karl Marx die Voraussetzung für die Schaffung von Mehrwert. Unter dem Aspekt des Arbeitslohnes bedeutet das: Nach einem gewissen Teil des Arbeitstags arbeitet der Arbeitskraftverkäufer sozusagen gratis weiter, ab hier fügt er den Produkten oder Dienstleistungen unbezahlte Mehrarbeit hinzu. Einzig und allein aus dieser Differenz zwischen der bezahlten und der nicht bezahlten Arbeit resultiert der Mehrwert für den Eigentümer der Produktionsmittel.

Je moderner, das heißt: je maschineller und rationalisierter, die Produktion ist, desto kleiner wird allerdings im gesellschaftlichen Durchschnitt derjenige Mehrwertanteil, der auf die einzelne Ware entfällt. Aufgrund dessen müssen mehr einzelne Waren verkauft werden, wenn man im Ganzen auf seine Kosten kommen und Mehrwert abschöpfen will. Gleichwohl können die Eigentümer der Produktionsmittel nicht darauf verzichten, die Produktionsvorgänge fortwährend zu modernisieren und durch Einsatz von Maschinen zu rationalisieren. Denn dadurch kann weniger Lohn gezahlt werden. Das macht die Produktion ›produktiver‹. Doch zugleich entfällt, wie gesagt, auf die einzelne produzierte Ware ein geringerer Mehrwertanteil, weil weniger Arbeitszeit aufgewendet wird, um sie zu fertigen. Daher müssen Kapitalinvestoren immer mehr Waren [18]produzieren und auf den Markt werfen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen, und das Ziel ist selbstverständlich nicht nur die Amortisierung des investierten Kapitals, sondern dessen ständige Vermehrung. Der Analyse von Marx zufolge ist Kapital nichts anderes als »Wert, der vorgeschossen wird, um sich zu vermehren« (ebd.).

Daher sind Märkte heute Umschlagplätze im Zyklus einer permanenten Überproduktionsökonomie. Der Sachgrund dafür, dass mehr produziert wird, als Menschen gebrauchen und verbrauchen (können), ist, wie angedeutet wurde, die sinkende Menge Mehrwert, der gegebenenfalls am Markt realisiert werden kann, im einzelnen Produkt. Der Überproduktion entspricht Marx zufolge eine Überzahl von Arbeiter*innen. Von denen werden immer weniger benötigt, um Mehrwert zu produzieren, weil die maschinelle Herstellung von Waren in stets zunehmendem Maße ohne menschliche Arbeitskraft auskommt. Marx hat es daher als »allgemeine[s] Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« (Marx 1894, 675) betrachtet, wenn das »Steigen der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters« (674) geschehe: »alle Mittel zur Entwicklung der Produktion schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel […], verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschinerie« (ebd.), das am Ende auch noch überflüssig wird.

Es kommt hinzu, dass sich der Preis, den Unternehmen für die Ware Arbeitskraft zu zahlen haben, senkt, wenn Lebensmittel, Bekleidung und Brennstoffe (zum Heizen und für Fahrzeuge) zu durchschnittlich niedrigen Preisen auf dem Markt sind. Das ergibt sich entweder von selbst auf [19]den Märkten – oder es kann durch staatliche Subventionen erreicht werden.

Die hierzulande viel und gern beklagte Verfügbarkeit billiger Grundnahrungsmittel, mit der die bekannten Missstände der Massentierhaltung zusammenhängen, ist also kein genuin ethisches Problem, das über veränderte moralische Einstellungen der Konsument*innen gelöst werden könnte. Forderungen nach freiwilligem Verzicht auf den Kauf von »Billigfleisch« oder nach einem gesetzlichen Verbot von »Dumpingpreisen« für Lebensmittel treffen nicht den Kern des Problems. Der Preis der Ware Arbeitskraft bemisst sich in der kapitalistischen Wirtschaftsweise daran, wie viel Geld im Durchschnitt zu ihrer Regeneration benötigt wird, und zwar unter Bedingungen, die im Allgemeinen als menschenwürdig gelten.

Unter relativ hochentwickelten Lebensbedingungen zählt dazu übrigens auch die Möglichkeit, zur Erholung Urlaubsreisen zu machen, weswegen die gegenwärtige Angebotsökonomie zum Billigtourismus animiert, mit allen bekannten Negativfolgen für die Umwelt. Wobei zu bedenken ist, dass der Großteil des für den Klimawandel verantwortlich gemachten CO2-Ausstoßes nicht vom Individual- und Ferienverkehr stammt; er wird von Industrie und Handel und, in erheblichem Maße, vom Militär produziert.

Im Konkurrenzkampf des Weltmarkts haben die Staaten daher unter anderem die Aufgabe, durch politische Rahmenentscheidungen (vor allem durch finanzielle Subventionen) dafür zu sorgen, dass der Tauschwert der Arbeitskraft, also ihr Marktpreis, niedrig bleibt, damit der Mehrwert, den die Unternehmen sich aneignen, möglichst groß ist. In Deutschland hat die SPD (mit Hilfe der Grünen) zu [20]Beginn des Jahrtausends unter dem Titel »Agenda 2010« die Rahmenbedingungen für die erhebliche Ausweitung des Niedriglohn-Sektors geschaffen. Niedrige Lebensmittelpreise helfen bei der Stabilisierung dieses Zustands – und bei der Verfestigung ethisch problematischer Produktionsbedingungen für niedrigpreisige Lebensmittel, mit denen sich die working poor und das Prekariat über Wasser halten.

Auch die Überproduktion und massenweise Produktion von Waren, die womöglich in ethischer Hinsicht hochproblematisch sind (z. B. deshalb, weil sie unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert werden oder weil ihre Herstellung und Verwendung der belebten und unbelebten Natur schwere Schäden zufügen), ist nicht auf Gedankenlosigkeit oder moralische Verkommenheit der Akteure (insonderheit: der Konsument*innen) zurückzuführen. Sie ist ein Bestandteil der Produktion, also jener Wirtschaftsweise, die ›unseren westlichen Werten‹ zugrunde liegt.

All das hat nur auf den zweiten Blick etwas mit ethischen Fragen zu tun. Doch es zeigt sich: Werte stehen für etwas, auf das man zu verzichten bereit ist, damit man etwas anderes besitzen oder genießen kann. Im Gegenzug stellt man das, über das man nicht verfügt, als den entsprechenden Wert dar. Von Werten spricht man also dann, wenn es darum geht, dass man etwas per se nicht hat, aber über einen Gegenwert verfügt.

Im 19. Jahrhundert wurde der Wertbegriff von Rudolf Hermann Lotze in die philosophische Terminologie aufgenommen, um mit seiner Hilfe die Sphäre der Geltung von der Sphäre des Seienden zu unterscheiden (Lotze 1841, 1882). Seine große Karriere machte »der vom [21]Neukantianismus philosophisch in Umlauf gebrachte Name der Werte« (Habermas 1970, 150) aber bei Friedrich Nietzsche. Seine »Umwertung aller Werte« stellte den Wertbegriff ins Rampenlicht der Ethik. Er exponierte und kritisierte dabei mit einem Schlag dessen Problematik. Darauf werden wir noch zurückkommen.

Wenn Moralphilosophen von Werten sprechen und dabei an etwas dezidiert nicht Tauschbares denken, dann kommt mitunter Seltsames dabei heraus. Vor über einem Jahrhundert vertrat etwa Max Scheler die Auffassung, es gebe einen Kosmos der Werte, der ganz unabhängig von den Menschen existiere. Das Wertreich sei in sich selbst gegründet und nach objektiven Kriterien geordnet; Werte wie »mutig«, »edel« oder »vornehm« stünden ganz oben, während »gemein« ganz unten rangiere (Scheler 1921, S. 9 ff.). Er vertrat tatsächlich die Auffassung, dass Werte nicht das Ergebnis unserer Bewertung von etwas seien, sondern dass es sich genau umgekehrt verhalte: Wir würden Menschen, Handlungsweisen, Dinge und Sachverhalte gemäß den Wertkriterien bewerten, die sie objektiv enthalten – vorausgesetzt freilich, dass wir in der Lage sind, uns zu einer angemessenen Schau der Werte aufzuschwingen, was naturgemäß nur wenigen gegeben sei.

Heute vertreten die meisten Philosoph*innen den Standpunkt, dass Werte handlungsleitende Orientierungsmaßstäbe sind, nicht Eigenschaften von Sachverhalten oder Handlungen. Werte werden nicht mehr als substantielle Entitäten gedacht, sondern als Produkte menschlicher Setzung. Damit geht oft die Position des Wertrelativismus einher: Dass Werten transkulturelle, zeit- und ortsübergreifende Geltungsansprüche zukommen können, wird dann [22]bezweifelt. Dieser Zweifel muss aber nicht das letzte Wort haben.

 

Schon Heinrich Rickert hat um die Wende zum 20. Jahrhundert versucht, den unauflösbaren Widersprüchen bzw. Aporien des Wertobjektivismus und gleichzeitig den Aporien seines Gegenstücks, des reinen Subjektivismus der Werte, zu entgehen. Für Rickert sind Werte zwar keine ontologischen Wesenheiten, aber mehr als bloß subjektiv-beliebige Setzungen. Alles Werten finde stets in kulturellen Zusammenhängen statt, und Kultur ist eine »wertbehaftete Wirklichkeit«. Die Wirklichkeit der Werte ist, so Rickert, eine geistige Wirklichkeit der Bewertung und der Anerkennung von Geltungsansprüchen, mit denen sich eine Kulturwissenschaft zu beschäftigen habe, die »Sinndeutung« betreibt (Rickert 1899, Prechtl 1999). Als Max Weber nach dem Ersten Weltkrieg die Frage nach dem »Wert« der Wissenschaft stellte, fragte er nach dem »Sinn«, den organisierte, fortschreitende Forschung für die Interessen der Menschheit hat, und er meinte damit einen »über das Technische hinausreichenden Sinn« (Weber 1919a, 20). Der Sinn moderner, arbeitsteiliger Wissenschaft sei nicht etwa die Prätention, dass man veraltete Fragen nach dem »›Sinn‹ der Welt« (24) beantworten könne. Weber bezeichnet den – nicht bloß instrumentellen – Sinn von Wissenschaft als Wert. Dies impliziert Folgendes: Die Bedeutung des entbehrungsreichen und gefahrvollen Prozesses der Naturbeherrschung durch Arbeit, Technik und Wissenschaft besteht darin, dass er der Menschheit etwas verheißen kann, für das sich Mühe, Hingabe und Opfer lohnen. Was ist »wissenswert« (26)? Wofür lohnt sich der geistige, physisch-zeitliche und finanzielle Aufwand methodisch [23]kontrollierter, logisch und technisch überprüfter Forschungsprozesse? Weber, der sich an dieser Stelle auf Nietzsche beruft, meinte nicht, dass Wissenschaft und Technik Glück zu versprechen hätten – aber doch immerhin die »Beherrschung des Lebens« (25), im gesellschaftlichen wie im naturhaften Sinne.