Grundbegriffe der Ethik

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2.3 Ethik und Moral

Das Spezifische des philosophischen Nachdenkens über Normen und Werte besteht darin, dass diese auf Prinzipien zurückgeführt werden und ihr universaler Charakter begründet oder problematisiert werden soll. Es wird also der Frage nachgegangen, was es mit dem schlechthin allgemein verbindlichen Geltungsanspruch auf sich hat, den Moralprinzipien, anscheinend naturgemäß, mit sich führen. Moralprinzipien, Werte und Normen beziehen sich stets auf Angelegenheiten, die tendenziell alle Menschen in vitaler Weise betreffen. Es geht, vereinfacht gesagt, um die Frage, wie wir leben sollen.

[38]In antiken Ethiken steht das Motiv des guten Lebens, also des Glücks, im Zentrum, in neuzeitlichen Ethiken das Motiv der Pflicht. Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass die Fundierung der Moral auf dem Prinzip der Selbsterhaltung einen wichtigen Zwischenschritt darstellt, den man als Indikator für die Individualisierungstendenz der europäischen Neuzeit bezeichnen kann.

Wird menschliche Glückseligkeit als die letzte Begründungsinstanz für moralische Ge- und Verbote verstanden, spricht man in philosophischer Terminologie von einer materialen Ethik. Ethiken, für die die letzte Begründungsinstanz ein Konzept unbedingt geltender Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber ist, werden dagegen als formale Ethiken bezeichnet. Denn, wie Kant ausgeführt hat (siehe Kap. 10): Was Menschen als Glück bzw. als glückliches Leben empfinden, ist individuell sehr verschieden und jeweils an Inhalte gebunden, die nicht miteinander kompatibel sind. Demgegenüber ist das Konzept ethischer Verpflichtung als formales Konzept stringent verallgemeinerbar, denn es beruht nicht darauf, wozu wir im konkreten Einzelfall verpflichtet sind, sondern es hat den Charakter einer strikten Regel, die immer gilt. Kants prominentestes Beispiel dafür ist das Gebot, jederzeit die Wahrheit zu sagen.

Dazu später mehr; zunächst aber noch einige Bemerkungen über die Begriffe ›Ethik‹, ›Moral‹ und ›Moralphilosophie‹. Jeweils immer dann, wenn in der Ethik über Prinzipien, Begründungen und Anwendungen der Moral nachgedacht wird, kann man auch sagen, dass Ethik die Philosophie der Moral ist. Ethik bedeutet also etwa das Gleiche wie Moralphilosophie. Daher werden die beiden Ausdrücke in der Philosophie meist synonym verwendet.

[39]Das war aber in der Geschichte der Philosophie lange Zeit nicht der Fall. Denn zumeist verstand man unter ›Ethik‹ Tugendlehren oder die Lehre von den Gütern, die zu einem gelingenden Leben erforderlich sind. In älteren philosophischen Texten wird unter Ethik ›Sittenlehre‹ oder ›Tugendlehre‹ verstanden. Deren Gegenstand, die Moral, ist dann die Gesamtheit der bestehenden Sitten und der anerkannten Tugenden. Sitten und Tugenden sind indessen nicht das Gleiche. Die Sitten eines Gemeinwesens umfassen dessen kollektive Praxis (Hegel bezeichnete sie als daseiende »Sittlichkeit«), also alles, was in intersubjektiver Praxis üblich ist und als gerechtfertigt gilt. Heute würde man eher von der ›Kultur‹ als von der ›Sittlichkeit‹ eines Gemeinwesens sprechen. Tugenden hingegen sind Veranlagungen bzw. Dispositionen des Individuums. Die Antike verstand unter einer Tugend (griech. arete) eine Charaktereigenschaft, die positiv bewertet wird, wie z. B. Tapferkeit, Weisheit oder Gerechtigkeit. Ein tugendhafter Mensch war einer, dessen charakterliche Disposition insgesamt zum ›Guten‹ tendiert, worunter durchaus Verschiedenes verstanden wurde.

Ethos (mit kurzem e ausgesprochen) heißt bei Aristoteles so viel wie allgemeine Üblichkeiten, Gewohnheiten, Brauch. Der Begriff steht also für Sitte und Konventionen. Éthos (mit langem e) dagegen steht bei Aristoteles – der die Termini ἔθος und ἦθος erstmals systematisch im Kontext der Moralphilosophie verwendet hat – für die Haltung des mündigen Bürgers der Polis. Dieser folge mit seinem ethischen Urteilsvermögen, also indem er seine praktische Vernunft anwendet, nicht mehr bloß den Konventionen; er könne vielmehr in konkreten Situationen selbständig rational entscheiden, was moralisch richtig ist. Urteilsvermögen [40]und Einsicht machen seine moralische Kompetenz aus (vgl. Pieper 2000, 24 ff.).

Ethik ist also nicht Ethos, sondern die Theorie des Ethos. Der griechische Ausdruck éthe stand für ›Sitten‹, die lateinisch mores heißen. Joachim Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie, das begriffsgeschichtliche Standardwerk, stellt fest, dass der Ausdruck ›Moralphilosophie‹ auf die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes ethiké zurückgeht. Diese Übersetzung stammt von Cicero, der den Ausdruck philosophia moralis erfand und damit den Begriff der Moralphilosophie terminologisch einführte (Ritter, Bd. 6, Sp. 149 ff.).

Der Philosoph Ernst Tugendhat meinte, die Übertragung des griechischen Wortes ethos in das lateinische moral (von mores) gehe auf einen Übersetzungsfehler zurück, der ἔθος und ἦθος in eins gesetzt habe: Auf diese Weise seien ›Charakter‹ und ›Sitte‹ versehentlich miteinander identifiziert worden (Tugendhat 1993, 34). Gegen diese Vermutung spricht jedoch, dass die Synonymie ganz treffend die Ambivalenz zum Ausdruck bringt, die in der Sache selbst steckt, denn sie steht für zwei Aspekte desselben Gegenstands: Ethos steht für Brauch, Sitte und Konvention, éthos für Charakter, als Tugend oder Grundhaltung des kompetent und eigenständig urteilenden Subjekts. Dem trägt die Doppeldeutigkeit der Adjektive ›moralisch‹ und ›sittlich‹ in der deutschen Sprache Rechnung, denn sie »können sowohl im Sinne von ἔθος wie von ἦθος verwendet werden« (Pieper 2000, 26 f.). Tugendhat irrt demnach, wenn er schreibt: »Die Herkunft des Wortes ›Ethik‹ hat also mit dem, was wir unter ›Ethik‹ verstehen, nichts zu tun.« (Tugendhat 1993, 34.)

[41]Die zweite Auflage von Rudolf Eislers berühmtem Handwörterbuch der Philosophie aus den 1920er Jahren definiert das Stichwort »Moralphilosophie« als »Ethik« und fährt daraufhin schlicht fort: »siehe dort«. Unter dem Stichwort »Ethik« findet man dann die wichtige Unterscheidung zwischen »empirischer« und »philosophischer Ethik«. Empirische Ethik beschreibt moralische Phänomene und versucht, ihre Entstehung zu erklären: Sie wird als »Moralwissenschaft, d. h. Psychologie und Soziologie« sowie »Entwicklungsgeschichte« des »sittlichen Verhaltens« definiert. Die philosophische Ethik dagegen bewertet ihre Gegenstände; sie wird definiert als »die kritisch-normative Wissenschaft vom Sittlichen, vom sittlichen Wollen und Handeln, von den sittlichen Werten, von den Prinzipien der Sittlichkeit« (Eisler 1922, 203).

Dieser Differenzierung liegt eine Einsicht zugrunde, die philosophisch ganz wesentlich ist: Moralische oder sittliche Phänomene sind keine Naturgegebenheiten, sondern etwas, was Menschen selbst hervorbringen, auch wenn sie sich darüber nicht im Klaren sind. Intuitiv handeln Menschen häufig so, als ob die Handlungsgrundsätze, die sie befolgen oder verletzen, unumstößliche Gegebenheiten wären, die unbedingt gelten. Gleichzeitig wissen sie, dass jene Handlungsgrundsätze dies keineswegs überall tun oder immer getan haben: andere Länder (oder Zeiten), andere Sitten.

Heute ist die Position des moralischen Relativismus ein Gemeinplatz, gerade unter aufgeklärten Europäer*innen, die um keinen Preis eurozentrisch erscheinen wollen. Und dennoch neigt man intuitiv dazu, es nicht für bloß konventionell zu halten, dass es moralisch geboten ist, ein Kind [42]vor dem Ertrinken zu retten. Man neigt in der Regel zu der Überzeugung, dass es nicht nur gerechtfertigt, sondern unumgänglich ist, wenn man einen Menschen verachtet, der davon lebt, arglose alte Menschen um ihre Ersparnisse zu betrügen. Und als in unserem Kulturkreis die Einsicht zum Gemeingut wurde, dass solche Empfindungen nicht aus einer gottgewollten Ordnung folgen und dass es nicht mehr (und nicht weniger) als ein menschlicher Konflikt ist, wenn wir dagegen verstoßen, löste dies tiefste Irritationen aus. Nicht zuletzt bei denen, die das paradigmatisch formulierten: Dostojewski und Nietzsche bezahlten einen hohen Preis, als sie ihre erschütternde Frage aussprachen, ob unter den Menschen alles erlaubt sei, wenn es keinen Gott gibt.

Die griechischen Philosophen befassten sich als Erste systematisch mit der Frage, wie moralische Prinzipien eigentlich begründet werden können, wenn man aus Beobachtung, Erfahrung und argumentierendem Nachdenken zu der Einsicht gelangt ist, dass sie nomothetisch – das heißt: gesetzt – sind und nicht als Tatsachen der Naturordnung anzusehen sind. Platon und Aristoteles vertraten den paradigmatischen Standpunkt, dass die (und nur die) moralischen Prinzipien Geltung beanspruchen können, die mit der Vernunft in Einklang stehen, wobei sie unter Vernunft noch nicht wie die Philosophen der Neuzeit ausschließlich die Vernunft des Individuums verstanden, sondern eine Vernunft des Ganzen, so etwas wie eine kosmologische Weltvernunft. Die Frage, die sich Philosophen schon seit jeher stellten und die zur Fragestellung der Ethik in der Moderne geworden ist, lautet: Wie können Moralprinzipien mit Geltungsanspruch formuliert, begründet und angewendet werden, wenn weder Naturordnung, Weltvernunft [43]oder göttliche Schöpfungsordnung als Legitimationsinstanzen (und gegebenenfalls sanktionierende Gewalten) geeignet sind?

Unter der Voraussetzung, dass man ›Ethik‹ als philosophische Theorie der Moral begreift, ist jedoch keineswegs eindeutig oder unumstritten, was unter dem Begriff zu verstehen sei. Ethik, schrieb der Soziologe Niklas Luhmann, ist die »Reflexionstheorie der Moral« (Luhmann 1989, 358). Diese Formel ist brauchbar, auch wenn sie nicht eindeutig ist (oder vielleicht ist sie es gerade deswegen). Dass Ethik die »Reflexionstheorie der Moral« ist, kann nämlich durchaus Verschiedenes bedeuten: In Ethiken wird systematisch über Sitten, Werte und normative Geltungsansprüche nachgedacht. Es wird über Kriterien sinniert, nach denen wir beurteilen können, ob Handlungen als moralisch gerechtfertigt gelten können oder zu missbilligen sind; es werden Fragen der moralischen Bewertung von Handlungen, Gütern oder Lebensformen erörtert. Ethik ist dann ein begrifflicher Reflexionszusammenhang, der sich auf Phänomene und Theorien aus dem Bereich des Moralischen bezieht. Der Satz, Ethik sei die »Reflexionstheorie der Moral«, kann aber auch etwas anderes heißen, nämlich dass Ethiken Theorien sind, die bestehende Sitten, Gebräuche und Wertordnungen widerspiegeln. Unter Ethiken werden dann Moralkodizes verstanden, also Lehrgebäude, die mehr oder weniger zusammenhängend beschreiben, was im Zusammenleben von Menschen üblich ist, was als gut und was als böse gilt. In diesem Verständnis besteht die Funktion von Ethik darin, den sozialen Zusammenhalt zu stabilisieren, indem den Individuen ein Set von Geboten und Verboten vorgehalten wird, das sie mittels [44]Gewöhnung seit frühster Kindheit verinnerlichen und möglich selten problematisieren sollten.

 

Tatsächlich liegen die Dinge philosophisch gesehen nicht so, wie Luhmann meinte: Ethik als Reflexionstheorie der Moral reflektiert ihren Gegenstand nicht bloß wie ein Spiegel, der keine begründete normativ-kritische Stellung zu seinem Gegenstand einnehmen kann. Vielmehr fragt philosophische Ethik nicht nur nach den Prinzipien und Geltungsansprüchen, die moralischen Überzeugungen jeweils zugrunde liegen; sie fragt vor allem, wie Moralprinzipien begründet werden und ob die Begründungen stichhaltig sind.

2.4 Doppelsinn von Reflexion

Gleichwohl bestehen zwei verschiedene, jeweils legitime Auffassungen davon, was ›Ethik‹ bedeutet, nämlich eine normative (oder: kritische) und eine funktionalistische Auffassung. Sie unterscheiden sich u. a. dadurch, was jeweils mit ›Reflexion‹ gemeint ist. Reflexion kann bedeuten, dass das denkende Ich sich auf sich selbst zurückbezieht. Vereinfacht ausgedrückt: Im Prozess der Reflexion denkt das Ich darüber nach, was es eigentlich bedeutet, ein denkendes Ich zu sein; darüber, inwiefern das denkende Ich durch kontinuierliches selbstbezügliches Denken zum Subjekt wird und inwieweit dieses kritische Selbstverhältnis des Subjekts sein Handeln bestimmt. Diese Bedeutung von ›Reflexion‹ ist für die Philosophie der Neuzeit paradigmatisch von Descartes im 17. Jahrhundert formuliert worden. Kant brachte das reflektierte Selbstverhältnis des Subjekts [45]später auf den Begriff, indem er zeigte, dass alle Vorstellungen und Denkakte des Subjekts in Sätzen formuliert werden können, die mit »Ich denke …« beginnen. Die Kontinuität der sich durchhaltenden und mit sich selbst identischen Subjektivität kommt dadurch zum Ausdruck, dass wir beispielsweise stets sagen können: »Ich denke, dass die Sonne scheint« (weil meine Sinne mir entsprechende Eindrücke vermittelt haben), statt: »Die Sonne scheint«.

Reflexion kann aber auch schlicht bedeuten, dass etwas widerscheint: dass sich also etwas in etwas anderem spiegelt. Beide Bedeutungen hängen eng miteinander zusammen, und das ist auch nicht verwunderlich, da der Begriff der Reflexion aus der neuzeitlichen Physik stammt; genauer: aus der Optik, wo er das Zurückstrahlen von Licht meint. In der materialistischen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts ist dieser Aspekt wieder stärker in den Vordergrund getreten, durchaus auch mit einer kritischen Wendung gegen die cartesianische Reflexionsphilosophie, die dem selbstbestimmten Subjekt einen hohen Stellenwert zuschreibt und es, so meinten jedenfalls viele, von den Bedingtheiten seiner körperlich-materiellen Basis auf unzulässige Weise abkoppelt.

Im Gegensatz dazu betonen materialistische Philosophien die Abhängigkeit unseres Denkens von determinierenden Faktoren der naturgesetzlichen und sozialen Wirklichkeit. Darauf hinzuweisen ist berechtigt und wichtig; das war für die Philosophie in der Antike ebenso fruchtbar wie im 18. und 19. Jahrhundert. Erst im 20. Jahrhundert wurde das materialistische Element in der Philosophie zur doktrinären Dogmatik. Die »Widerspiegelungstheorie« des dialektischen Materialismus stritt ab, dass es einen Bereich [46]der theoretischen Reflexion gibt, der autonom ist. Die Gehalte geistiger Gebilde könnten demnach ohne Rest aus den materiellen Bedingungen ihrer Entstehung abgeleitet werden. Alle »Denkprodukte«, so wurde gelehrt, würden die gesellschaftlichen Determinanten ihrer Urheber*innen widerspiegeln, mit all ihren Widersprüchen und rück- oder fortschrittlichen Implikationen. So auch auf dem Gebiet der Moral: Die »bürgerliche Moral dient den Interessen der Ausbeuterklassen, die kommunistische Moral dem Klassenkampf des Proletariats bzw. dem Aufbau der kommunistischen Gesellschaft«, verkündet z. B. die 22. Auflage von Wilhelm Liebknechts Volksfremdwörterbuch aus der DDR (Liebknecht 1953, 171). Dieser Ansatz bedeutet insofern das Ende der Moralphilosophie, als Freiheit und Selbstbestimmung der Boden entzogen wird. Und so war es wohl auch gemeint. Der dialektische Materialismus betrachtete normative Geltungsansprüche reduktionistisch und wollte sie funktional auflösen. In Betracht gezogen wurde nicht der womöglich objektive Geltungsanspruch von Normen, sondern ihre Funktionalität im Hinblick auf die Erhaltung des Sozialsystems (Rentsch 1994, 114 f.).

Man kann nun aber nicht sagen, dass die zwei unterschiedlichen Auffassungen von Reflexion nichts miteinander zu tun hätten. Das lateinische Wort reflectere bedeutet ›zurückbeugen‹. In der Optik beugt sich der reflektierte Lichtstrahl zurück in die Richtung, aus der er kam (der Lichtweg ist umkehrbar); in der Philosophie beugt sich das reflektierende Subjekt auf sich selbst zurück, indem es sich denkend als Denkendes erfasst und sich dadurch allererst selbst bestimmt. Indem es so in sich zurückgeht, ist es auch über sich selbst hinaus, weil es nun einen Begriff von sich [47]hat. Wer philosophiert, reflektiert in besonderer Weise. Er bildet seine Gegenstände nicht ab. Philosophieren ist vielmehr die reflexive Stilisierung des Sprechens (im Sinne von ›etwas bezeichnen‹ und von ›etwas zum Ausdruck bringen‹), des Interpretierens, des Verstehens und der explikativen Sinndeutung (vgl. Rentsch/Rohbeck 2002, 52).

Auch die beiden Definitionen von Ethik, die hinter den verschiedenen Begriffen der Reflexion stehen, hängen miteinander zusammen, doch sie beleuchten verschiedene Aspekte des Gegenstands. Wenn ›Reflexion« das kontinuierliche Nachdenken über unser Handeln ist – über die Grundlagen, die Möglichkeiten und die Realität von Handeln –, dann wird der Aspekt der rationalen Reflexion betont. Und damit steht die potentielle Distanz zur Wirklichkeit unseres Handelns im Vordergrund, die ja mit kritischer (d. h. wörtlich: unterscheidender) Reflexion immer auch gesetzt ist. Ethik als »Reflexionstheorie der Moral« ist dann normative Ethik, ein gedanklicher Zusammenhang, der das Seinsollende betont. Versteht man dagegen unter ›Reflexion‹ den Widerschein, also die theoretische Abbildung dessen, was ist, erhält man einen ganz anderen Begriff von Ethik. Philosophische Ethik wäre dann

eine wissenschaftliche Vergegenständlichung vorgefundener Auffassungen über das, was gut und böse ist, eine Analyse moralischer Vorstellungen und moralischen Sprachgebrauchs, eine Klassifizierung verschiedener sittlicher Auffassungen und Traditionen unter soziologischen, psychologischen oder logischen Gesichtspunkten (Spaemann 1991, 9 f.).

[48]Der hier zitierte Robert Spaemann war ganz und gar nicht der Ansicht, dass die von ihm an dieser Stelle referierte Position die richtige ist. Doch ist sie verbreitet.

2.5 Empirische Ethik und der naturalistische Fehlschluss

Keine Moralphilosophin und kein Moralphilosoph hat ein Problem mit deskriptiven Ethiken, also, in Eislers Terminologie, mit »beschreibender Moralwissenschaft«. Brenzlig wird es erst dann, wenn behauptet wird, nur die deskriptive, empirische Moralbetrachtung sei sinnvoll, und sinnlos sei es, normative Moralphilosophie (oder normative Moraltheorie) zu betreiben. Diese Auffassung wird häufig vertreten; für Moralphilosoph*innen ist sie höchst fragwürdig.

Nicht nur die soziologische Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz vertritt diesen Standpunkt; auch in der »evolutionären Ethik« wird so argumentiert. Man sucht dort nach den »natürlichen Invarianzen« (Neumann 1999, 18) des sozialen und moralischen Handelns der Menschen und stellt dabei das Paradigma der Evolution in den Mittelpunkt. In deren zielgerichtetem Verlauf hätten sich bestimmte Verhaltensweisen, die für die Entstehung der Menschengattung vorteilhaft gewesen sind, gleichsam genetisch festgeschrieben. Konrad Lorenz hat erforscht, wie moralähnliche Verhaltensweisen von Tieren physiologisch gesteuert werden, die dem Wohl des Rudels nützen. So verhalte es sich auch bei Menschen: Diese seien in ihrem Verhalten teilweise oder auch ganz determiniert durch den Evolutionsprozess. Eine Verhaltensdisposition, die einst nützlich zum Überleben war, nämlich Aggressivität, sei [49]sozial problematisch geworden, weshalb sie durch Moral gebändigt werde.

Die evolutionäre Ethik ist heute in zwei Lager zerfallen, von denen das eine, in der Nachfolge von Lorenz, sich auf das Kollektiv der Art konzentriert, während das andere Lager individualistisch argumentiert.

Die Gruppenselektionstheorie basiert auf der lange Zeit unbestrittenen Beobachtung von Lorenz über »moralanaloges Verhalten bei soziallebenden Tieren« und geht von der Existenz einer artbezogenen und deshalb arterhaltenden Gemeinnutzenstrategie aus. Erscheinungen im Sozialverhalten werden als für die Gesamtpopulation zweckmäßig und aus Sicht der rivalisierenden und kooperierenden Individuen als altruistisch interpretiert und als funktionale Bestandteile der Instinktausstattung begriffen. Damit wird die Vorstellung vertreten, es existiere so etwas wie eine stammesgeschichtliche Vorprägung »moralischen« Verhaltens, weshalb moralische Imperative keinesfalls »amoralischen« Naturtrieben schroff gegenüberstehen. (Neumann 1999, 18.)

In neuerer Zeit ist diese Theorie, die an kollektivistische Ideologien der Vergangenheit gemahnt (»Gemeinnutz geht vor Eigennutz«), aus der Mode gekommen. Propagiert wird nun eine individualistische Theorie, deren Nähe zu neoliberalen Ideologien unverkennbar ist.

Der evolutionäre Selektionsprozeß zeigt sich als Individualselektion und wird nicht durch ein artbezogenes Prinzip des Gemeinnutzes, sondern durch das Prinzip [50]des genetischen Eigennutzes bestimmt. Untersuchungen über Konfliktpunkte im Sozialleben tierischer Sozietäten bestätigen danach die »moralische« Indifferenz der belebten Natur. Behauptet werden natürliche Gesetzmäßigkeiten, die nicht das fördern, was wir unter moralischem Verhalten verstehen. Wollte der Mensch seine natürlichen Ziele erreichen, so müßte er in der Lage sein, aus den Gesetzmäßigkeiten der Natur herauszutreten. (Ebd.)

Moral ist demzufolge nur eine »Illusion, die uns von unseren Genen für den Zweck der Fortpflanzung angedreht wurde« (Ruse, zit. nach Pieper 1998, 75); eine ›kollektive Illusion‹ der Freiheit, in Wahrheit ein deterministisches Programm der sozusagen ›altruistischen‹, letztlich aber egoistischen Gene. Weil wir von unserer Biologie festgelegt seien, mache die Suche nach normativen Moralprinzipien keinen Sinn.

Wenn man der evolutionären Ethik glaubt, geht Moral aus einem Naturverhältnis hervor. Freiheit und moralisches Sollen sind dann nichts als Schein: ein Ergebnis der List der Gene und der Evolution. Ethik, so der Kampfruf der Biologen, ist damit gegenstandslos. Diese naturalistische Position setzt das Faktum der Entscheidungsfreiheit zu einer bloßen Einbildung herab. Dabei arbeitet sie mit einer Konstruktion, die alles andere als evident ist: nämlich mit einer Teleologie des evolutionären Prozesses. Der Naturalismus legt die Existenz eines Sinns nahe und definiert mit Hilfe dieser Sinnunterstellung bloße Fakten (den im Nachhinein zu beobachtenden Erfolg im evolutionären ›Kampf‹ der Arten) wie einen Endzweck, dem einzelne biologische Elemente der Verhaltenssteuerung durch ein [51]genetisches »Programm« sinnvoll zugeordnet seien. Wenn die genetischen Programmierungen aber Mittel zu einem Zweck sind, auf den sie hin geordnet sind, dann ist dieser Zweck eine Norm. Das leugnen die Vertreter der evolutionären Ethik im Grunde auch nicht. Doch damit ist klar, dass sie in einen Widerspruch verstrickt sind, denn sie sind in die Falle des naturalistischen Fehlschlusses gegangen.

Dieser Fehlschluss besteht darin, dass aus einem Ist-Zustand ein Soll-Zustand abgeleitet wird. Das ist ein Verstoß gegen das sogenannte Hume’sche Gesetz, welches besagt, dass aus einem Sein niemals logisch ein Sollen folgt: Es ist logisch unzulässig, aus einer Tatsachenfeststellung einen moralischen Schluss zu ziehen. Ein klassisches Lehrbuchbeispiel dafür: In Afrika hungern Menschen. Also soll ihnen geholfen werden. Menschlich ist das höchst plausibel, sozial gesehen äußerst sinnvoll; aber logisch stimmig ist es nicht. Angelsachsen nennen so etwas jumping to conclusions. Denn dass jenen Menschen geholfen werden sollte, lässt sich erst dann schlussfolgern, wenn zur Beobachtung der ersten Prämisse noch eine zweite hinzugenommen wird. Etwa so:

 

 (1) In Afrika hungern Menschen.

 (2) Hungernden Menschen soll man helfen.

Also soll den Hungernden in Afrika geholfen werden.

Die zweite Prämisse ist eine moralische Setzung. Wenn sie gilt, kann man aus ihr Schlussfolgerungen ziehen. Dass sie gilt, ist aber logisch nicht selbstevident.

Die Lehre aus Humes Hinweis auf naturalistische Fehlschlüsse: Das Moralische bleibt zu einem gewissen Teil [52]immer »unableitbar«. Moralische Schlüsse können nur dann gezogen werden, wenn moralische Prämissen im Spiel sind. Das heißt, über die logische Korrektheit hinaus: Moralisches Handeln kann aus nichts anderem abgeleitet werden als aus der Entscheidung, moralisch zu handeln. Diese Entscheidung fällt nicht vom Himmel, ebenso wie ihr Gegenteil; aber sie kann nicht aus etwas anderem abgeleitet werden, das ihr letztlich äußerlich ist.

Wie kann man erklären, dass ein Übergang von einem Sein zu einem Sollen stattfindet, weil das normativ gerechtfertigte Ziel im naturhaften Sein selbst steckt? Man kann solches nur behaupten. »Aus etwas, das der Fall ist, kann […] nicht geschlossen werden, daß es der Fall sein soll.« (Pieper 1998, 75.) Es ist ein Fehlschluss, wenn aus beschreibenden Sätzen vorschreibende Sätze gefolgert werden; solche Schlussfolgerungen machen das Faktische zur Norm. Die Variante des naturalistischen Fehlschlusses der Evolutionsethiker*innen besteht darin, dass sie vom Resultat aus folgern, es gäbe die Impulse, die für das Resultat unverzichtbar sind. Der Erfolg im Evolutionsprozess ist einerseits ein Faktum, andererseits wird er als Norm ausgegeben. Weil wir ohne »moraläquivalente« Programmierung durch unser genetisches Material das bisherige Evolutionsziel nicht erreicht hätten, sei anzunehmen, dass es sie gibt.

Die beiden Ebenen, auf denen ich mit dem Theorem des naturalistischen Fehlschlusses operiert habe, gilt es noch einmal ausdrücklich voneinander zu unterscheiden. Einmal ist er ein kritisches Argument gegen die Leugner*innen des Moralisch-Normativen. Diese machen den Fehler, das Faktum moralischen Verhaltens und Reflektierens aus dem moralfreien Geschehen der Biologie abzuleiten. In dieser [53]Kritik wird ein naturalistischer Fehlschluss auf ontologischer Ebene nachgewiesen. Zum anderen wurde gezeigt, dass moralische Kritik entgegenkommender Voraussetzungen bedarf. Moralität und kritische Normativität sind kein Naturprodukt, wie die Evolutionsethiker*innen nahelegen; sie sind aber auch nicht einfach Teil unserer zweiten, gesellschaftlichen Natur. Die Überzeugung, dass man hungernden Menschen helfen sollte, gibt es ja; sei es, dass sie aus einer Moral des Geizes heraus begründet wird, sei es (auf den Spuren des Ökonomen Robert Malthus) mit dem Hinweis auf das Bevölkerungswachstum auf diesem Planeten. Dass Gesellschaften möglich sind, die auf der Bandenmoral von Machtcliquen aufruhen oder von dieser kolonisiert werden, zeigt der Blick in Geschichtsbücher und aktuelle Berichte über die USA, Brasilien, die Türkei, Ungarn, Polen und andere Staaten. Moralische Standards, die universalen Geltungsanspruch haben, verstehen sich nicht von selbst, sondern müssen immer wieder erkämpft werden; sie sind immer wieder Resultate moralischer Entscheidungen.

Das Hauptproblem »naturalistischer Fehlschlüsse« besteht also nicht darin, dass legitime moralische Forderungen auf logisch unzulässige Weise hergeleitet werden. Weitaus misslicher ist es, wenn Sollensforderungen, die nicht als solche ausgewiesen sind, als Zustandsbeschreibungen ausgegeben werden. Diese Vertauschung kann eine legitimierende Funktion haben. In der kritischen Sozialphilosophie der Gegenwart nennt man Theorien, die normative Aussagen als deskriptive Aussagen präsentieren und sich selbst als solche missverstehen, Ideologien. Diese beschreiben nicht bloß, was ist, sondern sagen zwischen den Zeilen auch, was sein soll, weil sie Auffassungen davon nahelegen, [54]was die Welt ist und wie in ihr gehandelt werden kann (Jaeggi 2009, 281). Sie treten auf, als würden sie nur beschreiben, doch faktisch konstituieren sie soziale und kulturelle Praktiken. Dieser falsche Schein entsteht aus seiner Verbindung mit dem falschen gesellschaftlichen Sein: Eine Ideologie versucht, Widersprüche zu glätten, die darauf zurückzuführen sind, dass in der Sache, die sie legitimieren soll, Gegensätze stecken, welche sich durch Theorie allein nicht auflösen lassen. Ideologiekritik stellt demgemäß einen Versuch dar, aufzuzeigen, dass eine Theorie bloß vorgibt, ihre Gegenstände zu beschreiben, in Wahrheit aber implizit normativ ist, weil sie bestimmte Welt- und Handlungsorientierungen nahelegt.